Fortschr Neurol Psychiatr 2000; 68(6): 243-249
DOI: 10.1055/s-2000-11637
ORIGINALARBEIT
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Vor 100 Jahren erschienen die „Vorlesungen über Psychopathologie ...” von Gustav Wilhelm Störring

Ein Rückblick auf seine frühen Jahre100 years of Gustav Wilhelm Störring's „Lectures on Psychopathology ...” - A Review of the Psychiatrist's and Philosopher's Early Years:H. Steinberg1 , U. Künstler2
  • 1Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte,
  • 2AmbulanzKlinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig (Direktor: Prof. Dr. M. C. Angermeyer)
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Publication History

Publication Date:
31 December 2000 (online)

Zusammenfassung:

Es wird Leben und Werk der Frühzeit von Gustav Wilhelm Störring (1860 - 1946) in Leipzig und Erdmannshain nachgezeichnet. Die vor 100 Jahren erschienene Schrift „Vorlesungen über Psychopathologie in ihrer Bedeutung für die normale Psychologie ...” wird als seine bedeutendste eingeschätzt und gewürdigt als erste systematische Methodologie der Psychopathologie. Mit ihr setzt er sich in mancherlei Hinsicht in Opposition zu Zeitgenossen, was bei der Erklärung der Entstehung von Wahnideen verdeutlicht wird. Indes verbindet ihn sein Werk in manchem z. B. mit dem Emil Kraepelins, versprachen sich doch beide eine fruchtbare Wechselwirkung von Psychiatrie und Psychologie. Werkgeschichtlich liegen die Wurzeln von Störrings Schaffen vor allem in seiner Tätigkeit in Wilhelm Wundts Leipziger Laboratorium. Dessen experimentelle Psychologie ist der Anstoß und beeinflusst auch spätere Arbeiten. Störrings Biografie wird begleitet bis 1902, als er zum Professor der Philosophie nach Zürich berufen wird, wofür maßgeblich sein Freund Ernst Meumann gesorgt hatte. Vorher wirkte er als Assistenzarzt an der Leipziger universitären Psychiatrischen und Nervenklinik unter Paul Flechsig sowie mit der Gründung eines Sanatoriums für Nerven- und Gemütskranke in Erdmannshain, das er gemeinsam mit seiner Frau betreibt, als privat niedergelassener Anstaltsleiter. Mit Hilfe Wundts habilitiert er sich in Philosophie. Im Laufe der hier dargestellten Jahre wird deutlich, dass Störring doch mehr und mehr das eigentliche Feld der Neurowissenschaften verlässt und sich zu philosophischen Fragen hingezogen fühlt, er seinen Arztberuf bald als nurmehr notwendigen Broterwerb betrachtet. Waren es einst Wundt und dessen Experimentalpsychologie, die ihn nach Leipzig führten, kommt es mit dem Rückzug auch aus ihr, zur Abkühlung des Verhältnisses von Seiten Wundts. Damit schließt sowohl biografisch wie werkgeschichtlich seine Frühzeit deutlich ab.

The aim of this essay is to retell the life and work of philosopher and psychiatrist Gustav Wilhelm Störring (1860 - 1946) during his early years in Leipzig and Erdmannshain. His „Lectures on Psychopathology and its Impact on Normal Psychology”, written 100 years ago, are acknowledged as his most important work. With this book Störring stands in opposition to many of his contemporaries, which is illustrated with his concept of mania. In some aspects, however, his ideas coincide with those of other well-known psychiatrists such as Emil Kraepelin. Both were inclined to the idea that psychiatry and psychology could mutually stimulate each other. Störring's work in Wundt's laboratory of experimental psychology had a major impact on his work. Wundt's ideas gave impetus to a lot of his work and also influenced papers Störring was to write later on. Störring's biography is followed until 1902 when he was appointed professor of philosophy of Zurich University, in which his friend Ernst Meumann was substantially involved. In Leipzig Störring had started his work as Flechsig's assistant at the hospital of psychiatry and neurology of Leipzig University. In 1897 he founded his own sanitarium for mentally and neurologically ill in Erdmannshain, a village near Leipzig, which he managed together with his wife Marie, née Bonacker. With the help of Wundt Störring qualifies as a university lecturer. During the years regarded here, however, he got more and more attracted to philosophical matters, thus turning away from neurosciences. In time he started to regard his work as physician as nothing more than necessary for making his living. His relationship with Wundt, who together with his laboratory of experimental psychology had previously made him wish to come to Leipzig, cooled down, at least on the part of the first. That puts an end to Störring's early years not only from the point of view of his biography but also from his work.

Literatur

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  • 2 Störring G-E. Persönliche Auskünfte gegenüber den Autoren
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1 [[10]] gibt für 1900 160 Betten an; [[9]] spricht 1890 von 145 Patienten.

2 Jedoch die letzte Vorlesung „Psychologie” wird er kaum noch gehalten haben, denn auf eigenen Wunsch wurde er bereits im Oktober 1902 entlassen, um der Berufung nach Zürich folgen zu können. [[3]]

3 [[4]] zählt fälschlicherweise in den Wundt-Kreis jener Jahre auch Emil Kraepelin, der aber schon 1883 das Labor verließ.

4 In diesem Zusammenhang soll erwähnt werden, dass um diese Jahrhundertwende ein Bestreben der Züricher Philosophischen Fakultät deutlich wird, generell auf Leipziger Experimentalpsychologen zurückzugreifen: 1897 Vorschläge H. Münsterberg, dann Meumann, 1902 Störring, 1905 Vorschlag G. F. Lipps, der 1911 dann berufen wird, 1910 Vorschlag Raoul Richter [[4]].

5 Die Angaben in [[1], [15]], Meumann hätte Zürich schon 1902 verlassen, stimmen offensichtlich nicht.

6 Eine ausführliche Stellungnahme bezüglich des Gefühlslebens in methodologischer Hinsicht findet sich in der späteren bedeutenden Abhandlung in Emil Abderhaldens (Hg.) „Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden” (Abt. VI, Teil B 2; Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg, 1931). Gustav-Ernst Störring betont ausdrücklich, dass sein Vater bis zuletzt experimentelle Psychologie betrieben hätte und verweist dabei auf diesen Text. Auch persönliche Eindrücke lassen ihn zu diesem Schluss kommen.

Holger Steinberg

Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie

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