Sprache · Stimme · Gehör 2002; 26(2): 71-79
DOI: 10.1055/s-2002-32295
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erwerb und Ausdifferenzierung der Schriftsprache bei hochgradig hörgeschädigten Kindern - Theoretisch-konzeptionelle Grundlagen für eine kompensatorisch-alternative Förderpraxis

Acquirement and Differentiation of Written Language in High Degree Hearing Impaired Children Theory and Conceptional Base for Compensative-Alternative Promotion TechniquesKlaus-B. Günther1
  • 1Institut für Behindertenpädagogik, Universität Hamburg
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Publication Date:
18 June 2002 (online)

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der internationalen Vergleichsstudie PISA, die neben den unbefriedigenden Leseleistungen vor allem der schwächeren deutschen SchülerInnen die gewachsenen Erwartungen bezüglich schriftsprachlicher Anforderungen über den engeren Bereich des Lesens und Schreibens im Deutschunterricht hinaus deutlich machen, wird die Notwendigkeit theoretisch-konzeptioneller Grundlagen für eine kompensatorisch-alternative Förderpraxis für den Schriftspracherwerb hochgradig hörgeschädigter Kinder diskutiert. Ausgangspunkt ist der paradox wirkende Tatbestand, dass es unter der Dominanz des Methodenstreits trotz wiederholter empirischer Belege für besondere Schwierigkeiten hochgradig hörgeschädigter Kinder mit dem Schriftspracherwerb einerseits und im Kontrast dazu für erfolgreiche Schriftsprachkarrieren andererseits eine hörgeschädigtenpädagogisch spezifische Theorie und davon abgeleiteter Förderpraxis der Aneignung und Ausdifferenzierung des Schriftspracherwerbs nicht gibt. Den unter sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen entstandenen erfolgreichen schriftsprachlichen Entwicklungen hochgradig Hörgeschädigter lässt sich jedoch entnehmen, dass sie u. a. auf einer „relativen Autonomie der Schriftsprache” beruhen, die es ermöglicht, Lesen und Schreiben auch ohne lautsprachliche Mediation zu erwerben. Zur Erklärung eines solchen von lautsprachlichen Fähigkeiten unabhängigen Erwerbs der Verbalsprache über die Schrift wird auf das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs von Frith und Günther zurückgegriffen und darauf bezogen eine Modellierung der Strukturen, Verarbeitungsprozesse und Tätigkeiten beim Wortlese- und Schreiberwerb mit dem Ergebnis vorgenommen, dass es zwei grundsätzlich differierende Wege gibt, nämlich einen phonemischen und einen graphemischen. Aufgrund ihrer stark eingeschränkten sprachlich-auditiven Möglichkeiten ist der phonemische Weg für hochgradig hörgeschädigte Kinder nur eingeschränkt oder gar nicht zugänglich, während der graphemische Zugang bei einem darauf ausgerichteten Förderkonzept alternativ-kompensatorische Erwerbsmöglichkeiten bietet.

Abstract

The international comparative study PISA showed unsatisfactory reading achievements mainly in less accomplished German students in contrast to higher expectations concerning the written language that go beyond simple reading and writing. On this background the necessity of a conceptional base for the promotion of these skills in high degree hearing impared children is discussed. Starting point is the paradoxon that there is no specific theory and method for the acquirement and differentiation of written language for the hearing impaired even though there is ample proof that this group of children have massive problems in learning written language. One reason for this is the dominating discussion as to which method is the best. There is a clear indication that the acquirement of written language is even possible without the mediation of the spoken word, i. e. that there is a certain autonomy of written language. This can be explained by assuming that there are two basically different ways of acquiring reading and writing skills, one being phonemic and the other being graphemic. Based on the step by step model of acquirement of written language by Frith and Günther it is shown how written language can be learned without hearing spoken language. Because of their drastically reduced auditory abilities the phonemic approach is not feasible for high degree hearing impaired children, while the graphemic approach can yield promising results if used in a special promotional setting.

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1 Bei den nicht zuordbaren [vgl. 1, 80], aber ebenfalls verbalsprachlich schwachen Fälle handelt es sich besonders um Kinder aus Familien mit anderen Muttersprachen.

2 Nicht eingegangen wird in diesem Rahmen auf die anderen Gruppen neurogen lerngestörter hörgeschädigter Kinder, von denen in der Würzburger Untersuchung 17 % eine mentale Repräsentationsschwäche und etwa ein Drittel hypermotorische Störungsmerkmale zeigten, weil die diagnostisch erfassten visuellen Kompensationspotenziale bei ihnen nicht so ausgeprägt und widerspruchsfrei wie bei den dyspraktischen Kindern sind und es ausführlicher Erläuterungen bedürfte, warum u. E. das scheinbar inkonsistentere Bild kompensatorischer Funktionspotenziale eher auf Artefakte der diagnostischen Operationalisierungen beruht.

Prof. Dr. Klaus-B. Günther

Institut für Behindertenpädagogik

Universität Hamburg

Sedanstr. 19


20146 Hamburg.

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