Psychother Psychosom Med Psychol 2001; 51(3/4): 128-133
DOI: 10.1055/s-2001-12385
ORIGINALARBEIT
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Körper-Sein, Körper-Haben - Der Hintergrund des Dualismus in der Medizin

Thure von Uexküll
  • Freiburg
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 December 2001 (online)

Zusammenfassung

Psychosomatische Medizin beginnt mit der Entdeckung, dass die Krise der Medizin eine Krise ihrer Philosophie ist, die dem Arzt einseitige Modelle und Konzepte für seine Empirie vorschreibt. Dabei ist die Überwindung des Dualismus einer Medizin für seelenlose Körper und körperlose Seelen entscheidend, um zu einem Bild zu gelangen, das den Menschen und seinen Körper als Ganzes in seiner Wirklichkeit aus ikonischem Erleben und den Möglichkeiten indexikalischen Handelns und „Be-handelns” zeigt. In dieser Wirklichkeit behandeln wir unseren Körper, wenn ikonische Warn-Zeichen des Alltags es verlangen. Erst wenn unsere indexikalischen Möglichkeiten versagen, müssen wir sie an den Arzt delegieren. Das heißt, der Patient und niemand sonst gibt den Behandlungsauftrag. Er delegiert seine indexikalischen Möglichkeiten an den Arzt. Das verlangt von diesem eine Kommunikation, die zum Aufbau einer gemeinsamen Wirklichkeit führt, in der auch die empathische Ebene der ikonischen Bedürfnisse des Patienten erreichbar ist. Die Krise der Medizin als Ausdruck des Übergangs von der Industrie- zur Informationsgesellschaft verlangt, dass wir das Modell des technisch interpretier- und manipulierbaren Körpers in ein Informationssystem integrieren, dessen Basis „der Patient, sein Arzt und die Krankheit” oder kurz: die Patient-Arzt-Beziehung bilden. Im Rahmen dieser Beziehung entsteht die Wirklichkeit der Medizin. Die Ärzteschaft ist daher gefordert, diese unteilbare Grundlage des Heilberufes sowohl gegen überbordende Bürokratisierung, als auch gegen neue Tendenzen der Vermarktung durch Gesundheitskonzerne zu verteidigen.

Being a Body and Having a Body - Background of the Medical Dualism

Psychosomatic medicine coincides with the detection that the medical crisis is a philosophical one as medicine prescribes single-track empirical models and concepts. To overcome this dualism of soul-less bodies and body-less souls is of utmost importance in order to gain an idea reflecting man and his body in the reality of their firsthood experiences, secondhood acts and treatments. In the realm of this reality we treat our bodies according to the reactions on warning signals of everyday life. Only if our secondhood possibilities fail we have to see a doctor. Thus it is the patient who gives the treatment order and nobody else. He delegates his secondhood possibilities to the physician. And the physician has to build up a communication enabling the construction of a mutual reality in which it becomes possible to reach the firsthood requirements of the patient via empathy. The medical crisis as a sign of the transition from industrial to communication society requires from us to transfer the idea of a body which can be interpreted and manipulated technically into an idea of the body as an open information system the basis of which is the relation among patient, physician and disturbance or in short: the patient-physician relationship. In the realm of this relationship the reality of medicine is emerging. Physicians therefore are called upon to defend the inseparable basis of their profession against expanding bureaucratisation and against marketing tendencies of health companies.

Literatur

  • 1 Lübbe S A. Die Ärzteschaft ist gefordert.  Deutsches Ärzteblatt. 5. November 1999;  96, Heft 44
  • 2 Plessner H. Die Frage nach der Conditio humana. Suhrkamp 1976: 140-141
  • 3 Stern D N. Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart; Klett-Cotta 1992
  • 4 v Bertalanffy L. General system theory. New York; 1968
  • 5 Piaget J. The affective and the cognitive unconscious.  Monographs of the Journal of the American Psychoanalytic Association. 1973;  21 249-261
  • 6 Piaget J. Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart; Klett 1969
  • 7 Otte R. Die Ordnungen des Leibes in der Aufklärung. Tübingen; Dissertation 1986
  • 8 v Uexküll J. Der Sinn des Lebens: Gedanken über die Aufgabe der Biologie, mitgeteilt in einer Interpretation der 1824 in Bonn gehaltenen Vorlesung des Johannes Müller: „Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung.” Verlag Helmut Küpper 1947
  • 9 Bernfeld S, Cassirer Bernfeld S. Bausteine der Freud-Biographik. Suhrkamp 1981: 62-63
  • 10 Huber E. Neu organisieren - das Gesundheitssystem reformieren. In: Wirsching M et al (Hrsg) Die Zukunft gestalten. Berlin; Springer 2000
  • 11 Cramer F. Gesundheit, Energie und Resonanz - ein Konzept der lebendigen Wechselwirkungen. In: Bartsch HH, Bengel J (Hrsg) Salutogenese in der Onkologie. Karger 1997
  • 12 Mead H G. Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp 1968
  • 13 Berger P L, Luckmann T. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt; 1969
  • 14 Christian P. Anthropologische Medizin. Berlin; Springer 1989
  • 15 Nöth W. Handbuch der Semiotik. Stuttgart; Metzler 1985
  • 16 Deacon T. The symbolic Species. New York, London; Norton 1997
  • 17 Balint M. Angstlust und Regression. Stuttgart; Klett 1959
  • 18 Auerbach C. Psychoanalysis and contemporary thought. 1999: 14
  • 19 Ogden T. Frühe Formen der Erfahrung. Berlin; Springer 1995
  • 20 Hess-Liebers W. Forum der Psychoanalyse. 1999
  • 21 Piaget J. Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Stuttgart; Klett 1975
  • 22 Balint M. Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart; Klett 1957

1 Diese Entscheidung ist noch eine Konsequenz der dualistischen Lehre Descartes, für den das Räumliche (die „res extensa”) die Realität des Körperlichen ist.

2 „Die Descartsche Konzeption steht in Verbindung mit theoretischen und praxisbezogenen Umbrüchen der Philosophie des 17. Jahrhunderts. Handwerker, Ingenieure, Mechaniker wurden zugunsten der tradierten Naturphilosophie, die nunmehr das Verdikt des akademisch Unproduktiven trifft, zu richtungweisenden Gesprächspartnern der Philosophie. Die Mechanik tritt das Erbe der Physik an … Natur und Technik werden kompatibel und ineinander übersetzbar. Galilei liest das Buch der Natur, das in mathematischen Symbolen abgefasst ist. Descartes schafft eine Grundlage methodischer Art, die Produktion und Quantifikation von Artefakten in eine allgemeine Naturphilosophie zu integrieren. Nur Gott ist unbedürftig, alles Weitere unterliegt der ,Herstellungsbedürftigkeit‘ ” [7].

3 M. Balint [17] hat diese frühe Welt eindrucksvoll als Welt der „primären Liebe” beschrieben. Neuere Konzepte der Gegenübertragung befassen sich mit diesem Bereich: C. Auerbach [18] spricht von „Intercorporalität”, Th. Ogden [19] von einer „autistisch berührenden Position”, W. Hess-Liebers [20] beschreibt „Erfahrungen mit Körper-Empathie”.

4 Kopernikanische Wende: Es entsteht ein Vorstellungsraum, in dem Vergangenheit gegenwärtig sein kann als Voraussetzung für Objekt-Konstanz=Überleben nicht-gegenwärtiger Dinge. Aus „böse Milch” kann „keine Milch” als „erster Gedanke” werden (Loch). Strukturierte Vergangenheit=Narrativität (Geschichte als ein „Zeit-Raum” mit Anfang und Ende).

Prof. Dr. med. Thure von Uexküll

Sonnhalde 15
79104 Freiburg

    >