Rofo 1999; 171(5): 347-348
DOI: 10.1055/s-1999-259
EDITORIAL
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zwei-Klassen-Medizin ist längst Realität - ein Beispiel aus der Universität

Two categories in medizine already realized - an academic exampleE. Erdmann
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Publication Date:
31 December 1999 (online)

Vorwort

Im Gesundheitswesen werden wir seit 1993 mit einer Welle von Umstrukturierungsgesetzen konfrontiert. Sie haben den Gesetzgeber zu ständig neuen Wortschöpfungen animiert, einen gewissen Höhepunkt in der Phraseologie hat die rot-grüne Koalititon mit der Bezeichnung GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz (GKV-SolG) erreicht. Diese Wortschöpfung, aber auch die gesetzlichen Inhalte verschweigen eines, nämlich, daß die Medizin infolge einer erzwungenen Umstrukturierung auf dem besten Wege zur Zweiklassen-Medizin ist. Das nachfolgende Editorial von Prof. Dr. E. Erdmann, Direktor der Klinik III. Med. für Innere Medizin der Universität zu Köln, stellt einen pointierten Beitrag zu diesem Thema dar.M. Thelen

Es stimmt ja, daß die Bevölkerung zunehmend älter wird, der medizinische Fortschritt teurer und die Ressourcen zur Bezahlung derselben gleich bleiben oder sogar abnehmen. Schließlich muß eine Gesellschaft selbst entscheiden, wieviel sie bereit ist, für ihre Gesundheit zu bezahlen. Dies betrifft die Prävention, die Bereitstellung von Institutionen zur Pflege und Versorgung Kranker und natürlich auch die Aufwendungen für den akuten Notfall (Intensivstationen, Rettungsdienste etc.). Liest man die Tagespresse, so vernimmt man mit Verwunderung, daß die Zahl der Arztpraxen deutlich und signifikant reduziert werden soll, Krankenhausbetten sollen geschlossen werden und Arzneimittelausgaben auf ein „vertretbares Maß” beschränkt werden. Und wer entscheidet, welche Zahlen richtig bzw. angemessen sind? Wenn dies die Vertreter der Krankenkassen in einem monistischen System bestimmen sollen, dann droht dem Patienten die Rationierung.

Schon jetzt verhandeln die Krankenkassen mit den Krankenhäusern die erlaubte Fallzahl, die erlaubten Pflegetage und die erlaubte Verweildauer. Dies führt dann dazu, daß evtl. im Jahr zuviel behandelte Patienten („Fallzahlen”) dann nicht mehr bezahlt werden. Im Dezember werden dann in unseren Krankenhäusern ganze Stationen geschlossen, weil das „bezahlte Kontingent” erschöpft ist - das Soll erfüllt ist. Budgetierung heißt in Konsequenz automatisch Rationierung. Die Folge ist nämlich, daß Verwaltungsdirektoren die budgetverantwortlichen Chefärzte dazu zwingen, die mit den Kassen verhandelten Fallzahlen auf keinen Fall zu überschreiten, anderenfalls wird das Budget des nächsten Jahres um die Mehrausgaben reduziert oder - weil es einfacher zu handhaben ist - eine freiwerdende Arztstelle wird so lange nicht besetzt, bis der Überschreitungsbetrag des Vorjahres wieder eingespart ist. Mit einer geringen Zahl an Ärzten können dann auch nicht mehr so viele Patienten versorgt werden. Dies ist ja das erklärte Ziel der Regierungskoalition, durch Verknappung und Reduktion der Zahl praktizierender Ärzte eine Warteschlange vor den Praxen und Krankenhäusern aufzubauen. Dann fallen die Kosten, da nicht jeder Kranke Zugang zum Versorgungssystem hat. Machen wir uns und der Öffentlichkeit nichts vor. Budgetierung bedeutet Rationierung! Es wird dann die Frage sein, wer das Rezept mit dem notwendigen Medikament bekommt und wer nicht. Vielleicht sollte man in Zukunft seinen Arzt persönlich gut kennen, damit man bei Bedarf Zugang zur Versorgung hat.

Es sind aber nicht nur die Kassen, die offensichtlich sparen wollen und müssen. Der Druck pflanzt sich ja fort. Ein konkretes Beispiel:

Ein Patient leidet an einem größer werdenden Aneurysma der Aorta abdominalis. Therapeutisch gibt es die Möglichkeit der operativen und der interventionellen Behandlung. Nach entsprechender Aufklärung entscheidet sich der Patient für die Implantation eines Stents durch den interventionell tätigen Kollegen. Diese Aortenprothese kostet etwa 10 000 DM. Eine Anfrage bei der Krankenkasse führt zu dem Ergebnis, daß die Kosten nicht übernommen werden. Um dem Patienten zu helfen, wird entschieden, die Kosten aus dem eigenen Budget zu tragen. Das Aortenaneurysma wird erfolgreich behandelt. Ein dankbarer Patient. Wegen zweier derartiger Fälle im Jahr wird der klinische Vorstand des Universitätsklinikums tätig und fällt nach Anhörung den Beschluß, „daß für jede mit einem nicht gedeckten Kostenaufwand verbundene Leistungserweiterung die vorherige Genehmigung des Klinischen Vorstandes einzuholen sei”. In diesem Falle handelte es sich um einen Wiederholungsfall, nachdem in dieser Klinik im Jahre 1997 bereits Koronarstents ohne Genehmigung des Klinischen Vorstandes implantiert worden waren. Überträgt man diese Erfahrungen auf die Radiologie, so findet man vergleichbare Situationen bei der Therapie von Gefäßstenosen in anderen Gefäßprovinzen (Dialyseshunts, Carotisstenose) oder aufwendigen Embolisationsbehandlungen.

Bis zu diesem Zeitpunkt handelt es sich nur um Budgetierung und Rationierung. Eine Universitätsklinik verzichtet auf den medizinischen Fortschritt und die adäquate Behandlung von Patienten, weil Kassen sich weigern, neue, schonendere Behandlungsformen zuzulassen bzw. zu finanzieren. Nachdem dieser Beschluß des Klinischen Vorstandes des Universitätsklinikums ergangen war, wurden Patienten mit dem Wunsch nach ähnlichen neuen therapeutischen Verfahren grundsätzlich zu ihrer Krankenkasse geschickt mit der Bitte, die schriftliche Zustimmung für die Finanzierung einzuholen. Mir zeigt dieser Fall eindeutig, daß der Übergang von der Budgetierung zur Zwei-Klassen-Medizin in unserem Land längst besteht.

Der Fortschritt in unserem Fach verläuft rasend schnell. Natürlich bieten wir unseren erwachsenen Patienten mit Aortenisthmusstenose heute die Dilatation und Versorgung mit einem Stent an. Der Patient hat Glück, dessen Kasse dieses Verfahren finanziert. Anderenfalls wird grundsätzlich operiert. Noch sind es diese wenigen Fälle. Noch reden wir meistens nicht offen darüber. Wer hat nicht schon mehrfach mit dem schrägen Blick auf das Budget auch bei der Restenose einer Koronararterie nur dilatiert und keinen Stent implantiert, obwohl das nicht nur besser, sondern insgesamt gesehen sogar billiger für die Solidargemeinschaft wäre? Wenn ich sehe, wie häufig Koronarpatienten nach Herzinfarkt ohne den in der Klinik verordneten Lipidsenker wiederkommen, so stellt sich auch hier die Frage, ob der Hausarzt wegen seines Arzneimittelbudgets und der Drohung, die Medikamente für seine Patienten selbst zahlen zu müssen, den teuren HMG-CoA-Reduktasehemmer abgesetzt hat. Trotz aller Budgetierung und Rationierung wird diese rot-grüne Koalition aber wohl die Homöopathie wieder in die geplante Positivliste mit aufnehmen, obwohl Wirksamkeitsnachweise fehlen bzw. für „besondere Therapieverfahren” als nicht notwendig erachtet werden. Dafür scheint es diesen Damen und Herren aber zu imponieren, daß bei jeder homöopathischen Verdünnung das Gefäß zehnmal auf einen festen Gegenstand in Richtung Erdmittelpunkt aufgeschlagen werden muß, damit die „Potenzierung durch Verdünnung” und dadurch die „krankheitsspezifische Wirkung” eintreten kann. So weit sind wir also schon gekommen! Für die Ideologie ist genügend Geld da!

Prof. E. Erdmann

Direktor der Klinik III für Innere Medizin der Universität zu Köln

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