Psychother Psychosom Med Psychol 2000; 50(9/10): 346-350
DOI: 10.1055/s-2000-7566
INTERVIEW
Interview
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Fragen an Professor Dr. Walter Bräutigam

 
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Frage: Wenn man sein Amt als Hochschullehrer zurückgelassen hat, ändern sich notwendig Perspektiven und Interessen. Das verdient unsere Neugier.

Bräutigam: Mehr als 10 Jahre jetzt im Ruhestand lebend, gewinne ich Abstand von früheren Verpflichtungen an der Universität und berufspolitschen Aufgaben, habe Freiheit zurückzuschauen und Ausschau zu halten. Das tue ich in Berlin, einer weltoffenen Stadt mit zwei Universitäten, mit Akademien, Max-Planck-Instituten, einem Einstein-Zentrum und mit fünf psychoanalytischen Instituten. Menschen aus vielen Ländern kommen hier zu Vorträgen, in denen meine alten Interessensgebiete behandelt und diskutiert werden. Soweit meine Kräfte reichen, nehme ich an diesem Leben teil.

Mit 79 Jahren gehöre ich ja jetzt zu den alten Alten, ein aktuelles und interessantes Thema für mich. Bereichernd war, als ich hier in Berlin die Life Span Development Psychology von Paul Baltes kennenlernte. Diese Entwicklungspsychologie der gesamten Lebensspanne findet Entwicklung nicht nur in Kindheit und Jugend, sondern im ganzen Lebenslauf, mit Gewinnen und Verlusten in allen Phasen, auch im Alter. Er betont die große interindividuelle Varianz zwischen den Menschen; so können manche geistig noch im hohen Alter aktiv Neues aufnehmen, verarbeiten und auch im Gedächtnis bewahren, während andere in dem, was sie aufnehmen und im Gedächtnis bewahren, zunehmend eingeschränkt sind. Für mich war klärend und erleichternd, als ich dabei die Unterscheidung von fluider und kristalliner Intelligenz auch an mir selbst erfuhr, also dass man Namen, Daten und auch Ereignisse des alltäglichen Handelns kaum festhalten kann, während in dem aktiv erworbenen, beruflichen Wissensbereich Kenntnisse und Fertigkeiten erhalten blieben. Für die Psychotherapie wichtig ist, dass es auch eine intraindividuelle Varianz gibt. Alter selbst ist noch keine Krankheit, aber wenn eine schwere körperliche Krankheit auftritt, dann ist eine neue Seite aufgeschlagen. Man soll das nicht schönreden. Man kann aber auf der einen Seite körperlich krank sein, auch seelisch leidend, aber geistig noch gesund. Fallbeispiele zeigen, wie man heute Menschen auch mit unheilbaren Krebserkrankungen psychotherapeutisch begleiten kann und ihnen helfen, über Jahre hinaus ein menschenwürdiges Leben bis zum Ende zu führen. Wir wissen, dass Freud noch meinte, es lohne bei alten Menschen die Anstrengung nicht, den weiten Weg in die Kindheit zurückzugehen, es sei zu viel aufzuarbeiten. In den kassenärztlichen psychotherapeutischen Behandlungen machen ambulante Psychotherapien von Menschen über 60 Jahren kaum 1 % aus, über 70-Jährige tauchen dort gar nicht mehr auf. Aber hier im Lande Brandenburg habe ich eine erstaunliche Zahl und Vielfalt von ärztlich geförderten Selbsthilfegruppen bei organisch kranken Menschen kennengelernt, in denen alte Menschen dann den größten Anteil ausmachen. Das hat mir ein neues Bild einer allgemeineren Form von Psychotherapie gegeben.

Frage: Was die Leser von PPmP besonders interessieren wird, sind Ihr persönliches Motiv, Ihr persönlicher Zugang zur Psychotherapie, nicht zuletzt, weil Sie Zeuge einer vergangenen, schwierigen, kontrovers betrachteten Phase in der Geschichte unserer Zunft sind.

Bräutigam: Soweit ich zurückdenken kann, war ich schon immer neugierig auf fremde Länder, andere Menschen und im Fach dann begierig, über den eigenen Bereich hinauszusehen in fremde Gebiete und dort Neues zu lernen. Als Junge war ich noch in der Bündischen Jugend bei den Pfadfindern, habe Fahrten in andere Länder gemacht, Trampfahrten nach Frankreich, Italien, in die skandinavischen Länder, Griechenland. Im Krieg war ich als Medizinstudent in einer Studentenkompanie zunächst in Halle. Schicksalhaft war auf einer Urlaubswanderung im Taubertal, dass ich einen Mann traf vor einem Riemenschneider-Altar. Wir kamen ins Gespräch, und es stellte sich heraus, er war auch Medizinstudent, und zwar in Berlin. Er hieß Wilfried Dogs, und von ihm erfuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas über Psychoanalyse und Sigmund Freud. Er war in psychoanalytischer Lehranalyse und Weiterbildung am so genannten Reichsinstitut in Berlin. Das faszinierte mich, ich war selbst sicher neurotisch genug und sah eine Chance, etwas Neues für mich selbst zu gewinnen. So versuchte ich mit seiner Hilfe und der von Heinz Wiegmann, seinem Freund, durch die Macht des Leiters des Reichsinstituts Mathias Göring, des Vetters des Reichsmarschalls Göring, von der Studentenkompanie Halle zu der nach Berlin versetzt zu werden, was ganz ungewöhnlich war. Das ist mir im September 1942 dann auch gelungen, und ich bin dazu zweimal bei Mathias Göring gewesen, habe mich bei ihm gemeldet, wie es damals hieß. Ich war Gefreiter, er hochgestellter Offizier der Luftwaffe, aber er ging sehr menschlich mit mir um. Er fragte nicht nach meiner Geschichte, politischen Einstellung und nach irgend etwas aus meinem bisherigen Leben. Er erkundigte sich aber, bei wem ich denn die Absicht hätte, in Lehranalyse zu gehen. Auf Empfehlung meiner Freunde hatte ich mich bei Schultz-Henke, Müller-Braunschweig und Riemann vorgestellt, nannte den Namen von Riemann. Darauf kam etwas Bedenkliches bei ihm auf und er sagte: Ja, wissen Sie denn nicht, dass Fritz Riemann kein Arzt ist?( Ich solle das doch nicht vergessen. Ich sagte, dass ich das wisse. Es erfolgte dann keine weitere Einschränkung. Aufnahmeinterviews gab es damals nicht und ich habe meine Lehranalyse bei Fritz Riemann im Oktober 1942 begonnen. Heute weiß ich, dass der September 1942 der Monat war, wo John Rittmeister verhaftet wurde. Damals habe ich davon und seinen Namen nicht gehört. Im so genannten Reichsinstitut gab es keine neue Psychotherapie, die bisherigen Richtungen bestanden nebeneinander weiter. Mit Kemper, Schultz-Henke, Müller-Braunschweig gehörte Riemann ja zur Gruppe A, der traditionellen psychoanalytischen Richtung. Ich wusste damals von Dogs und Wiegmann, dass es im Reichsinstitut fanatische Nationalsozialisten gab, zu denen vor allem die CG-Junggruppe gehörte, Lehranalytiker, bei denen man politisch nicht offen sprechen durfte. Dogs, Wiegmann und ich waren damals kritisch gegenüber dem politischen Geschehen und konnten frei miteinander darüber sprechen. Aber wir waren wohl nicht fähig zu einem aktiven Widerstand in der verwegenen Form, in der Rittmeister es im Rahmen der Schulze-Boysen-Gruppe damals wagte. Seminare habe ich dort nicht besucht, man sollte Psychotherapie in der Lehranalyse zunächst selbst erfahren. Nach 10 Monaten erhielt ich dann ein Kommando an eine andere Universität, und Mathias Göring konnte nichts mehr helfen. Auch die meisten Therapeuten, die am Reichsinstitut angestellt waren, wurden eingezogen. Nach mehrjähriger Unterbrechung konnte ich nach dem Krieg 1947 bei Riemann in München meine Analyse wieder aufnehmen und die Ausbildung 1948 dort am Institut abschließen. Die Zahl meiner Lehranalysestunden mit etwas über 100 ist weit von dem entfernt, was heute üblich ist. Mit der mehrjährigen Unterbrechung und in dieser Zeit erlittenen Schicksalsschlägen und Neuanfängen wurden diese fünf Jahre der Analyse aber zu einer richtunggebenden Lebensstrecke. Sicher ist für mich, dass Fritz Riemann ein einfühlsamer und Sicherheit gebender Therapeut war, der die „organisch zum menschlichen Leben gehörende” Theorie der „Grundformen der Angst” für mich fruchtbar zu machen wusste. Seine tiefenpsychologische Studie und Theorie dieses Namens erfuhr in den Nachkriegsjahrzehnten acht jeweils überarbeitete Auflagen. Das war mein Ausbildungsweg vor fünfzig Jahren. Aber er ist bis heute weitergegangen, in vielen Einzelheiten wie in den Grundlagen.

Frage: Sie haben im Krieg im Zentrum der deutschen Psychotherapie gearbeitet, und nach dem Krieg ebenso. Nun war das Zentrum der Psychotherapie und der Psychosomatik Heidelberg geworden. Sie kannten alle maßgeblichen Persönlichkeiten dieser Ära, die noch bis heute wirksam sind.

Bräutigam: Die Universität Heidelberg war damals sehr attraktiv für mich. Ich hatte die Bücher von Viktor von Weizsä-cker gelesen und fand in der Neurologie für zwei Jahre bei Paul Vogel eine zunächst unbezahlte Arbeitsstelle, konnte an Seminaren bei von Weizsäcker und dann auch bei Alexander Mitscherlich teilnehmen. Wir hatten damals abenteuerliche Auffassungen über psychogen verursachte und in Krisen sich manifestierende körperliche Krankheiten, die heute schwer vorstellbar sind. Es gab eigentlich nur psychogene Krankheiten, sie reichten vom Asthma bis zur Tuberkulose, von der Epilepsie bis zum Krebs. 1950 erhielt ich dann bei Alexander Mitscherlich an der Abteilung für psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg ein Stipendium der Rockefeller-Foundation mit der Aufgabe, Lungentuberkulöse psychoanalytisch zu behandeln. Drei Jahre war ich dann mit Lungenkranken in Gesprächen und in psychoanalytischen Behandlungen in engem Kontakt. Meine Generation musste wohl lernen, die Eigengesetzlichkeit körperlichen Geschehens bei Organerkrankungen zu respektieren. Nach drei Jahren hatte ich selbst eine schwere Lungentuberkulose, konnte ein Stipendium für die USA nicht wahrnehmen und musste selbst eine Kur antreten. Ich denke heute, dass die damals aufkommenden Medikamente mir das Leben gerettet haben. So im Vorübergehen sagte mir Alexander Mitscherlich damals einmal: Das können wir uns als Psychoanalytiker eigentlich nicht leisten. Er meinte, wie wir alle damals mehr oder weniger, dass durch eine gute, eine vollständige, bis in die Kindheit vordringende Analyse eine Resistenz nicht allein gegenüber Neurosen gegeben sei, sondern auch gegenüber diesen körperlichen, als psychosomatisch aufgefassten Krankheiten. Allerdings erkrankte der andere Assistent, der das gleiche Stipendium hatte und die gleiche Tätigkeit, einige Zeit nach mir ebenso wie ich an Lungentuberkulose. Er hatte eine viel längere Analyse und war Mitglied in einer anderen psychoanalytischen Vereinigung. Wir mussten alle lernen, Territorialansprüche auf gewisse Krankheiten aufzugeben, auch auf die Heiligen Sieben von Franz Alexander, die damals im Mittelpunkt standen. Bis heute sind wir als Psychotherapeuten in Gefahr, den Körper in den organischen Gesetzmäßigkeiten und genetischen Bedingungen zu unterschätzen. In einer Arbeit über Asthma bronchiale konnte ich 1954 neben den psychogenen Bedingungen als Ursachen schon auf allergische und genetische Einflüsse hinweisen. In den Jahren in der neurologischen und psychosomatischen Klinik war bei mir der Wunsch entstanden, in die Psychiatrie Einblick zu nehmen. Ich fragte Alexander Mitscherlich, ob er mir erlauben würde, in der psychiatrischen Universitätsklinik bei Kurt Schneider zu hospitieren, jedenfalls stundenweise dort auf der Station mitzuarbeiten. Ich rechne es beiden hoch an, die publizistisch und in der Fakultät in großen Spannungen lebten, dass beide mir das erlaubten. Später war ich viele Jahre als Assistent unter Walter v. Baeyer in der Psychiatrie und suchte psychotherapeutische Zugänge zu Psychosen, auch ein Jahr in Basel an der Friedmatt unter der Supervision von Gaetano Benedetti psychotherapeutisch tätig. Danach arbeitete ich im Rahmen der medizinischen Klinik Heidelberg am Institut für allgemeine klinische Medizin bei Paul Christian als Assistent, ein Mann, der in behutsamer Denkweise somato-psycho-sozialen Zusammenhängen nachging, sie physiologisch und theoretisch vertiefend.

Frage: Es ist unverkennbar, dass die überkommenen Grundlagen unseres Faches neu bedacht werden müssen. Die Entlas-tung vom Getümmel des Alltagsgeschäftes mag dafür den Blick weiten.

Bräutigam: Eine der Grundlagen der Psychotherapie wird immer sein, ihre Krankheitstheorien mit dem wissenschaftlichen Stand der Psychologie und der Medizin zu konfrontieren. Es war eine bedeutende Leistung von Freud, dass er 1905 die Psychoanalyse mit einer entwicklungspsychologischen Theorie verband, eine Krankheitstheorie, die die Kindheit und fremdbestimmte Einflüsse entscheidend gewichtet. Das geschieht, wie ich meine, in einer konservierenden und radikalisierenden Weise in einer gefährlichen Einseitigkeit. Was mich zunehmend beeindruckt hat im Laufe meines Lebens und was lebenslang erkennbar wird, ist die naturgegebene Ungleichheit der Menschen. Sie reicht von den ruhigen oder schreienden, von den sich sicher oder weniger sicher bindenden Kleinkindern über die Weichenstellungen der heute ins vierte Lebensjahrzehnt reichenden Adoleszenz bis ins hohe Alter. Ein bei uns kaum bekanntes Fachgebiet, welches die interindividuelle Varianz der Menschen, ihre Ungleichheit und Umwelteinflüsse in den verschiedenen Lebensaltern empirisch untersucht, ist die Verhaltensgenetik. Seit mehr als zwei Jahrzehnten steht sie in den USA und einigen skandinavischen Ländern im Mittelpunkt der Forschung. Das Angebot der Natur, d.h. eines ihrer Experimente, wird hier genutzt, indem erbgleiche Zwillinge zweimal mit dem gleichen Körper, aber unter verschiedenen Namen in eine innere und äußere Lebensgeschichte entlassen werden. Diesen in ihren Gemeinsamkeiten und ihren Unterschieden nachzugehen, gemeinsam und getrennt in unterschiedlichen Umwelten, etwa bei Adoptiveltern aufgewachsenen, und sie mit erbungleichen Zwillingen und Geschwistern zu vergleichen, ist eine der großen Möglichkeiten. Bei der wachsenden Zahl von Beobachtungen normaler und abweichender Entwicklungen über die gesamte Lebenszeit sind mit den erbgleichen Zwillingen Aussagen über das Gewicht der sich manifestierenden Natur und der jeweiligen Umweltangebote für kognitive und affektive Eigenschaften bis in krankhafte Abweichungen zu machen. Gewicht, Form und Zeitpunkt von Umwelteinflüssen, die die seelische und die körperliche Entwicklung mitbestimmen können, werden dabei deutlich.

Der Psychoanalytiker Otto Kernberg, jetzt Präsident der IPV, hat vor 10 Jahren provokativ gefragt, ob die Psychoanalyse als Abendschule, als religiöse Gemeinschaft oder als wissenschaftliche Disziplin weiterexistieren wolle. Nebenbei hat er später mit Bedauern festgestellt, dass die Psychoanalyse in den USA nicht nur aus der Psychiatrie, sondern auch aus der Medizin dabei sei, auszuwandern. Das liegt u.a. sicher in ihren grundlegenden entwicklungspsychologischen Theorien und ihrer entsprechenden praktischen Ausrichtung. Otto Kernberg hat aber selbst gerade in einem seiner letzten Bücher über Persönlichkeiten, die zu Gewalt und Aggression neigen, als alleinige Ursache beschrieben: Die in frühen Jahren in der Beziehung zu einer feindlichen Mutter introjizierten feindlichen Gefühle sind bestimmend für diese asoziale Einstellung. Darf man, frage ich, heute noch retrospektiv aus psychoanalytischen Einzelanalysen erwachsener Patienten ohne Längsschnittuntersuchungen und systematische Beobachtungen an größeren Gruppen solche Konstrukte vertreten? Darf man damit die Mütter als Ursache so einseitig belasten, bei anderen Störungen die Väter? In vielen Ländern findet Kriminalität von Jugendlichen heute großes Interesse. Hier in Berlin wurde ich in einem Vortrag im Max-Planck-Institut konfrontiert mit einer amerikanischen Längsschnittstudie in Neuseeland, bei der 1000 Kinder unmittelbar nach der Geburt, dann mit drei Jahren und danach fortlaufend in zweijährigen Abständen bis zum 25. Lebensjahr begleitet und erfasst wurden. Mit drei Jahren waren etwa knapp 10 % dieser Kinder als hyperkinetisch eingestuft worden, einer bestimmten motorischen, im Verhalten und in der Aufmerksamkeit sich manifestierenden Störung, die jetzt als genetisch lokalisierbar bekannt ist. Es zeigte sich, dass mit 25 Jahren von Natur aus hyperkinetische Kinder bei Gewalttaten und anderen kriminellen Abweichungen um ein Mehrfaches häufiger vertreten waren, als die mit drei Jahren normal eingestuften. Nicht alle dieser Hyperkinetischen waren betroffen, allerdings eben ein großer Teil. Immer sind offenbar multigenetische Faktoren und immer ist eine Wechselwirkung mit der Umwelt im Spiel. Ein provokantes Beispiel für das gesellschaftliche Gewicht psychologischer Theorien ist der Türkenjunge Mehmet mit seiner Serie von kriminellen Handlungen. Er sollte mitsamt seiner Eltern und den zwei unauffälligen Geschwistern ausgewiesen werden. In den Zeitun-gen ist das Thema oft behandelt worden, er wurde psychiatrisch meines Wissens nicht untersucht. Wie sich dann aus Berichten aus der Türkei zeigte, ist er ein klassischer Fall von Aufmerksamkeitsdefizit und von Hyperkinese. Es geht hier wie immer bei genetisch bedingten Verhaltensstörungen nicht um eine lineare einfache Kausalität, sondern um multigenetisch verankerte Faktoren und um Wechselwirkungen mit der Umwelt. Großes Gewicht haben offenbar die Weichenstellungen in der Umwelt zur Zeit der Pubertät und der Adoleszenz. Es zeigt sich, dass in der aktiven Wahl von Peergruppen, also der Gleichaltrigen, mit denen man zusammen spielt und handelt in der Gesellschaft, Entscheidungen fallen bzw. sich manifestieren. Die subjektiv aktive Wahl der peer group ist dabei aber offenbar genetisch mitbestimmt.

Frage: Ihre Lehrbücher haben mich ein halbes Leben begleitet, nicht zuletzt wegen ihrer didaktischen Klarheit. Aber bekanntlich gilt für Bücher: habent sua fata. Welche Geschichte, welches Schicksal haben die Ihren?

Bräutigam: Als ich 1968 die Psychosomatische Klinik in Heidelberg übernahm, wurde im gleichen Jahr Neurosenlehre, Psychotherapie und auch Psychosomatik zum Lehrfach mit Vorlesungen und Praktika. Damals gab es psychoanalytische Zeitschriften und Fachbücher, aber wenig einführende und grundlegende Darstellungen, abgesehen von dem Buch von Franz Alexander über psychosomatische Medizin. Ich gab 1968 einen ersten Grundriss mit klinischer Beschreibung der Reaktionen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen heraus, fünf Jahre später zusammen mit Paul Christian ein kurzgefasstes Lehrbuch der psychosomatischen Medizin, jeweils mit dem damals theoretischen Verständnis und den psychotherapeutischen Zugängen. Ich hatte in den verschiedenen klinischen Bereichen gearbeitet und konnte immer mit klinischen Fallbeispielen auch eine gewisse Anschauung neben den theoretischen Konstrukten geben. Diese kleinen Lehrbücher hatten Erfolg und machten Neuauflagen möglich, die jeweils Überarbeitungen erforderten. Frau Dührssen und ich waren damals im Vorstand der DGPN, also der Fachgesellschaft der Psychiater und versuchten dort, Verständnis für die Psychotherapie zu finden. Es ist ja bemerkenswert, dass es heute zu einem Kampf um den Begriff Psychotherapie zwischen den Fächern gekommen ist. Viele Psychiater nehmen heute selbstverständlich den Begriff Psychotherapie für sich in Anspruch. Wenn ich mich heute umsehe, finde ich z. B. in der Inneren Medizin das Wissen so verändert und differenziert, dass die klassischen psychogenetischen Auffassungen über psychosomatische Erkrankungen nicht mehr zu vertreten sind. Eine Neuauflage meiner kleinen Lehrbücher überfordert meine Alterskräfte.

Mit der Übernahme des Institutes für psychosomatische Medizin, meinem damaligen Wissensstand und bei den räumlichen Erweiterungen wurde es möglich, die Behandlungsverfahren zu differenzieren. Neben das bisher praktizierte klassische psychoanalytische Verfahren traten tiefenpsychologische und gruppentherapeutische Behandlungen, Einrichtung einer stationären therapeutischen Gemeinschaft sowie nonverbale Therapiemethoden wie Gestaltungstherapie und konzentrative Bewegungstherapie. Und es kam zur Kooperation mit anderen Fachbereichen. Psychotherapie ist aber weiter eine Aufgabe, wenn auch nicht mehr an die früheren psychogenetischen Auffassungen einer fremdbezogenen kindlichen Verursachung gebunden. Die seelische Verarbeitung von körperlichen Krankheiten zu optimieren ist die Aufgabe, Coping und Compliance sind neue Begriffe. Und es gibt noch eine große Zahl von funktionellen körperlichen Beschwerden und auch Störungen, vor allem in der Praxis der Allgemeinärzte, die in ihren situativen und individuellen Bedingungen psychotherapeutische Aufmerksamkeit verdienen. Die letzte große psychosomatische Erkrankung, bei der die innere Persönlichkeitsentwicklung den körperlichen Zustand bis zum Tode bestimmt, ist die Anorexia nervosa, für mich ein faszinierendes Problem und eine ungelöste therapeutische Aufgabe. Es sind ja junge Frauen, die mit der Erscheinung ihres Körpers in krankhafter Weise beschäftigt sind, eine fixe Idee haben, die sie bis zum Wahn und bis in den eigenen Tod verfolgt. Was sind die Ursachen? Psychoanalytische Auffassungen finden auch hier die Mutter als Schicksal, etwa eine missglückte Identifikation. Und es gibt systemische Theorien in den großen Lehrbüchern der Psychosomatik, die die verklammerte Familie als Ursache beschreiben. Aber kommt es zu der besorgten Haltung der Eltern nicht deswegen, weil sie den bedrohlichen Zustand ihrer Kinder aus der Nähe erleben? Ist das die Ursache oder die Folge? Es ist nicht daran vorüberzugehen, dass bei der Anorexia nervosa eine hohe genetische Disposition besteht, die etwa der bei Psychosen entspricht, wie die Zwillingsbefunde beweisen. Es ist offenbar eine genetisch verankerte innerseelische, psychische Entwicklung, welche bei diesen besonders ästhetisch anspruchsvollen Mädchen unter den Anforderungen der Pubertät und Adoleszenz zu Konflikten und Wendung gegen sich selbst führt. Neben einer einfühlenden und entschiedenen Behandlung der akuten lebensbedrohlichen Zustände, künftig dabei vielleicht auch medikamentösen Hilfe, werden hier besondere psychotherapeutische Wege und Zielsetzungen wichtig werden. Den Begabungen, hohen Idealen und Anforderungen, die diese jungen Frauen an sich selbst stellen, Aufgaben und Inhalte zu geben, scheint mir eine Möglichkeit, hier psychotherapeutisch weiterzukommen.

Frage: Wie ist Ihr Blick auf Ihre Nachfolgegeneration, oder auch: Was würden Sie heute anders machen?

Bräutigam: Viele Dinge, die die nächste Generation heute macht, finde ich positiv und besser als das, was wir praktiziert haben. So, wenn zur Klärung der Wirksamkeit psychoanalytischer oder verhaltenstherapeutischer Verfahren bestimmte Patientengruppen in dem gleichen Institut oder der gleichen Klinik behandelt und katamnestisch untersucht werden. Dass bei vielen Störungen und Patienten eine entschieden situationsbezogene Behandlung als hilfreich erfahren wird, ist heute evident. Andere benötigen im Rahmen ihrer Reifungsstörungen eher eine die gegenwärtige Situation und die innere Lebensgeschichte verbindende therapeutische Ausrichtung, die zu neuen Einstellungen und Verhaltensweisen in der Zukunft ermutigt. Dass es zu einer allgemeinen Psychotherapie kommt, in der die verschiedenen Schulen und Traditionen aufgehen, ist gegenwärtig ja noch schwer vorstellbar. Positiv finde ich auch, wenn heute die nächste Generation multizentrische Studien an mehreren Universitäten auch für Psychotherapie nutzt, etwas was in anderen Fächern längst praktiziert wird. Wir haben in den 70er Jahren in Heidelberg ein Katamneseprojekt entworfen und praktiziert, dabei tiefenpsychologische und psychoanalytische Einzelbehandlungen, Gruppentherapie usw. miteinander verglichen. Wir mussten uns aber in diesem naturalistisch klinischen Katamneseprojekt mit neurotischen und psychosomatischen Patienten bei dem damaligen strengen Datenschutz und dem geringen Interesse für katamnestische Untersuchungen doch sehr beschränken. Die Ergebnisse sprechen u.a. für dauernde Erfolge gerade der tiefenpsychologischen Behandlungen gegenüber der klassischen Psychoanalyse, wenn man einen mehrjährigen Katamnesezeitraum über das Behandlungsende hinaus nutzen kann. - Anders würde ich heute in der Kooperation mit anderen Fächern verfahren, der Dermatologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, der Frauenheilkunde. Dorthin entsandte Mitarbeiter müssten erst ein Jahr in diesen Fächern arbeiten und Fachkenntnisse erwerben. Ich erlebte es, dass sie zunächst wie Missionare der Psychogenetik in diesen fremden Fächern auftraten. Kooperation mit anderen Fächern setzt Respekt gegenüber deren Erfahrungen und Wissen voraus. Ich würde auch von Ärzten, die auf einer psychosomatischen Krankenstation arbeiten, psychiatrische Kenntnisse verlangen, so dass sie die suizidale Gefährdung dieser Patienten unter psychotherapeutischen Behandlungen abschätzen können. Und Katamneseprojekte würde ich in jüngeren Jahren beginnen, jedenfalls solche, bei denen gerade psychoanalytische Behandlungen auf ihre Wirksamkeit geprüft werden sollen.

Frage: Die psychoanalytische Therapie war Ihr Feld, aber Sie waren auch immer ein mahnender Kritiker ihrer Organisationen und Ausbildungsmodalitäten.

Bräutigam: Besorgt bin ich über den zunehmend großen Abstand zwischen den psychoanalytischen Ausbildungsinstituten und den psychosomatischen und psychotherapeutischen Universitätseinrichtungen. Begründet ist der einerseits durch die unterschiedlichen Patientengruppen, die dort jeweils untersucht und behandelt werden. Auch die größere Nähe der Kliniken zu anderen Fachgebieten an den Universitäten und die Abgrenzung und Isolierung der verschiedenen Institute mag dazu beigetragen haben. Da sich gegenwärtig die psychoanalytische Ausbildung mit der sie bis zum Ende begleitenden Lehranalyse über fünf bis zehn Jahre erstreckt, ist mit ihr eine enorme zeitliche und auch finanzielle Investition verbunden. Lehranalytiker und Ausbildungsteilnehmer leben über lange Zeit in einer Nische. Es handelt sich bei den Auszubildenden, wie man gesagt hat, um relativ gesunde Neurotiker, in den Ausbildungsfällen, die dort behandelt, kontrolliert und in den Seminaren vorgestellt und diskutiert werden. Es sind aber die Jahre, in denen lernende junge Menschen mit körperlichen und seelischen Krankheitsformen, ihren Bedingungen und Ursachen und mit verschiedenen Wegen psychotherapeutischer Hilfen konfrontiert werden sollten und nicht mit einer jahrelangen Selbstbetrachtung auf der Couch bei hoher Wochenstundenzahl. Es ist gerade eine Untersuchung erschienen, in der 400 Ausbildungsfälle ausgewertet wurden. Es ergab sich, dass zwei Drittel der weiblich Behandelten über leichte oder schwere sexuelle Übergriffe in der Kindheit berichteten, männliche in gut einem Drittel. Offenbar wurde die hier eruierte traumatische Schädigung auch ohne Weiteres als Ursache der behandelten Störung angenommen. Es sind Zahlen, die in keiner sexualwissenschaftlichen Untersuchung bisher gefunden wurden. Ist hier eine Vorauswahl einer Patientenpopula-tion bestimmend gewesen? Oder waren die Erwartungen der jungen Therapeuten hier richtungbestimmend - die schließlich noch zu höheren Zahlen führen werden? Die hier erfassten Ausbildungsbehandlungen waren ja zum Zeitpunkt der Untersuchung meist noch nicht abgeschlossen. Sigmund Freud hat 1897 publiziert, dass er bei allen Hysterien einen sexuellen Missbrauch als Ursache gefunden habe. Er hat das schriftlich nie widerrufen, seinem Freund Fließ aber den Irrtum eingestanden, es habe sich um Fantasien gehandelt. Waren es Fan-tasien seiner Patienten oder seine Fantasien? Das Missbrauchsthema hat nicht nur in der psychoanalytischen Literatur, sondern auch in den Medien in den letzten Jahrzehnten eine große Verbreitung gefunden. Wird heute Missbrauch zur Mentalität und Mythologie, etwas was erwartet wird, was diese jungen Menschen schon mitbringen? Oder verbindet sich im Sprechen und Denken über Jahre in der psychoanalytischen Situation etwas, was die Patienten wie die Therapeuten erwarten? - Nach meiner Überzeugung gehört es zu einer erfolgreichen Therapie, dass sich der Patient am Ende nicht als Opfer von Vater oder Mutter oder äußerer Umstände versteht, sondern als jemand erfährt, der das, was er erlebt, getan und auch erlitten hat, selbst gestaltete und sich auch in der Zukunft selbst zuschreiben muss und nicht anderen Menschen. Und das gilt auch, wenn es zu dem ja durchaus gegebenen und sicher belastenden Missbrauch kam, dem Missverständnis zwischen kindlichen Erwartungen nach Sicherheit und Geborgenheit und den sexuellen Besitzansprüchen älterer Menschen.

Zum gegenwärtigen Verhältnis von psychoanalytischer Theorie und Praxis finde ich eine bemerkenswerte Aussage in dem, was die amerikanischen Therapeuten Spence und Wallerstein aussagen. Sie stellen zwar die psychoanalytischen Ursachen-theorien nicht ausdrücklich infrage. Sie schlagen aber wegen der schwierigen entwicklungspsychologischen Rekonstruktionen in der psychoanalytischen Situation vor, nicht mehr die Vergangenheit als Ziel der Behandlung anzuvisieren. Es sollten nicht mehr „archäologische” historische Wahrheiten der Kindheit in den Mittelpunkt gestellt werden, nur die „narrativen” Wahrheiten, also das, was der Patient in der Gegenwart an Konflikten in die Stunde einbringt. Die Auffassungen dieser Autoren kommen sicher aus ihren langjährigen Erfahrungen in der Menninger Clinic und mit dem dortigen Katamneseprojekt. Dort hat sich ja gezeigt, dass für den Ausgang bei den meisten Fällen auf das gegenwärtige und zukünftige Leben gerichtete supportive Hilfen notwendig waren. Und es ist ja auch eines der Ergebnisse unseres Heidelberger Katamneseprojektes, dass nicht die Rückschau, das regressive Erleben, den wesentlichen Wirkfaktor darstellt. Entscheidend für den positiven Ausgang war die neubewegte gegenwärtige Lebenslage und die Qualität der Beziehung zum Therapeuten.

Frage: Welche Entwicklung wünschen Sie der Psychotherapie?

Bräutigam: Ich wünsche der analytischen Psychotherapie, dass sie am Leben bleibt, indem sie sich verändert. Dass sie die Tradition von Freud und anderer Gründerfiguren ehrt, indem sie diese kritisiert und über sie hinaus fortschreitet. Dazu muss sie das heutige entwicklungspsychologische Wissen zur Kenntnis nehmen. Der Mensch wird nicht durch die frühe Kindheit und von außen wirkende Traumen bestimmt, geprägt, wie man heute unter falscher Nutzung eines ethologischen Begriffes häufig sagt. Die individuell unterschiedliche Natur des Menschen und seine lebenslang aktiv und selektiv wahrnehmende und verarbeitende Beziehung zur Umwelt sind für seine gesunde und seine krankhafte Entwicklung bestimmend. Viele Wortschöpfungen Freuds wie Fehlleistung, Verdrängung etc. sind in das allgemeine Denken und Sprechen übergegangen. In der Psychotherapie sind Begriffe wie filiale Bindung, Ambivalenz, Narzissmus, Triangulierung Bilder, welche die gegenwärtige innere Lage des Patienten anschaulich machen und verstehen lassen. Sie können auch ohne eine Kausalität aus der frühen Kindheit in der Behandlung Hilfe geben. Vor allem ist die Psychoanalyse noch immer die Richtung, die als erste die Beziehung zwischen Patient und Therapeut thematisiert und genutzt hat. Allerdings hat sie Freud gleich mit dem Begriff Übertragung und der Schutzbehauptung einer bloßen Wiederholung eingeengt, mit der Spiegelfunktion den Austausch reduziert und damit die realistische und persönliche Qualität der Beziehung in der Theorie nicht akzeptiert, obwohl er sie selbst in seinen Behandlungen durchaus nutzte. Gegenüber anderen Richtungen hat die Tiefenpsychologie den Vorzug einer mehrdimensionalen Betrachtung des Seelischen. In Begriffen wie Konflikt, Ambiguität und auch Ambivalenz, wie in Konstrukten über unbewußte, abgewehrte, verdrängte Anteile werden unterschiedliche Einstellungen und immer bestehende latente Möglichkeiten des Patienten angesprochen. Das entspricht einem Menschenbild, welches auf die noch nicht gelebten Einstellungen im zukünftigen Lebenslauf gerichtet ist und sich ihnen öffnet. Gerade gegenüber den bisher entschieden retrospektiv ausgerichteten Behandlungen scheint mir diese prospektive Ausrichtung wichtig und nützlich. Das hat sich u.a. in der kognitiven Verhaltenstherapie bewährt und kann für alle psychotherapeutischen Richtungen nützlich sein.

Dieses Interview führte Prof. Dr. Hubert Speidel, Kiel.

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