Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000; 35(12): 729-730
DOI: 10.1055/s-2000-8938
EDITORIAL
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Von molekularen Wirkungen und neuronalen Netzen

J. Schulte am EschT. Krause
  • Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 December 2000 (online)

„Ignoramus - (et) ignorabimus? Wir wissen es nicht - (und) werden es nie wissen?”

Emil Du Bois-Reymond

(Berliner Physiologe 1816 - 96) in seiner Rede von 1872 über „Die Grenzen des Naturerkennens”.

„In Bezug auf die Rätsel der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ignoramus auszusprechen. In Rücksicht auf die durchlaufene siegreiche Bahn, trägt ihn dabei das stille Bewussstsein, dass, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte und dereinst vielleicht wissen wird. In Bezug auf das Rätsel aber, was Materie und Kraft seien und wie sie zu denken vermögen, muss er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahlspruch sich entschließen: Ignorabimus.”

Anästhesiologie ist eine notwendige Voraussetzung zur Erzeugung von Toleranz für chirurgische Eingriffe. Die wichtigsten Anforderungen an eine Allgemeinanästhesie bestehen in der Erzeugung eines reversiblen Bewusstseinsverlustes und einer ausreichenden Analgesie, so dass schmerzhafte chirurgische Manipulationen überhaupt erst möglich werden. Es ist eines der wesentlichen Ziele unseres Fachgebietes, mögliche Nebenwirkungen und Risiken für den Patienten hierbei so gering wie irgend möglich zu halten. Die Diskussion über mögliche Wirkmechanismen der Anästhesie begann bereits kurz nach der Demonstration der ersten Äthernarkose durch William Thomas Green Morton 1846 am Massachusetts General Hospital in Boston, USA. Trotz des unvermindert großen Interesses ist bis heute ungeklärt, welche zentralnervösen Mechanismen einer Anästhesie zugrundeliegen. Der Verlust des Bewusstseins ist keinesfalls mit einer vollständigen Unterbindung oder Reduktion sämtlicher Hirnfunktionen verbunden, sondern mit einer unterschiedlich ausgeprägten Unterdrückung spezieller Funktionen in speziellen Hirnarealen.

Die in diesem Heft präsentierte Übersicht von Antkowiak und Mitarbeitern (S. 731) zu den neuronalen Mechanismen der Narkose thematisiert die unvermindert aktuelle Frage nach den Wirkmechanismen der Anästhesie. Es werden elektrophysiologische Untersuchungen an neokortikalen Hirnschnitten in Kultur referiert, die eine differenzierte Betrachtung der Anästhetikawirkungen im integrierten neuronalen Verband des Cortex in vitro erlauben und mit elektrophysiologischen Daten von in vivo Untersuchungen korreliert werden. Auf diese Weise lassen sich die zellulären Interaktionen bei vorhandenen Synapsen und Verschaltungen unter Anästhesiebedingungen betrachten. Das präsentierte Modell ermöglicht somit einen neuen Blickwinkel auf das Phänomen der Anästhesie, mit dem die Reaktionen komplexer neuronaler Netze auf kortikaler Ebene unter kontrollierten Bedingungen in vitro untersucht und diskutiert werden können. Darüber hinaus geben die Autoren über die unterschiedlichen Wirkprofile verschiedener Anästhetika auf zerebraler und spinaler Ebene einen Überblick, unter Berücksichtigung der These, dass Analgesie im Wesentlichen, wenngleich auch nicht ausschließlich, auf spinaler Ebene vermittelt wird.

Zur Erklärung des Phänomens Anästhesie wurden im Lauf der Jahre zahlreiche Theorien und Modelle entworfen. Dennoch gibt es bis zum heutigen Tag kein allgemein anerkanntes gültiges Modell. Über viele Jahre galt die Lipidtheorie als wesentliche Erklärung für den Wirkmechanismus von Anästhetika. Dabei war die anästhetische Potenz einer Substanz eine Funktion ihrer Lipophilie, dieses Prinzip wird als Meyer-Overton Korrelation [1] bezeichnet. Diese Theorie ist in den letzten Jahren doch zunehmend bestritten worden, zumal einige Anästhetika dieser Regel nicht folgen und eine höhere anästhetische Potenz aufweisen, als es ihre Lipidlöslichkeit vermuten ließe [2] [3]. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass Stereoisomere einer Substanz durchaus unterschiedliche anästhetische Wirkungen entfalten können [4], ein Umstand, der mit einer unspezifischen Beeinflussung von Membranlipiden nicht vereinbar wäre. Nicht erklären lässt sich mit dieser Theorie auch der so genannte „cutoff”-Effekt, die Tatsache, dass für Alkohole und Alkane mit zunehmender Molekülgröße eine kritische Länge der Kohlenstoffkette besteht, von der an keine anästhetischen Wirkungen mehr erzielt werden können [5] [6].

In hohen Konzentrationen wirken Allgemeinanästhetika in vielen Teilen des zentralen Nervensystems unspezifisch, in niedrigeren und klinisch relevanten Konzentrationen jedoch erscheint das Spektrum der Wirkungen spezifischer zu sein. Heute wird angenommen, dass auf molekularer Ebene Anästhetika im Wesentlichen über Bindung an Proteine in der Zellmembran ihre Wirkungen entfalten [7]. Trotz großer Wissensfortschritte in den molekularen und zellulären Wirkprofilen von Anästhetika und einer Vielzahl von ständig neu hinzukommenden Erkenntnissen in den letzten Jahren, sind die einer Allgemeinanästhesie zugrundeliegenden Mechanismen und die Wirkorte bislang immer noch nur unvollständig bekannt. So wird z. T. auch bezweifelt, ob eine Vollständigkeit auf Grund der komplexen Architektur der neuronalen Netze jemals erreicht werden kann. Eine Reihe von theoretischen Ansätzen zur Erklärung des Phänomens Anästhesie sind in den letzten Jahren formuliert worden. Große Bedeutung wurde hierbei auf die Erforschung der Effekte auf molekularer Ebene gelegt. Für alle volatilen und intravenösen Anästhetika sind spezifische Interaktionen mit Rezeptoren bzw. Rezeptor-Ionenkanalkomplexen in der Membran von neuronalen Zellen beschrieben worden. Da für die meisten Anästhetika jedoch Effekte auf mehrere Rezeptoren sowie eine Vielzahl von Ionenkanälen beschrieben sind, ist auf Grund der Vielfältigkeit der Ergebnisse unklar, welche Wirkungen für die Anästhesie relevant und welche lediglich von untergeordneter Bedeutung sind. Die inhibitorisch wirkenden GABAA-Rezeptoren gelten als wesentliche Zielstruktur für viele Anästhetika [7], aber auch die Dämpfung exzitatorischer Rezeptoren, wie des NMDA Rezeptorkomplexes, z. B. durch Antagonisten wie Ketamin, wird als Mechanismus zur Erzeugung anästhetischer Wirkungen diskutiert [8]. Darüber hinaus lassen sich auch durch Alpha2-Adrenozeptoragonisten wie Clonidin oder Dexmedetomidin sedativ-analgetische Wirkungen erzielen [9], die im klinischen Alltag zu einer Einsparung von Anästhetika und Opioiden führen [10] [11]. Eine Mono-Rezeptortheorie zur Erklärung der Phänomene Bewusstsein und Anästhesie wurde von Flohr 1995 formuliert. In dieser These wird der NMDA Rezeptorkomplex als die Schaltzentrale für die komplexe Vernetzung von Neuronen zu übergeordneten Funktionseinheiten postuliert, die für die Erzeugung des Bewusstseins als essentiell notwendig angesehen wird. Im Umkehrschluss ergibt sich, dass zur Erzeugung einer Allgemeinanästhesie die direkte oder aber indirekte Hemmung des NMDA Rezeptorkomplexes als gemeinsame Endstrecke für die Wirkung aller Anästhetika vorgeschlagen wird [12].

Die Analyse von molekularen Mechanismen ist sicherlich eine Grundvoraussetzung für ein Verständnis des Phänomens Anästhesie. Aufgrund der vielfältigen und z. T. auch widersprüchlichen Untersuchungsergebnisse bestreiten viele Forscher inzwischen, dass es den Rezeptor oder Rezeptor-Ionenkanalkomplex geben kann, der für die Vermittlung von Anästhesie von entscheidender Bedeutung ist. Mit zunehmendem Wissen werden immer neue Fragen formuliert.

Die komplexen Ereignisse während einer Anästhesie können nicht allein durch Wirkungen auf molekularer oder zellulärer Ebene verstanden und erklärt werden. Neurone sind über hierarchisch aufgebaute Netzwerke zu übergeordneten komplexeren Funktionseinheiten verbunden. Anästhetische Effekte können theoretisch auf jeder Stufe der Integration eingreifen und entsprechend komplexe und weitreichende Funktionsänderungen der betroffenen neuronalen Netze provozieren. Die Untersuchung von Anästhetikaeffekten auf molekularer oder zellulärer Ebene allein kann insbesondere dieses Zusammenspiel miteinander verschalteter Neuronenverbände in z. T. ganz unterschiedlichen Hirnregionen nicht erfassen [13].

Als Maß für die neuronale Aktivität der miteinander auf vielen Ebenen kommunizierenden neuronalen Netze lassen sich elektrophysiologische Untersuchungen, wie EEG-Analyse oder evozierte Potentiale, heranziehen. Stoffwechseluntersuchungen in vivo, wie die Positronenemissionstomographie, können über die regionale Verteilung des Hirnmetabolismus Aufschluss geben. Diese Methoden haben jedoch lediglich beschreibenden Charakter, ohne die Feinstrukturen und Regelmechanismen der neuronalen Netze eindeutig analysieren oder erklären zu können.

Es bleibt zu spekulieren, inwieweit die schon im Jahre 1872 formulierte These von Emil Du Bois-Reymond: „Ignoramus-ignorabimus” unter dem rasanten Wissensfortschritt im neuen Jahrtausend Gültigkeit behalten wird.

Literatur

  • 1 Cardoso R A, Yamakura T, Brozowski S J, Chavez-Noriega L E, Harris R A. Human neuronal nicotinic acetylcholine receptors expressed in Xenopus oocytes predict efficacy of halogenated compounds that disobey the Meyer-Overton rule.  Anesthesiology. 1999;  91 1370-1377
  • 2 Eger EI II, Ionescu P, Laster M J, Gong D, Hudlicky T, Kendig J J, Harris R A, Trudell J R, Pohorille A. Minimum alveolar anesthetic concentration of fluorinated alkanols in rats: relevance to theories of narcosis.  Anesth Analg. 1999;  88 867-876
  • 3 Tonner P H, Scholz J, Koch C, Schulte am Esch J. The anesthetic effect of dexmedetomidine does not adhere to the Meyer-Overton rule but is reversed by hydrostatic pressure.  Anesth Analg. 1997;  84 618-622
  • 4 Franks N P, Lieb W R. Stereospecific effects of inhalational general anesthetic optical isomers on nerve ion channels.  Science. 1991;  254 427-430
  • 5 Alifimoff J K, Firestone L L, Miller K W. Anaesthetic potencies of primary alkanols: implications for the molecular dimensions of the anaesthetic site.  Br J Pharmac. 1989;  96 9-16
  • 6 Liu J, Laster M J, Taheri S, Eger EI II, Koblin D D, Halsey M J. Is there a cutoff in anesthetic potency for the normal alkanes?.  Anesth Analg. 1993;  77 12-18
  • 7 Franks N P, Lieb W R. Molecular and cellular mechanisms of general anaesthesia.  Nature. 1994;  367 607-614
  • 8 Eilers H, Kindler C H, Bickler P E. Different effects of volatile anesthetics and polyhalogenated alkanes on depolarization-evoked glutamate release in rat cortical brain slices.  Anesth Analg. 1999;  88 1168-1174
  • 9 Aantaa R, Scheinin M. Alpha2-adrenergic agents in anaesthesia.  Acta Anaesthesiol Scand. 1993;  37 433-448
  • 10 Maze M, Tranquilli W. Alpha2-adrenoceptor agonists: Defining the role in clinical anesthesia.  Anesthesiology. 1991;  74 581-605
  • 11 Tonner P H, Scholz J. Clinical perspectives of alpha2-adrenoceptor agonists.  Curr Opin Anaesth. 1996;  9 471-480
  • 12 Flohr H. An information processing theory of anaesthesia.  Neuropsychologica. 1995;  33 1169-1180
  • 13 Urban B W, Barann M. Etomidat and propofol In: Molecular pharmacology of anaesthesia. Schulte am Esch J, Scholz J, Tonner PH (Hrsg). -. Lengerich; Berlin; Riga; Rom, Wien; Zagreb; Pabst Science Publishers 2000: pp. 50-64

Prof. Dr. med. J. Schulte am Esch

Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

20246 Hamburg

    >