Laryngorhinootologie 2002; 81(S1): 39-60
DOI: 10.1055/s-2002-25046
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wachstumsfaktoren in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde

O.  Guntinas-Lichius1
  • 1HNO-Klinik, Universität zu Köln
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Publication Date:
12 April 2002 (online)

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1 Einleitung

In allen multizellulären Organismen wird die interzelluläre Interaktion durch Wachstumsfaktoren kontrolliert und gesteuert. Seit der Entdeckung des nerve growth factor (NGF) [104] ist eine bemerkenswerte Vielzahl von Wachstumsfaktoren entdeckt worden, welche die Zellproliferation, das Zellwachstum und die Zelldifferenzierung beeinflussen. Wachstumsfaktoren (growth factors) sind polypeptide Signalmoleküle, die an spezifische, membran-gebundene Rezeptoren binden und diese aktivieren. Diese Interaktion löst eine intrazelluläre Signalkaskade aus, die schließlich die Genexpression und Zellzyklusprogression regelt. Abhängig vom jeweiligen Rezeptor und vom zellulären Kontext, in dem die Zielzelle während des Stimulus durch den Wachstumsfaktor steht, wirken die Wachstumsfaktoren entweder mitogen und trophisch oder anti-mitogen und anti-proliferativ. Wachstumsfaktoren wirken nur in der G0- und in der G1-Phase (also vor der DNA-Synthese) auf den Zellzyklus (Abb. [1]). Die Wachstumsfaktoren führen die Zelle durch die G1-Phase bis zum Restriktionspunkt (und wirken dann mitogen) oder blockieren den Zellzyklus in der G1-Phase. Danach läuft der weitere Zellzyklus irreversibel ohne weiteren Einfluss extrinsischer Signale ab [130].

Abb. 1 Der eukaryotische Zellzyklus. Die Zelle wächst in der G1-Phase, die Chromosomen werden dupliziert in der S-Phase, die Zelle wächst und bereitet die Zellteilung in der G2-Phase vor. Die Teilung folgt in der M-Phase. Wachstumsfaktoren wirken entweder mitogen, indem sie die Zelle irreversibel durch die G1-Phase bis zum Restriktionspunkt führen, oder anti-mitogen, wenn sie den Zellzyklus in der G1-Phase blockieren.

Tab. 1 Übersicht über Wachstumsfaktoren und ihre Rezeptoren, die für die HNO-Heilkunde von Bedeutung sind VEGF TGF-β Neurotrophine Insulin EGF PDGF FGF VEGF (VEGF-A)VEGF-BVEGF-CVEGF-CVEGF-DPlacenta growth factorVEGF-like protein des orf Virus TGF-β1TGF-β2TGF-β3TGF-β5*BMP-2BMP-4BMP-6GDNFActivinInhibinNodalPTGF NGFBDNFNT-3NT-4/5 InsulinIGF-IIGF-II EGFTGFα PDGF-APDGF-BPDGF-CPDGF-D FGF-1 (aFGF)FGF-2 (bFGF)FGF-3 (int2)FGF-4 (Kaposi-FGF)FGF-5FGF-6FGF-7 (KGF)FGF-8 (AIGF)FGF-9 (GAF)FGF-10 Rezeptoren VEGFR-1 (Flt-1)VEGFR-2 (Flk-1/KDR)VEGFR-3 (Flt-4) TβR-ITβR-IITβR-IIIACTR-IACTR-IIBMPR-IBMPR-IIGDNFα-1 TrkATrkBTrkCp75 IRIGF-I-RezeptorIGF-II-Rezeptor EGFR = ErbB2 (HER2) PDGFR-αPDGFR-β FGFR-1 (Flg)FGFR-2 (KGFR, Bek)FGFR-3FGFR-4 * Expression nur in Kaltblütern nachgewiesen, bei Applikation im Säugetier wirksam

Um ihre Wirkung zu entfalten, binden die einzelnen Wachstumsfaktoren zunächst extrazellulär an spezifische Rezeptoren der Zellmembran, in der Regel Rezeptorkinasen, die nach Bindung des Wachstumsfaktors phosphoryliert werden (Abb. [2]). Diese Autophosphorylierung führt bei den meisten Wachstumsfaktoren zu einer Homodimerisation oder Oligomerisation des Rezeptors [54]. Wenige Wachstumsfaktoren, wie zum Beispiel der epidermal growth factor (EGF), wirken auch als Monomer. Die Rezeptor-Homodimerization aktiviert intrazellulär spezifische Effektoren dieser Kinasen (auch downstream effectors oder second messenger genannt) [8] [112]. Diese Effektoren können dann in den Zellkern translozieren und die eigentliche Gentranskription über die Transkriptionsfaktoren wie myc, jun oder fos auslösen (siehe auch Abb. [7]). Der häufigste und am besten untersuchte Signalweg sei beispielhaft genannt: Der durch den Wachstumsfaktor aktivierte Wachstumshormonrezeptor aktiviert das RAS-Protein (inaktiv mit GDP-Bindung), indem es die Phosphorylierung von GDP zu GTP an RAS induziert. RAS wiederum aktiviert das RAF-Protein und diverse Mitglieder der MAP-Kinase Familie, die letztlich die Genreplikation im Zellkern auslösen [26]. Ein insbesondere auch bei Tumoren wichtiger Signalweg läuft über die Aktivierung der Phospoinositid-spezifischen Phospholipase C, die Phosphatidylinositol-4,5-Biphosphat (PIP2) hydrolisiert und so die second messenger Inositol-1,4,5-Triphosphat (IP-3) und Diacylglycerol (DAG) generiert. Diese wiederum aktivieren die Proteinkinase C (PKC), die letztendlich die Signalkaskade bis zur nukleären Gentranskription auslöst [83].

Abb. 2 Der Wirkmechanismus von Wachstumsfaktoren (WF). Der Wachstumsfaktor bindet extrazellulär an seinen Rezeptor, in der Regel eine Tyrosin- oder Serin/Threonin-Kinase. Der Rezeptor wird intrazellulär phosphoryliert und dann meistens über eine Homo- oder Oligomerisation aktiviert. Über eine Kaskade verschiedener second messenger Systeme (Effektoren) wird die intranukleäre Gentranskription ausgelöst. Da die Wachstumsfaktoren ihre Wirkung extrazellulär entfalten, ist eine therapeutische Blockade oder Aktivierung einfach möglich.

Abb. 3 Ähnliche Interaktion zwischen Neuronen im Innenohr (A, B) und zwischen Neuron und Zielmuskulatur im peripheren Nerv (C, D, E) durch Wachstumsfaktoren. A Im normalen Innenohr werden in den Sinneszellen (N2) Wachstumsfaktoren produziert und teilweise auch in den Spiralganglienzellen (N1). Die Sinneszellen N2 versorgen anterograd die Spiralganglienzellen mit trophen Faktoren. B Bei einer Schädigung der Sinneszellen des Innenohrs N2 werden durch die gestörte Versorgung mit Wachstumsfaktoren auch die Spiralganglienzellen N1 geschädigt. Durch die lokale Applikation von Wachstumsfaktoren (WF) werden nicht nur die Sinneszellen N2, sondern auch indirekt die Zellen N1 am Leben erhalten. C Ähnliche Beziehung zwischen peripherem Neuron (N) und Zielmuskulatur (M). In der Normalsituation werden die Wachstumsfaktoren (WF) von der Zielmuskulatur produziert und retrograd in die zugehörigen Neurone transportiert. D Nach Nervenläsion werden die Neurone nicht mehr durch die Zielmuskulatur versorgt. Bis ein neuer Axonkontakt zur Zielmuskulatur hergestellt ist, werden die Wachstumsfaktoren von den aktivierten Schwannzellen (SZ) produziert. Diese Faktoren dienen autokrin der weiteren Produktion durch die Schwannzellen selbst und retrograd zum Erhalt des verletzten Neurons N. Unmittelbar an den growth cones der regenerierenden Axone bewirken die Wachstumsfaktoren ein Axonsprouting. E Dieses funktionell schädliche Sprouting kann durch lokale Applikation von bestimmten Antikörpern gegen Wachstumsfaktoren (Anti-WF) vermindert werden.

Generell können die meisten Wachstumsfaktoren, ähnlich den Hormonen, autokrin wirken, wenn der Faktor von ein und der derselben Zelle ausgeschüttet und über den spezifischen Rezeptor selbst wieder gebunden wird. Werden benachbarte Zellen aktiviert, spricht man von einer parakrinen Wirkung und bei einer Fernwirkung von einem endokrinen Mechanismus [83]. Wachstumsfaktoren finden sich in allen Geweben, in denen Zellteilung stattfindet, sei es während der Ontogenese, der Gewebserneuerung im adulten Stadium, bei Gewebsverletzungen und natürlich auch bei pathologischen Zellteilungen, also bei der Entstehung und Proliferation von Tumorgewebe. Daher ist es naheliegend, Wachstumsfaktoren auch therapeutisch zu nutzen, sei es zur Förderung des Gewebsersatzes oder im umgekehrten Sinne durch Faktoren, die gegen Wachstumsfaktoren wirken, Tumoren zu bekämpfen. Das Wissen um Wachstumsfaktoren, ihre Wirkung und ihre therapeutische Nutzbarkeit wächst von Jahr zu Jahr dramatisch. Immer mehr alternative Signalwege und weitere Funktionen (dies gilt insbesondere für die Neurotrophine unter den Wachstumsfaktoren) werden bekannt. Neuere In-vivo-Experimente mit Wachstumsfaktoren und auch einige klinische Untersuchungen haben anderseits in einigen Teilbereichen enttäuschenderweise die mit Euphorie begleiteten In-vitro-Experimente nicht bestätigen können [76].

In dem vorliegenden Referat wird im Einzelnen so weit auf die Funktionen der Wachstumsfaktoren eingegangen, wie sie für die HNO-Heilkunde von Bedeutung sind. Die Wichtigkeit der Wachstumsfaktoren kommt auch darin zum Ausdruck, dass es seit 1989 die Zeitschrift „Growth factors” gibt, die sich allein mit der vielfältigen Wirkung dieser Faktoren beschäftigt.

In der vorliegenden Arbeit kann und soll keine enzyklopädische Auflistung aller Wachstumsfaktoren erfolgen. Es werden schwerpunktmäßig die Wachstumsfaktoren referiert, die zukünftig Erfolg versprechend für eine Anwendung am Patienten erscheinen (Übersicht in Tab. [1]). Natürlich weisen auch noch viele weitere Faktoren wie die Interleukine, diverse Chemokine und andere Substanzen wachstumsfördernde Eigenschaften auf. Aus Platzgründen beschränkt sich dieses Referat auf die Wachstumsfaktoren im engeren Sinne, also auf die, die zunächst über ihre wachstumsfördernden Eigenschaften charakterisiert wurden und daher das Wort „Wachstumsfaktor” im Namen tragen.

Tab. 2 Applikationswege von Wachstumsfaktoren in das Innenohr Art Vorteile Nachteile systemisch einfache Applikation nur geringe Bioverfügbarkeit in der Perilymphe lokal - in das Mittelohr einfache Applikation ungenaue Dosierung, wiederholte Applikation ggf. notwendig lokal - Katheter in die Cochlea genau dosierte Applikation möglich Verletzungsmöglichkeit, Infektionsgefahr lokal - viraler Gentransfer Faktorproduktion durch die Zielzellen selbst Immunreaktion möglich, Infektionsmöglichkeit unklar

9 Literatur

Priv.-Doz. Dr. med. Orlando Guntinas-Lichius

HNO-Klinik · Universität zu Köln ·

Joseph-Stelzmann-Strasse 9 · 50924 Köln

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