Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund der internationalen Vergleichsstudie PISA, die neben den unbefriedigenden
Leseleistungen vor allem der schwächeren deutschen SchülerInnen die gewachsenen Erwartungen
bezüglich schriftsprachlicher Anforderungen über den engeren Bereich des Lesens und
Schreibens im Deutschunterricht hinaus deutlich machen, wird die Notwendigkeit theoretisch-konzeptioneller
Grundlagen für eine kompensatorisch-alternative Förderpraxis für den Schriftspracherwerb
hochgradig hörgeschädigter Kinder diskutiert. Ausgangspunkt ist der paradox wirkende
Tatbestand, dass es unter der Dominanz des Methodenstreits trotz wiederholter empirischer
Belege für besondere Schwierigkeiten hochgradig hörgeschädigter Kinder mit dem Schriftspracherwerb
einerseits und im Kontrast dazu für erfolgreiche Schriftsprachkarrieren andererseits
eine hörgeschädigtenpädagogisch spezifische Theorie und davon abgeleiteter Förderpraxis
der Aneignung und Ausdifferenzierung des Schriftspracherwerbs nicht gibt. Den unter
sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen entstandenen erfolgreichen schriftsprachlichen
Entwicklungen hochgradig Hörgeschädigter lässt sich jedoch entnehmen, dass sie u.
a. auf einer „relativen Autonomie der Schriftsprache” beruhen, die es ermöglicht,
Lesen und Schreiben auch ohne lautsprachliche Mediation zu erwerben. Zur Erklärung
eines solchen von lautsprachlichen Fähigkeiten unabhängigen Erwerbs der Verbalsprache
über die Schrift wird auf das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs von Frith und
Günther zurückgegriffen und darauf bezogen eine Modellierung der Strukturen, Verarbeitungsprozesse
und Tätigkeiten beim Wortlese- und Schreiberwerb mit dem Ergebnis vorgenommen, dass
es zwei grundsätzlich differierende Wege gibt, nämlich einen phonemischen und einen
graphemischen. Aufgrund ihrer stark eingeschränkten sprachlich-auditiven Möglichkeiten
ist der phonemische Weg für hochgradig hörgeschädigte Kinder nur eingeschränkt oder
gar nicht zugänglich, während der graphemische Zugang bei einem darauf ausgerichteten
Förderkonzept alternativ-kompensatorische Erwerbsmöglichkeiten bietet.
Abstract
The international comparative study PISA showed unsatisfactory reading achievements
mainly in less accomplished German students in contrast to higher expectations concerning
the written language that go beyond simple reading and writing. On this background
the necessity of a conceptional base for the promotion of these skills in high degree
hearing impared children is discussed. Starting point is the paradoxon that there
is no specific theory and method for the acquirement and differentiation of written
language for the hearing impaired even though there is ample proof that this group
of children have massive problems in learning written language. One reason for this
is the dominating discussion as to which method is the best. There is a clear indication
that the acquirement of written language is even possible without the mediation of
the spoken word, i. e. that there is a certain autonomy of written language. This
can be explained by assuming that there are two basically different ways of acquiring
reading and writing skills, one being phonemic and the other being graphemic. Based
on the step by step model of acquirement of written language by Frith and Günther
it is shown how written language can be learned without hearing spoken language. Because
of their drastically reduced auditory abilities the phonemic approach is not feasible
for high degree hearing impaired children, while the graphemic approach can yield
promising results if used in a special promotional setting.
Schlüsselwörter
Hochgradig hörgeschädigte Kinder - Schriftspracherwerb - Stufenmodell des Schriftspracherwerbs
- relative Autonomie der Schriftsprache
Key words
High Degree Hearing Impaired Children - Acquirement of Written Language - Step by
Step Model of Acquirement of Written Language - Relative Autonomy of Written Language
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1 Bei den nicht zuordbaren [vgl. 1, 80], aber ebenfalls verbalsprachlich schwachen
Fälle handelt es sich besonders um Kinder aus Familien mit anderen Muttersprachen.
2 Nicht eingegangen wird in diesem Rahmen auf die anderen Gruppen neurogen lerngestörter
hörgeschädigter Kinder, von denen in der Würzburger Untersuchung 17 % eine mentale
Repräsentationsschwäche und etwa ein Drittel hypermotorische Störungsmerkmale zeigten,
weil die diagnostisch erfassten visuellen Kompensationspotenziale bei ihnen nicht
so ausgeprägt und widerspruchsfrei wie bei den dyspraktischen Kindern sind und es
ausführlicher Erläuterungen bedürfte, warum u. E. das scheinbar inkonsistentere Bild
kompensatorischer Funktionspotenziale eher auf Artefakte der diagnostischen Operationalisierungen
beruht.
Prof. Dr. Klaus-B. Günther
Institut für Behindertenpädagogik
Universität Hamburg
Sedanstr. 19
20146 Hamburg.