Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2001; 11(1): 34-36
DOI: 10.1055/s-2001-11041-2
KOMMENTAR
Kommentar
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

ICIDH und Assessment

Aus der Sicht des VdR: Bericht zum ICIDH-2 Revision Meeting der WHO
Madrid, November 2000
M.  F. Schuntermann
  • Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR), Rehabilitationswissenschaftliche Abteilung, Frankfurt am Main
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Publication Date:
29 April 2004 (online)

Zusammenfassung

Auf dem Meeting wurde eine „Konsensfassung” der ICIDH-2 erarbeitet, wobei das Grundmodell der Beta-2 beibehalten wurde. Einige Vorschläge Deutschlands finden sich in der Konsensfassung wieder. Wichtigster Unterschied zur Beta-2 ist, dass es nunmehr nur noch eine Klassifikation für „Aktivitäten” und „Lebensbereiche” gibt. Die dort genannten „Domänen” können als „Aktivitäten”, als „Lebensbereiche” oder sowohl als „Aktivitäten” und „Lebensbereiche” interpretiert werden. Die Klassifikationen der Funktionen/Strukturen wurde verbessert, ebenso die Liste der Umweltfaktoren.

Die Konsens-Fassung der ICIDH-2 wird von der WHO unter dem Namen „Prefinal Draft December 2000” am 15. Dezember 2000 ins Internet gestellt (http://www.who.int/icidh). Sie dem Executive Board, das die Tagesordnung der Generalversammlung der WHO erstellt, zur abschließenden Erörterung vorgelegt. Vorgesehen ist, die Klassifikation im Rahmen eines größeren Paketes, das die zukünftigen Weltgesundheitsberichte der WHO betrifft, auf die Tagesordnung zu nehmen.

Im Einzelnen

Ziel des Meeting war es, die Schlussfassung der ICIDH-2 zu erstellen. Hierzu hat die WHO eine Prefinal Draft, October 2000, vorgelegt. Auf dem Meeting selbst standen noch zahlreiche weitere Dokumente zur Verfügung, darunter ein Überblick über die Änderungen der Prefinal Draft gegenüber der Beta-2 und eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Field Trials. An dem Meeting nahmen über 100 Delegierte aus 45 Mitgliedsstaaten der WHO teil.

Die Field Trials zur Beta-2 wiesen auf zwei entscheidende Probleme hin. Zum einen wurden in der Beta-2 zwar „Aktivitäten” als „Performanzen” (performance) eingeführt, diese wurden jedoch sehr häufig als „Leistungsfähigkeit” (capacity) interpretiert. Zum anderen war die Unterscheidung zwischen „Aktivitäten” im Konzept der Aktivitäten und „Lebensbereichen” im Konzept der Partizipation unklar, weil „Lebensbereiche” nichts anderes seien als Gruppen von Aktivitäten. Zwar machte in Deutschland die Unterscheidung zwischen den beiden Konzepten keine Probleme, wohl aber gab es unterschiedliche Meinungen bezüglich der beiden Interpretationen (Leistungsfähigkeit, Performanz) im Aktivitätskonzept. Die genannten Probleme einerseits und die vorgesehene Anwendung der ICIDH-2 im Rahmen der Neukonzeption der Weltgesundheitsberichte andererseits führten zu dem „radikalen” Vorschlag der Prefinal Draft.

Am Vortag des Meetings (14. November 2000) fand auf Einladung des WHO Collaborating Centres for the ICIDH, Niederlande, eine Vorbesprechung der europäischen Delegationen statt. Auf dieser wurde die Prefinal Draft einhellig abgelehnt. Sie sei konzeptionslos und das Partizipationskonzept der Beta-2 werde aufgegeben. Sie enthalte von der Beta-2 abweichende Konzepte, die keinen Field Tests unterzogen worden seien, und das Konzept des „uniform environment” sei abzulehnen.

Es wurde auf einen Kompromissvorschlag hingewiesen, der von Repräsentanten der WHO (Marijke de Kleijn, The Netherlands; John Fox, U.K.; Marjorie Greenberg, North America; Louise Ogilvie, North America; Richard Madden, Australia) auf einer Tagung in Ottawa am 24. Oktober 2000 erarbeitet wurde, nachdem abzusehen war, dass die WHO nicht bereit war, zur Beta-2 zurückzukehren.

Der Vorschlag beinhaltet im Wesentlichen folgendes:

  1. Es gibt drei Komponenten der ICIDH-2:
    - Körperfunktionen und -strukturen,
    - Domänen von Lebensbereichen und Aufgaben,
    - Umweltfaktoren.

  2. Es sollte dem Benutzer der ICIDH-2 entsprechend seinen Zwecken überlassen bleiben, welche der beiden Interpretationen (Leistungsfähigkeit, Performanz) er verwendet.

  3. Die Definitionen von „Aktivitäten” und „Partizipation” der Beta-2 sollten beibehalten werden. Der Benutzer kann, abhängig von Zweck und Anwendung, Bereiche der Domänen spezifizieren, auf die er das Konzept der Aktivitäten bzw. das Konzept der Partizipation anwendet.

  4. Die Qualifizierer (qualifiers) der Prefinal Draft sollten beibehalten werden, allerdings sollte berücksichtigt werden, dass diese der Weiterentwicklung bedürfen.

  5. Die Liste der Umweltfaktoren sollte benutzt werden, um die relevanten Faktoren zu kodieren (sei es nun im Sinn des „uniform environment” oder im Sinn des „current environment”).

  6. Das Wort „functioning” (deutsch: Aspekte der funktionalen Gesundheit) sollte im Titel der ICIDH-2 erscheinen.

Auf dem WHO-Meeting selbst wurde die Prefinal Draft von der Mehrheit der Delegierten der Regierungen abgelehnt, insbesondere von Australien, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Japan, Niederlande, Norwegen, Schweden, UK und USA. Alle Delegierten machten aber deutlich, dass sie zu einem Kompromiss bereit seien. Eine nochmalige Testphase einer Beta-Version wurde von der überwiegenden Mehrheit der Delegierten abgelehnt.

Als Kompromiss wurde der Ottawa-Vorschlag angenommen. Dieser enthält auch Vorschläge Deutschlands (Beibehaltung des biopsychosozialen Modells der Beta-2, Beibehaltung des Konzepts der „Funktionalen Gesundheit” [functioning] der Beta-2, Beibehaltung der Definitionen der Aktivitäten und Partizipation der Beta-2). Der Titel der Klassifikation soll lauten „International Classification of Functioning, Disability and Health”.

Zum Begriff der Behinderung

Auf dem Meeting machte die WHO noch einmal deutlich, dass sich der Begriff „disability” gegenüber der Beta-2 nicht geändert habe. Dort heiße es: „Functioning and disability are conceived as a dynamic interaction (process or result) between health conditions and contextual factors”. In diesem Sinn sei auch die folgende Aussage der Beta-2 zu verstehen: „,Functioning‘ and ,disability‘ are umbrella terms covering three dimensions: (1) body functions and structure; (2) activities at the individual level; and (3) participation in society.” Andererseits ist festzustellen, dass der Umweltbezug bei den Definitionen von „Functions/Structures” und „Activities” explizit nicht hergestellt, sondern nur bei der Definition von „Participation” berücksichtigt wird.

Der Begriff der Behinderung (ICIDH-2: disability) hat sich also gegenüber der ICIDH-1 wesentlich geändert. Bei Fragen der Behinderung ist nunmehr stets der gesamte Lebenshintergrund der betroffenen Person zu berücksichtigen (Umweltfaktoren).

Schlussfolgerungen

  1. Die in der Madrid-Sitzung erarbeitete ICIDH-2 ist ein Kompromiss, der gleichwohl die Grundkonzepte der Beta-2 enthält.

  2. Er ermöglicht es, wie die Beta-2, die drei Aspekte der funktionalen Gesundheit: 1. Integrität der Körperfunktionen und -strukturen, 2. Durchführung von Aktivitäten und Partizipation (Fähigkeit/Performanz) an Lebensbereichen zu betrachten. Insoweit berücksichtigt sie die Belange der Rehabilitation und des Sozialrechts in Deutschland.

  3. Sie ist jedoch gegenüber der Beta-2 komplizierter anzuwenden, weil bei jeder Domäne zu fragen ist, ob sie unter dem Gesichtspunkt der Aktivitäten oder der Partizipation betrachtet werden soll.

  4. Für die praktische Anwendung der ICIDH-2 müssen Benutzerhinweise und Schulungsmaterialien erarbeitet werden, wie dies in anderen Mitgliedsstaaten der WHO bereits geschehen ist.

  5. Der WHO-Begriff der Behinderung bezieht ausdrücklich Umweltfaktoren ein. Insoweit unterscheidet er sich vom Behinderungsbegriff der ICIDH-1. Er ist jedoch weiter als der des Referentenentwurfs zum SGB IX, weil im Referentenentwurf ausschließlich auf Teilhabe an Lebensbereichen (Partizipation) abgestellt wird. Dies erscheint aus Sicht der Systematik des deutschen Sozialrechts einerseits und der sozialrechtlichen Konsequenzen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen auch begründet.

Dr. Michael F. Schuntermann, 22. November 2000

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