Z Orthop Ihre Grenzgeb 2001; 139(4): 277-278
DOI: 10.1055/s-2001-16910
EDITORIAL

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

DRGs: Die Orthopädie zwischen Winkelmesser und „Casemix”

DRG’s: Orthopaedic surgery between protractor and case-mixF.  U. Niethard
  • Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik der RWTH, Aachen
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Publication Date:
04 September 2001 (online)

Die Zeitschrift für Orthopädie ist ein orthopädisch wissenschaftliches, nicht ein orthopädisch wirtschaftliches Journal. Themen der Finanzierung im Gesundheitssystem haben in dieser Zeitschrift bisher keine Rolle gespielt. Mit der Einführung der Australian Refind Diagnosis Related Groups (AR-DRGs) hat sich dies geändert. Bereits Anfang 2001 wurde in der „Orthopädie aktuell” zum ersten Mal über die DRGs für orthopädische und unfallchirurgische Kliniken berichtet (Kienapfel und Hinrichs, 2001). Nun erscheint eine weitere Arbeit im Originalienteil der Zeitschrift (Schmid und Hopf, 2001). Kann ein Abrechnungssystem so bedeutend sein, dass es in einer wissenschaftlichen Zeitschrift abgehandelt wird?

Offenbar ja, denn auch in anderen Zeitschriften, so z. B. in der Unfallchirurgie, wird über das neue pauschalierte Entgeltsystem diskutiert (Wilke et al, 2001). Grund ist wohl eine große Verunsicherung über die Bedeutung des Abrechnungssystemes für den Patienten, für die Qualität der Vesorgung und auch für den Bestand der Krankenhäuser und der Universitätsklinika. Immerhin hat die Unternehmensberatung Arthur Andersen geschätzt, dass mit dem neuen Abrechnungssystem bis zum Jahre 2015 30 % der Krankenhausbetten abgebaut werden müssen.

Die Kostenexplosion im Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland ist trotz zahlreicher (kleinerer) Maßnahmen nach wie vor ungebremst. Zwar schien die Deckelung der ambulanten Ausgaben zu einer Stabilisierung zu führen, die Kosten im Krankenhauswesen waren allerdings nach wie vor nicht überschaubar. Eine Budgetierung der Krankenhauskosten war daher naheliegend. In den meisten europäischen Ländern werden daher die DRGs zur Ermittlung der Krankenhausbudgets, nicht aber zur Abrechnung eingesetzt. „Die gründlichen Deutschen wagen jedoch erstmals den Versuch, das ganze Abrechnungssystem für Krankenhäuser (außer Psychiatrie) vollständig auf DRG umzustellen” (Albrecht, 2001). Ziel ist es, die Behandlungsqualität zu verbessern, aber gleichzeitig die Kosten zu dämpfen. Die in Winkelgraden und Prozentzahlen zu messende Qualität der orthopädischen Chirurgie soll steigen; das alles aber mit weniger Geld, unter Ausnutzung eines optimalen „case-mix”. Es ist nicht verwunderlich, wenn zahlreiche Stimmen das neue System für unausgegoren halten und Qualitätseinbrüche befürchten. Von einer „Industrialisierung der Patientenversorgung” (Jonitz) und „Ökonomisierung der Mitmenschlichkeit” (Gmelin, 2000) ist die Rede. „Der Kranke werde künftig zum abrechnungsfähigen Fall degradiert, es zähle lediglich der Vollzug der Behandlung. Danach werde er nach dem Motto „quicker and sicker” zwar schneller nach Hause geschickt, am Ende aber kränker sein” (Albrecht, 2001).

Werden sich die Unausgegorenheiten auch in der Orthopädie und Unfallchirurgie auswirken?Es ist zu befürchten: Albrecht zitiert in seinem lesenswerten Artikel in der Zeit den ärztlichen Direktor einer Diakonissen-Anstalt, der eine Einschränkung seines Operationsteams für Unfälle in der Nacht ankündigt: „Bei einem Operationsteam bekommen die Verletzten Schmerzmittel und müssen dann warten, bis sie dann dran sind”. Beobachtungen aus den USA zeigen, dass Kosteneinsparungen auf diesem Gebiet zu ganz erheblichen Auswirkungen auf die Versorgungqualität der Patienten führen. Es ist noch nicht solange her, dass die funktionelle Behandlung von Frakturen aus den USA importiert und in Deutschland zum Renner zu werden schien. Wer in dem großen County-Hospital in Los Angeles vorort war, weiß, dass die funktionelle Frakturenbehandlung einfach aus der Not entstand, die dort zu versorgende mittellose mexikanische und schwarze Bevölkerung nicht rund um die Uhr operieren zu können. Dementsprechend wurden selbst Patienten mit Schussbrüchen des Unterschenkels mit entlastenden Gipsen versorgt, erhielten Antibiotika und wurden nach Hause geschickt. Der Winkelmesser wurde bei der Qualitätskontrolle dieser Frakturbehandlung sicher nicht angelegt. Dies war dann auch dann Grund, warum sich diese Behandlung in der BRD nicht durchsetzen konnte.

Ein weiteres Beispiel mag illustrieren, was durch ein stringentes Kostensystem angestoßen werden kann. In Rehabilitationsabteilungen der USA wird man überproportional häufig Querschnittgelähmte ohne Beine antreffen. Diese Patienten sind nicht etwa Opfer eines schweren Verkehrsunfalles, sondern meist infolge von Schussverletzungen des Rückenmarkes querschnittgelähmt. Die Beine wurden Ihnen abgenommen, weil sie chronische Druckulcera über den Trochanteren entwickelten, deren Behandlung im amerikanischen System nicht mehr bezahlbar erscheint. Der Waagebalken zwischen Behandlungsqualität und Kostendämpfung kann sich also schnell zur ungünstigen Seite neigen.

Qualitätssicherung im engeren Sinne ist durch die DRGs auch bislang nicht zu erzielen. Gerade in der Orthopädie liegt der Schwerpunkt der Therapie weniger in raschen Lösungen als in langfristigen Erfolgen. Instrumente für die Ergebnisqualität sind noch gar nicht vorgesehen. Bei der zu erwartenden raschen Patientenabfolge im Krankenhaus werden die akuten Probleme wohl zunehmend in die ambulante Praxis verlagert. Dort ist man nicht durchgehend mit den modernen Behandlungsverfahren vertraut und auch dort gibt es Budgetierung. Der Patient muß also zurück ins Krankenhaus. Albrecht zitiert diesen „Drehtüreffekt” mit Erfahrungen aus den USA, wo das DRG-System 1967 erfunden wurde: „Metersky von der University of Connecticut veröffentlichte 2000 folgende Analyse: Zwischen 1992 und 1997 schrumpfte der durchschnittliche Krankenhausaufenthalt älterer Patienten mit Lungenentzündung von 11,9 auf 7,7 Tage; statt 14,1 % der Patienten (1992) verstarben nur noch 12 % (1997); die Behandlungskosten sanken von 9228,- auf 6897,-$. Scheinbar ein wunderbarer Erfolg des DRG-Systems. Allerdings: einen Monat nach der Entlassung waren ein Drittel der Patienten mehr als üblich zu Hause verstorben; fast die Hälfte mehr wurde direkt in ein Pflegeheim entlassen und ein Viertel mußte wegen eines Rückfalles wieder in ein Krankenhaus.”

In die gleiche Richtung gehen die Bedenken bezüglich der Auswirkungen der DRGs auf schwer Unfallverletzte, die Kinder- und Behindertenorthopädie. Die wissenschaftlichen Gesellschaften von Orthopädie (DGOOC) und Unfallchirurgie (DGU) unterstützen daher die Bestandsaufnahme an ausgewählten Kliniken, um die Abbildung orthopädischer Krankheitsbilder in dem bisher vorliegenden DRG-System zu überprüfen. Es ist sicher richtig, vor Hektik, blindem Aktionismus oder gar Verweigerung zu warnen (Wilke, 2001). Richtig ist aber auch, daß der Arzt die Interessen der Patienten im Auge behält und den ordnungsgemäßen Ablauf dieser gravierenden überprüft und in gegebenem Fall warnend den Finger hebt. So sind die Aktivitäten der Arbeitsgruppe „Infantile Cerebralparese” in der Sektion der Kinderorthopädie in der DGOOC zu verstehen, die in dem bisherigen System keine Möglichkeit sieht, die Versorgung für behinderte Kinder, speziell Kinder mit infantiler Cerebralparese zu gewährleisten (Manolikakis 2001).

„Das AR-DRG-System wird eingeführt. Notwendige Schritte zur Einführung des Systems sind erforderlich.” heißt es in dieser Ausgabe der Zeitschrift , (Schmid und Hopf, 2001). Schritte nämlich, um die Not zu wenden: die Not des Systems, die Not der Ärzteschaft und die Not des Patienten.

Literatur

  • 01 Albrecht  H. Kritik der reinen Pauschale.  Die Zeit, Nr. 22, 23.5.2001
  • 02 Gmelin  B. Die Ökonomisierung der Mitmenschlichkeit.  Dtsch. Ärzteblatt. 2000;  97 A1659-1664
  • 03 Jonitz  G. zit. N. Albrecht. 
  • 04 Kienapfel  H, Hinrichs  F. Das pauschalierte Entgeltsystem auf der Basis der Australian Refind Diagnosis Related Groups (AR-DRGs) für orthopädische und unfallchirurgische Kliniken.  Z Orthop. 2001;  139 M2-M10
  • 05 Manolikakis  G. Stellungnahme zur Einführung der DRGs als Grundlage der Krankenhausfinanzierung.  Bericht der Arbeitsgruppe „Infantile Cerebralparese” in der Sektion Kinderorthopädie der DGOOC, Baden-Baden; 2001
  • 06 Schmid  M, Hopf  C. Notwendige Schritte zur Einführung des AR-DRG-Systems.  Z Orthop. 2001;  139 279-286
  • 07 Wilke  M H. DRGEnde oder Anfang für deutsche Krankenhäuser?.  Unfallchirurg. 2001;  104 371
  • 08 Wilke  M H, Höcherl  E, Scherer  J, Janke  L. Die Einführung des neuen DRG-basierten Entgeltsystems in deutschen Krankenhäusereine schwierige Operation?.  Unfallchirurg. 2001;  104 372-379

Prof. Dr. med. Fritz Niethard

Orthopädische Klinik
RWTH Aachen

Pauwelsstraße 30

52074 Aachen

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