Psychother Psychosom Med Psychol 2002; 52(9/10): 378-385
DOI: 10.1055/s-2002-34286
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diagnostische Subgruppen und psychosoziale Charakterisierung von Patienten einer universitären Schmerzambulanz

Diagnostic Subgroups and Psychosocial Characteristics in Chronic Non-Malignant Pain Patients Referred to an Out-Patient Pain CenterRalf  Nickel1 , Ulrich  T.  Egle1 , Rainer  Schwab2
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Direktor: Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. S. O. Hoffmann) Universitätsklinik Mainz
  • 2Klinik für Anästhesiologie (Direktor: Prof. Dr. med. W. Dick) Universitätsklinik Mainz
Further Information

Publication History

Eingegangen: 12. Juli 2001

Angenommen: 27. März 2002

Publication Date:
23 September 2002 (online)

Preview

Zusammenfassung

Patienten mit chronischen nicht malignombedingten Schmerzen einer universitären Schmerzambulanz wurden auf der Basis des IASP-Klassifikationssystems untersucht. Es wurden darüber hinaus diagnostische Subgruppen differenziert und hinsichtlich zentraler psychosozialer Merkmale beschrieben. Das mittlere Alter der Patienten lag bei 42 Jahren, die Schmerzen begannen im Mittel mit 34,2 Jahren. Die Beeinträchtigung der Patienten war erheblich. Ca. 75 % der Patienten litten unter starken Schmerzen mit einer Dauer von 48 Monaten (Median), wobei Patienten mit „dysfunktionalen” Schmerzen eine signifikant längere Beschwerdedauer von 80 Monaten (Median) angaben. Fast ein Drittel aller Patienten konnte keiner regelmäßigen beruflichen Tätigkeit nachgehen, 85 % der Arbeitstätigen fühlten sich in ihrer täglichen Arbeit deutlich beeinträchtigt. Die drei diagnostischen Subgruppen zeigten die Relevanz einer psychosomatischen Diagnostik und Behandlung bei chronischen Schmerzpatienten: Von den 323 Patienten hatten nur 19 % nozizeptive bzw. neuropathische Schmerzen, aber 53 % eine dysfunktionelle Schmerzstörung und 28 % eine somatoforme Schmerzstörung. Aufgrund der hohen Relevanz psychischer und psychosozialer Faktoren bei mehr als 80 % der chronischen Schmerzpatienten sollte deshalb immer eine somatische und psychische Simultandiagnostik erfolgen. Eine frühe psychosomatische Intervention kann den Prozess der Chronifizierung unterbrechen und helfen, iatrogene Schäden zu vermeiden. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen ist für die Diagnosesicherung in der Regel eine interdisziplinäre Kooperation erforderlich.

Abstract

The purpose of this study is to describe an out-patient Pain Center population on the basis of IASP Classification of Chronic Pain. Furthermore, the study investigates the relationship between diagnostic subgroups of chronic non-malignant pain patients and psychosocial parameters. The average age of the patients was 42 and the mean age at the onset of pain was 34.2. In the present study about Ÿ of all the patients had severe pain with a duration of 48 months (median value), patients with dysfunctional pain, one of three diagnostic subgroups, had a significantly longer pain duration (80 months). Nearly ⅓ of all patients are not able to work regularly and 85 % felt impaired in their daily work activities. Nearly ⅓ of the patients without any somatic pathological findings had at least one invasive intervention, just like the patients in the other diagnostic subgroups, and the need-controlled pain medication reached its highest level in this group (45 %). Only 19 % of the 323 patients investigated had nociceptive-neuropathic pain complaint, whereas 53 % were suffering from dysfunctional, and 28 % had a somatoform pain disorder. So, in patients suffering from chronic pain, simultaneous somatic and psychic or psychosomatic diagnostics are indispensable due to the relevance of psychic and psychosocial factors to pain genesis, modulation and persistence. For patients in each of the described subgroups additional psychological factors such as attitudes, beliefs, self-efficacy, fear-avoidance beliefs and motivational factors always have a significant influence on the persistence of chronic pain syndromes. So, as a rule, to make a reliable diagnosis and to give a profound prognosis for the course of treatment, a close interdisciplinary cooperation is required.

Literatur

1 Auch bei Patienten mit nozizeptiv-neuropathischem Schmerz waren muskuläre Verspannungen im Sinne reversibler Funktionsänderungen vorhanden. Bei vielen Patienten der beiden anderen Diagnosegruppen waren zusätzlich auch organpathologische Veränderungen nachweisbar, die aber in den beiden letztgenannten Gruppen nicht das Ausmaß der Beschwerden erklärten und nicht das Schmerzgeschehen bestimmten. Die Gewichtung im Einzelnen erfolgte in der schon beschriebenen Fallkonferenz individuell für jeden Patienten. Anhand der diagnostischen Einteilung der Patienten erfolgte die Therapieplanung bzw. Therapieempfehlung. So erhielten beispielsweise Patienten mit dysfunktionellen Störungen zumeist ein Entspannungsverfahren oder die Empfehlung zur Schmerzbewältigung mit dem Erlernen eines Entspannungsverfahrens als zentralem Bestandteil. Zur besseren Vergleichbarkeit der Gruppen wurden Patienten mit komorbiden psychischen Störungen, fast ausschließlich Angst und Depression, ausgeschlossen.

2 Die Bezeichnung psychologisch richtet sich nach den Definitionskriterien der IASP. Auf der Achse V „Ätiologie” gibt es neben einer Möglichkeit „unbekannt oder andere Ätiologie” auch die Möglichkeit, spezifischer eine Ätiologie anzugeben, u.a. „degenerativ, mechanisch”, „dysfunktional” oder „psychologisch”. Die Kategorie „psychologisch” entspricht in der vorliegenden Arbeit den Diagnosekriterien der ICD-10 einer somatoformen Schmerzstörung „F45.4”.

Dr. med. Ralf Nickel

Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz

Untere Zahlbacher Str. 8

55131 Mainz

Email: ranickel@mail.uni-mainz.de