Krankenhauspsychiatrie 2002; 13(3): 91
DOI: 10.1055/s-2002-34442
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gemein(d)e Nähe

R.-P.  Gebhardt1
  • 1Zentrum für Psychiatrie Die Weißenau, Ravensburg
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Publication Date:
07 October 2002 (online)

Gemeindenähe ist ein wesentliches Merkmal für die Strukturqualität der psychiatrischen Versorgung. Bereits im Jahr 1866 hatte Jarvis [1] festgestellt: „No liberality of admission, no excellence of its management, no power of reputation can entirely overcome the obstacle of distance… the burden of cost, care and labor of travel from home to hospital.” Jarvis postulierte als allgemeingültiges Gesetz: „The people send their patients to these institutions in proportion to their nearness.” Jarvis schloss aus, dass das regional ungleich verteilte Inanspruchnahmeverhalten auf epidemiologischen und demographischen Unterschieden oder einer Morbiditätsdrift in Richtung Krankenhausnähe beruht, weil: „The people who sent a few patients to the distant hospital, now sent many to the hospital which was brought to their neighborhood.” Neben dem logistischen Problem der Distanzüberwindung und dem sozialen Problem der Kontaktaufrechterhaltung nannte Jarvis auch einen psychologischen Grund für das unterschiedliche Inanspruchnahmeverhalten: Nähe schaffe Vertrautheit, während Distanz befremdet.

Der durch das Jarvissche Gesetz beschriebene Sachverhalt, der bis in unsere Zeit sowohl in internationalen als auch in nationalen Studien (zuletzt im Zusammenhang mit der Eröffnung von Satellitenstationen) mehrfach repliziert wurde, ist nun in zweierlei Hinsicht bedenklich. Erstens regen gemeindenähere Versorgungsangebote (egal ob stationär, ambulant oder komplementär) offensichtlich die Nachfrage in bisher unterversorgten Regionen an. Das ist zwar betriebswirtschaftlich erfreulich, regt jedoch die Sprecher der Kostenträger und mit ihnen die Gemüter der Versicherten ganz gemein auf.

Zweitens stellt sich (frei nach Dörner) bei zunehmender Nähe die gemeindepsychiatrisch bedeutsame Frage, ob und ggf. wie dem Bürger soviel Vertrautheit, soviel „Gemeinheit mit den Irren”, überhaupt zugemutet werden kann. Dörner beantwortete diese Frage am 12. 9. 2002 anlässlich seines Festvortrages zum 25-jährigen Bestehen des gemeindepsychiatrischen Hilfevereins ARKADE e. V. in Ravensburg mit: „Ja, durch Vorleistungen: Wenn die therapeutische Wohngruppe in guten Zeiten Nachbarschaftshilfe betreibt (z. B. den Einkauf der alten Dame von nebenan übernimmt, die gemeinsam genutzten Grünanlagen des Viertels pflegt, ein Straßenfest veranstaltet), dann können ihre Bewohner in schlechten Zeiten vielleicht auch ihrerseits auf die Toleranz und Hilfsbereitschaft der Nachbarschaft hoffen.”

Die gemeindenahe psychiatrische Versorgung bringt viele Vorteile, über die ausgiebig geschrieben und mit denen sehr gerne gesundheitspolitisch argumentiert wurde. Seltener wurde die Kehrseite thematisiert, dass auch die Gemeindenähe Geld und Nerven kostet. Das ist eigentlich schade, denn eine Gesellschaft, die diesen Preis kennt und sich trotz dieser Kosten solidarisch zeigt, ist im besten Sinne ungemein und elitär.

Literatur

  • 1 Jarvis E. Influence of distance or nearness to an insane hospital on its use by the people.  American Journal of Insanity. 1866;  22 361-418

Dr. Ralf-Peter Gebhardt

Zentrum für Psychiatrie Die Weißenau · Psychiatrische Versorgungsforschung

Weingartshoferstr. 2

88214 Ravensburg

Email: Ralf-Peter.Gebhardt@ZfP-Weissenau.de

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