Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(12): 605
DOI: 10.1055/s-2002-22665
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Adipositastherapie in der Praxis - notwendiger denn je

Treatment of obesity in practice - more necessary than ever
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Publication Date:
21 March 2002 (online)

Übergewicht und Adipositas sind inzwischen in Industrieländern wie Deutschland epidemisch verbreitet. Allein in den letzten 10 Jahren hat die Anzahl der Betroffenen um ca. 50 % zugenommen, bei Kindern und Jugendlichen wurde sie gar verdoppelt. Nur noch ein Drittel unserer Bevölkerung hat ein gesundheitlich wünschenswertes Gewicht.

Die gesundheitspolitischen Folgen der Adipositas sind immens. Was die organmedizinischen Folgen betrifft, ist die Adipositas vorwiegend ein Promotor für weitere Krankheiten. Adipöse haben nicht nur häufiger kardiovaskuläre Risikofaktoren, wie Hypertonie, Diabetes und Fettstoffwechselstörungen, sondern auch gynäkologische Probleme (Harninkontinenz, Infertilität, Geburtskomplikationen), orthopädische Krankheiten (Gonarthrosen, Wirbelsäulensyndrome usw.) und Karzinome [2]. Die Adipositas induziert jedoch nicht nur andere Krankheiten, sie ist allein aufgrund der hohen Fettakkumulation ein eigenständiger Krankheitsfaktor. Erst in den 90er-Jahren wurde erforscht, dass das Fettgewebe Hormone, Zytokine und andere Substanzen produziert, die in den Intermediärstoffwechsel eingreifen und vielfältige Körperfunktionen verändern. Die Adipositas stellt sich demnach als eine komplexe Krankheit mit vielfältigen Auswirkungen - direkten und indirekten - dar.

Die hohe Prävalenz der Adipositas und ihre Krankheitspotenz erklären, weshalb die Adipositas inzwischen auch gesundheitsökonomisch zu einem Faktor ersten Ranges geworden ist. Berechnungen aus epidemiologischen Studien belegen, dass die Adipositas ebenso hohe Kosten verursacht wie der Diabetes mellitus und mehr als die koronare Herzkrankheit.

Beim Vergleich mit dem Diabetes und der koronaren Herzkrankheit wird deutlich, dass die Therapie der Adipositas in Deutschland einen ganz anderen Stellenwert hat als die der anderen beiden Krankheiten. Wie kommt es z. B., dass die Kosten für die Adipositastherapie - sei sie nicht-medikamentös oder medikamentös - nicht erstattet wird und viele Ärzte glauben, die Adipositas brauche oder könne man nicht behandeln?

Wenngleich die oben gemachten Ausführungen dafür sprechen, die Adipositas als eine Krankheit zu betrachten und die WHO sie auch als Krankheit anerkannt hat, herrscht bei uns vielfach noch die Meinung vor, die Adipositas sei keine Krankheit; folglich müsse man sie auch nicht behandeln. Die Adipositas ist zu ca. 60 % vererbt, stärker als die Hypertonie und ähnlich wie der Typ-2-Diabetes. Fast alle Adipösen weisen eine genetische Prädisposition zu dieser Krankheit auf. Normalgewichtig bzw. schlank ist in unserer Gesellschaft meist nur noch, wer eine genetische Veranlagung zum hohen Energieverbrauch hat oder sich Einschränkungen beim Essen und Essverhalten auferlegt - wie viele Frauen. Hinsichtlich der Therapie geht es demzufolge bei den meisten Adipösen nicht um die Korrektur eines Fehlverhaltens, sondern um die Schaffung eines Energiedefizits bei anlagebedingtem geringem Energieverbrauch. Nicht alle, aber fast alle Adipösen, müssen zur Gewichtsreduktion einen Lebensstil einhalten, der von dem der Allgemeinbevölkerung abweicht; welch eine Anforderung!

Diese Ausführungen verdeutlichen, wie eingreifend eine Lebensstiländerung zur erfolgreichen und langfristigen Gewichtsreduktion durchgeführt werden muss. Da viele, ja die meisten Adipösen an diesen Anforderungen scheitern, muss auch eine pharmakologische Intervention in Erwägung gezogen werden. Alle Fachgesellschaften einschließlich der WHO empfehlen Pharmaka zur Gewichtsreduktion, wenn der »body mass index« ( = BMI) 30 kg/m 2 übersteigt, oder wenn ab einem BMI von 27 kg/m 2 Folgekrankheiten der Adipositas vorliegen [4].

Anti-Adiposita sind einer Lebensstiländerung langfristig bezüglich des Effektes überlegen. In Frage kommen in Deutschland nur zwei Substanzen, Orlistat (Xenical®) und Sibutramin (Reductil®). Orlistat ist bei Patienten mit hohem Fettkonsum hilfreich, Sibutramin verstärkt die Sättigung durch eine Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin und Serotonin. Die hiermit erzielte Gewichtsreduktion ist sehr effektiv und sicher -auch bei intermittierender Gabe z. B. von Sibutramin [3].

In der in diesem Heft von Scholze vorgestellten Studie an 6360 Adipösen nahmen die Patienten mit Sibutramin 10  kg innerhalb von 12 Wochen ab. Es handelt sich nicht um eine klinische Studie mit einer Patientenselektion, sondern um eine so genannte »Post-Marketing-Surveillance-Studie«, wie sie vom Gesetzgeber verlangt wird, um die Anwendung unter den Bedingungen in der Praxis des niedergelassenen Arztes zu untersuchen. Wie man sieht, wird unter medikamentöser Unterstützung nicht nur das Gewicht deutlich reduziert, es werden auch alle kardiovaskulären Risikofaktoren einschließlich der Hypertonie gebessert. Für die Hypertonie war dies bisher nur in einer kleinen Pilotstudie in kleinerem Umfang gezeigt worden [1].

Sinnvollerweise sollte die medikamentöse Therapie in ein Schulungsprogramm eingebunden sein, um eine Ernährungsumstellung, eine Änderung des Essverhaltens und vermehrte körperliche Aktivität zu vermitteln. Wer so vorgeht, wird feststellen, dass die Therapieerfolge bei der Adipositas ähnlich sind wie bei anderen chronischen Krankheiten.

Literatur

  • 1 Hazenberg B P. Randomized, double-blind, Placebo-controlled, multicenter study of sibutramine on obese hypertensive patients.  Cardiology. 2000;  94 152-158
  • 2 National Tasc Force on the Prevention and Treatment of Obesity . Overweight, obesity, and health risk.  Arch Intern Med. 2000;  160 898-904
  • 3 Wirth A, Krause J. Long-term weight loss with sibutramine: a randomized controlled trial.  JAMA. 2001;  286 1331-1339
  • 4 Yanovski S Z, Yanovski J A. Drug Therapy: Obesity.  N Engl J Med. 2002;  346 591-602

Prof. Dr. med. Alfred Wirth

Teutoburger Waldklinik

Teutoburger-Wald-Straße 33

49214 Bad Rothenfelde

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