Laryngorhinootologie 2000; 79(11): 622
DOI: 10.1055/s-2000-8299
HAUPTVORTRAG
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kritische Analyse und neue Konzepte der Hörsturzbehandlung

W. Arnold, Kerstin Lamm
  • München
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 December 2000 (online)

Die Ursachen und Pathomechanismen, die einem Hörsturz (akute, zumeist einseitige Innenohrschwerhörigkeit mit/ohne Tinnitus, mit/ohne passagere ipsilaterale Vestibularisstörung mit Schwindel ohne internistische, neurologische o. a. Grunderkrankung) zugrunde liegen, sind nach wie vor nicht geklärt. Die medizinischen Wissenschaftler diskutieren, dass durch einen noch unbekannten Mechanismus latente Herpes-Viren oder andere neurotrope Viren im Innenohr reaktiviert werden. Dies würde nicht nur direkte Schäden der sensorischen und neuronalen Strukturen des Innenohres verursachen, sondern auch Gefäßveränderungen im Sinne einer Vaskulitis mit einer gestörten Vasomotion und so genannten Steal-Effekten, was zu einer regionalen Durchblutungsstörung führen kann. Ausweislich tierexperimenteller Ergebnisse haben eine Hyperlipidämie oder eine Polyglobulie keinen Effekt auf das Gehör, wohingegen sich mit repetetiven Adrenalin-, und Noradrenalin-Infusionen eine cochleäre Ischämie und Hypoxie, sowie eine akute Innenohrschwerhörigkeit induzieren lässt. Klinisch auffällige Befunde wurden bei Hörsturzpatienten lediglich hinsichtlich bestimmter Persönlichkeits-Profile ermittelt: u. a. stark entwickeltes Pflichtgefühl und Moralbewusstsein, hohe Identifikation mit dem Beruf, Neigung zur Vermeidung und Verdrängung intra- und interpersoneller Konfliktsituationen. Was die konventionellen therapeutischen Interventionen betrifft, so hat eine alleinige Infusionstherapie mit einem Plasmaexpander mit/ohne Zusatz eines Vasodilativums in zirka 68 % der Fälle mit einem diagnostisch gesicherten idiopathischen Erst-Hörsturz (also ohne Vorschäden und nach Ausschluss aller anderen Erkrankungen, die zu einer akuten Hörverschlechterung mit/ohne Tinnitus, mit/ohne Gleichgewichtsstörungen führen können) einen Erfolg hinsichtlich einer partiellen oder vollständigen Remission des Hörverlustes. Werden zusätzlich zu dem Plasmaexpander Glukokortikoide (z. B. Prednisolon) infundiert, lassen sich bei Patienten mit einem Tief-, oder Mittelton-Hörsturz signifikant bessere Hörerholungen erzielen. Der Erfolg hinsichtlich des Tinnitus ist in klinischen Studien, die den heute gültigen Qualitäts-Anforderungen entsprechen (u. a. plazebo-kontrolliert durchgeführte Studien) nicht berücksichtigt worden; hierzu gibt es keine Daten. Das Problem ist, dass es plazebo-kontrollierte Studien mit Hörsturz-Patienten gibt, in denen mit einem Plazebo (Kochsalz-Infusionen + Plazebotabletten) der gleiche Hörgewinn erzielt wurde, wie in der mit bestimmten (!) durchblutungsfördernden Medikamenten behandelten Vergleichs-Gruppe. Ausweislich tierexperimenteller Studien lässt sich in einem (lärm-, oder knalltraumatisch bedingten) ischämischen, hypoxischen und funktionell gestörtem Innenohr der Hörschaden mit einem Plasmaexpander (6 % HAES 200/0,5), Glukokortikoid (Prednisolon) und einer hyperbaren Sauerstofftherapie (Atmung von 100 % Sauerstoff bei 2,6 ATA erhöhtem Umgebungsdruck in einer Druckkammer) vollständig beheben. Alle anderen getesteten klinisch noch angewandten Pharmaka hatten keine Wirkung. Da sich Tinnitus nicht anhand von Mess-Parametern objektivieren lässt, kann hierzu keine Aussage hinsichtlich einer Remission gemacht werden.

Zusammenfassend bietet sich folgende Behandlungs-Strategie bei akuten Innenohrerkrankungen (Hörsturz, Knall-Traumata, Lärm-Trauma, Musikschall-Trauma u. a.) in Form eines Stufen-Planes an:

Tag 1- 3: je 500 ml 6 % HAES 200/0,5 mit je 250 mg Prednisolon i. v. Tag 4- 10: falls keine oder nur eine partielle Remission erzielt wurde, weiterhin täglich 500 ml 6 % HAES 200/0,5 i. v. mit oraler Prednisolon-Medikation nach Dosierungs-Schema absteigend ab 100 mg bis auf 2,5 mg innerhalb von 16 Tagen Tag 11- 20: falls keine oder nur eine partielle Remission erzielt wurde, hyperbare Sauerstoff-Therapie mit Fortsetzung der oralen Prednisolon-Medikation (s. o.). ca. 4 Wochen später:

falls ein Hörverlust (um 30 dBHL und mehr in drei und mehr Frequenzen) mit/ohne Tinnitus persistiert, Verordnung eines Hörgerätes (z. B. voll-digitales Miniatur-Hörgerät = completely in the canal = CIC-Gerät); falls der Hörverlust geringer als oben genannt ausgeprägt ist und ein Tinnitus persistiert, Verordnung eines Tinnitus-Maskers und/oder einer anderen auditorischen Stimulations-Therapie; je nach Persönlichkeits-Profil des Patienten Verordnung einer kognitiven Verhaltens-Therapie.

Univ.-Prof. Dr. med. Wolfgang  Arnold

HNO-Klinik im Klinikum rechts der Isar Technische Universität München

Ismaninger Straße 22 81675 München

    >