Z Orthop Ihre Grenzgeb 2001; 139(5): 373-374
DOI: 10.1055/s-2001-17976
EDITORIAL

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

100 Jahre Orthopädie in Deutschland

100 Years of Orthopaedics in GermanyH.  W.  Neumann
  • Magdeburg
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Publication Date:
22 October 2001 (online)

In diesem Jahr begehen wir den 100. Geburtstag der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Deutschen Orthopäden und den 50. Jahrestag der Gründung des Berufsverbandes der deutschen Orthopäden.

Ein Höhepunkt in dessen Rahmen diese beiden Jubiläen begangen werden, ist dabei sicher der Deutsche Orthopädenkongress vom 3.6. 10. 2001 in Berlin. Durch das wissenschaftliche Hauptthema des Kongresses „Schultergürtel und Schulter”, wird ein Gelenk in den Mittelpunkt gestellt, das vor 30 Jahren im Behandlungsspektrum einer orthopädischen Klinik und einer orthopädischen Praxis nur eine geringe Rolle gespielt hat und heute aus unserem Arbeitsspektrum praktisch nicht mehr wegzudenken ist. Darüber hinaus ist das Schultergelenk sowohl für die moderne Orthopädie als auch für die Unfallchirurgie von gemeinsamem Interesse, weil die Verletzungsfolgen wesentlich häufiger Behandlungen notwendig machen als angeborene oder erworbene Erkrankungen. Die Wahl dieses Hauptthemas kann so sicherlich auch Sinnbild einer zunehmenden Integration und Verschmelzung der Gebiete Orthopädie und Unfallchirurgie sein.

Den Geist des Kongresses soll aber insbesondere auch die Einheit des Fachgebietes Orthopädie darstellen. Die Tatsache, dass die niedergelassenen Kollegen, vornehmlich organisiert im Berufsverband und die klinisch tätigen Kollegen, vornehmlich in der DGOOC organisiert, gemeinsam dieses Jubiläum begehen, ist im Laufe der letzten 50 Jahre nicht immer so selbstverständlich gewesen wie heute. Die Erkenntnis, dass Einigkeit stärkt, ist sehr alt, das Praktizieren ist jedoch wesentlich schwieriger. Umso erfreulicher ist es, dass es im zurückliegenden Jahrzehnt über die Bildung der Allianz der Orthopäden, einer Dachgesellschaft beider Verbände, zu einer immer stärkeren Annäherung der beiden Vereinigungen gekommen ist.

Im letzten Jahr wurde von der DGOOC und dem BVO die Akademie Deutscher Orthopäden gebildet, die sich im Wesentlichen in die Weiterbildung einbringen soll und es damit unnötig macht, dass dieses von außen gesteuert und kontrolliert wird. In diesem Sinne gibt es nun auch bereits 8 Jahre einen gemeinsamen Kongress, zuvor veranstaltete der Berufsverband einen Weiterbildungskongress und die DGOT einen wissenschaftlichen Kongress. Die bewährte Verbindung von Weiterbildungselementen und der Diskussion wissenschaftlicher Fragestellungen soll dabei auch im diesjährigen Kongress weiter gestärkt werden.

Neben dem fachlichen Aspekt steht sowohl dieser Kongress aber auch das gesamte Jubiläumsjahr sicherlich unter dem Zeichen der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Orthopädie in den zurückliegenden 100 Jahren. Aus diesem Anlass haben wir auch die Oktoberausgabe der Zeitschrift „Der Orthopäde” einem ausführlichen geschichtlichen Rückblick gewidmet.

Wie wechselvoll die Geschichte der deutschen Orthopädie war, zeigt sich nicht zuletzt auch im Namen ihrer wissenschaftlichen Gesellschaft: zunächst als Deutsche Gesellschaft für Orthopädische Chirurgie 1901 gegründet und 1913 in Deutsche Orthopädische Gesellschaft umbenannt, wurde ihr Name nach vielen Diskussionen im Jahre 1968 in Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie geändert. Seit wenigen Wochen heißt sie nun deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) [1].

Als sich die Orthopädie Anfang des Ende des 19. Jahrhunderts begann, wie viele andere Fachbereiche auch, aus der Chirurgie zu entwickeln, waren es zunächst einmal sozial engagierte Chirurgen, die sich einerseits der Knochen- und Gelenkchirurgie verschrieben hatten, die aber andererseits auch auf die Not und besonderen Behandlungsbedürfnisse von Kindern mit angeborenen und erworbenen Erkrankungen aufmerksam machten und deren bestmögliche Behandlung erforschen und praktizieren wollten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Not zahlreicher Kinder und deren Familien mit angeborenen oder auch erworbenen Fehlbildungen im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates immer offensichtlicher geworden, und so war in den Jahren vor der Gründung der Gesellschaft die Entstehung vieler Krankenanstalten und Heime, wie das Oberlin-Krankenhauses, des Annastiftes, der Pfeifferschen Stiftungen u.v.a., vorausgegangen, die diese Bedürftigen betreuten und in denen die dort tätigen Kollegen letztendlich mit einen wesentlichen Grundstein für die moderne Orthopädie legten. Neben diesen Kollegen gab es Ärzte, wie den im letzten Heft der „orthopädischen Mitteilungen” besonders hervorgehobenen Kollegen Dr. Schreber, die versuchten, auf die soziale Lage der Kinder und deren Lebensbedingungen in den Familien positiven Einfluss zu nehmenein Vorhaben, das auch heute noch ein hervorragendes Ziel dieses Fachgebietes darstellt und das immer die Prophylaxe orthopädischer Erkrankungen einschließt.

Die nach dem 1. Weltkrieg notwendige und einsetzende Kriegsopferfürsorge führte sowohl der Öffentlichkeit als auch dem Staat die Notwendigkeit einer Friedenskrüppelfürsorge in ihrer sozialen und ökonomischen Tragweite vor Augen. Dabei brachte das auf Vorschlag des Düsseldorfer Pädiaters Artur Schloßmann durch die preußische Landtagstagung am 6. 5. 1922 angenommene Preußische Krüppelfürsorgegesetz einen eindeutigen Aufschwung in der Bedeutung der Orthopädie. Auf der anderen Seite standen nach dem nun folgenden raschen Ausbau der orthopädischen Kliniken und Heime schon Mitte der 20er Jahre dann mehr Betten zur Verfügung als benötigt wurden, so dass ein Teil dieser Krüppelheime nicht voll ausgelastet war. Darüber hinaus wurden Kinder teilweise heute kaum vorstellbar bei Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates langfristig, manchmal sogar jahrelang in diesen Krüppelheimen untergebracht, was in der Notsituation der frühen 20er Jahre kaum bezahlbar war. Dies führte Ende der 20er Jahre dazu, dass die Notwendigkeit der Anstaltsunterbringung zunehmend hinterfragt wurde.

Auch wenn die bereits Anfang des Jahrhunderts vorhandene Trennung der Behinderten in „wertvolle” und „minderwertige” Behinderte einer weit verbreiteten Einstellung auch z. T. unter Orthopäden entsprach, die retrospektiv sicher primär nicht als Zustimmung zur Vernichtung gedeutet werden darf, wurde dieser Gedanke dann jedoch von den Nationalsozialisten aufgegriffen und gipfelte in der Forderung nach Zwangssterilisation von Betroffenen. Gerade deshalb führten zahlreiche Kollegen intensive Untersuchungen der Ursachen von Fehlbildungen des Stütz- und Bewegungsapparates wie der Hüftluxation oder des Klumpfußes durch und konnten exogene Faktoren für diese Krankheiten nachweisen. So erreichten diese Kollegen, dass diese Erkrankungen nicht auf den Index der Sterilisation gesetzt wurden und stellten sich damit schützend vor ihre Patienten. Letztendlich zeigt dieser Zeitabschnitt so auch, dass sich in dieser ausgesprochen schwierigen Situation des Dritten Reiches die Mehrzahl der Mitglieder unserer Gesellschaft bewährt haben. Auch die teilweise erfolgreichen Versuche, politisch gemäßigten Orthopäden die Leitung der Gesellschaft in den Jahren des Nationalsozialismus zu übertragen, lässt uns mit einem gesunden Maß an Stolz auf die Arbeit der Gesellschaft zurückblicken.

Im weiteren Verlauf der Geschichte wurde nicht nur Deutschland geteilt, sondern auch unsere Berufsgruppe. In beiden Teilen Deutschlands wurde in zwei getrennten Gesellschaften die wissenschaftliche Arbeit wieder aufgenommen und fortgeführt. Diese waren unabhängig von dem vorherrschenden Gesellschaftssystem mit dem Wiederaufbau und der Belebung unseres Fachgebietes befasst. Dabei stellten die schwierigen materiellen und politischen Bedingungen in der DDR eine besondere Herausforderung für die dort tätigen Kollegen dar. Nach den für beide Seiten schwierigen Jahren der Teilung gibt es nun seit dem Zusammenbruch der DDR wieder eine einzige deutsche wissenschaftliche Gesellschaft.

In den zurückliegenden 100 Jahren hat sich die Gesellschaft neben diesen von unserem Fachgebiet so entscheidenden wissenschaftspolitischen und sozialpolitischen Fragen natürlich in erster Linie auch dem wissenschaftlichen Fortschritt verschrieben. Dabei entwickelte sich die Orthopädie zu einem Fachgebiet, in dem neben konservativer Therapie zunehmend operative Vefahren an Bedeutung gewonnen haben. Neben modernen technischen apparativen Möglichkeiten und anspruchsvollen Forschungsvorhaben in den Kliniken haben die niedergelassenen Orthopäden eines der fachlich effizientesten ambulanten Behandlungssysteme der Welt entwickelt. Auch der Aufschwung des gesamten Bereiches der Leistungs- und Rehabilitationsmedizin kann als beispielhaft gelten.

Insgesamt spiegelt sich das hohe Niveau von Diagnostik, Therapie und Forschung in der deutschen Orthopädie heute auch darin wider, dass für den diesjährigen Jubiläumskongress mehr als 1000 wissenschaftliche Beiträge angemeldet worden sind. Sowohl das aus diesen Beiträgen zusammengestellte wissenschaftliche Programm als auch das breite Spektrum an Fortbildungsveranstaltungen lassen hoffen, dass es ein fachlich interessanter Kongress wird, der sowohl das breite Spektrum orthopädischer Tätigkeit widerspiegelt und Anlass zum regen Meinungsaustausch gibt, als auch der historischen Bedeutung des Kongresses Rechnung trägt und Gelegenheit zu einem gemeinsamen geschichtlichen Rückblick bietet. Dazu so hoffe ich trägt auch Berlin als äußerst attraktive und geschichtsträchtige Stadt bei.

Literatur

  • 01 Niethard  F U. DRGs: Die Orthopädie zwischen Winkelmesser und „Casemix”.  Z Orthop. 2001;  139 277-278

Prof. Dr. med. H. W. Neumann

Orthopädische Univ.-Klinik
Otto-von-Guericke-Universität

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

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