Psychother Psychosom Med Psychol 2002; 52(11): 447-448
DOI: 10.1055/s-2002-35280
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Alexithymie - eine Wiederkehr des Verdrängten

Alexithymia - Return of a RepressionMichael  von Rad, Harald  Gündel
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Publikationsdatum:
05. November 2002 (online)

Ein guter Regisseur hätte vielleicht eine Art wissenschaftlichen Western der Psychosomatik drehen können, als 1976 bei der 11. European Conference on Psychosomatic Research sich viele der besten Köpfe unseres Faches nach Heidelberg auf den Weg machten, um die Theorie zu diskutieren, die damals - im schroffen Gegensatz zu den Alexanderschen Thesen des spezifischen Konfliktes - eine neue Erklärung für die psychosomatische Entstehung körperlicher Funktionsstörungen erwarten ließ [1]: Führt eine verminderte Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Ausdruck eigener Gefühle tatsächlich zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, an körperlichen Störungen zu erkranken? Wenn ja, wie wäre diese Wechselwirkung sowohl entwicklungspsychologisch als auch biologisch zu verstehen?

Alle hatten scharf geladen und schnell entwickelte sich eine Art Lager-Kampf-Denken. Aus Amerika kamen J. Nemiah und P. Sifneos, P. MacLean, G. Taylor und K. Hoppe (pro), dazu H. Weiner, M. Singer und L. A. Gottschalk (skeptisch-distanziert), aus England H. Wolff (kontra), aus Deutschland J. Cremerius (kontra), G. Overbeck (vorsichtig), H. Freyberger, S. Zepf, A. Sellschopp-Rüppell und die Veranstalter (pro) unter vielen anderen.

Aber wieso ist dieser damalige „Showdown” überhaupt noch erwähnenswert?

Wenn wir recht sehen, war dies das letzte Mal, dass in der Psychosomatik eine international mit Leidenschaft geführte Debatte um die relevante Theorie der Psychodynamik psychosomatischer Symptomentstehungen ausgetragen wurde. Und natürlich wissen wir heute, dass die damalige Hoffnung auf eine gemeinsame Theorie für das „psychosomatische Phänomen” [2] [3] sich dem verdankte, was H. Weiner schon damals und später „The illusion of simplicity” genannt hat [4].

Die Folgen dieser enttarnten Illusion waren dennoch überraschend: Während in Deutschland die Alexithymiedebatte lange Zeit fast völlig verstummte - nicht zuletzt unter dem hinhaltenden Widerstand der meisten psychoanalytisch orientierten Psychosomatiker und Psychotherapeuten, die darin einen theoretischen Fehler und therapeutischen Nihilismus vermuteten -, wurde im weniger theorielastigen Amerika und anderenorts mit Beharrlichkeit das nicht wegzudiskutierende klinische Phänomen mit unterschiedlichsten Ansätzen weiter untersucht und insgesamt ertragreich beforscht [5].

Dabei wurden neben eher herkömmlichen Fragebogenuntersuchungen, aufschlussreichen entwicklungspsychologischen [6] Überlegungen und psychotherapeutischen Erfahrungsberichten [7] [8] zunehmend differenziertere naturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden eingesetzt, um die biologischen Grundlagen und Konsequenzen ausgeprägter Alexithymie besser zu verstehen. Und als es dann mit Hilfe (neurophysiologischer Techniken und) der strukturellen und funktionellen Bildgebung (PET, FMRT) möglich war, fassbare Unterschiede in der zentralnervösen Emotionsverarbeitung festzustellen, wurde aus einem psychosomatischen „Stiefkind” ein wichtiges Beispiel für zeitgemäßes psychosomatisches Denken.

Denn mit der Alexithymiedebatte von Anfang an verbunden war ja auch der (zu der Zeit noch eher tastend und spekulativ geführte) Versuch, neurobiologische Korrelate dieser Symptomatik dingfest zu machen [9] [10]. Das war damals unter Psychoanalytikern eine Art Todsünde und konnte demjenigen, der solches vertrat, gelegentlich unerwartete Interpretationen eintragen. Genau das hat sich aber heute als großer Vorteil erwiesen:

In der Weiterentwicklung dieser am Alexithymiebegriff entwickelten mehrdimensionalen psychosomatischen Betrachtungsweise geht es nämlich heute u. a. darum, aus klinisch-psychotherapeutisch abgeleiteten Untersuchungsansätzen die zentralnervösen, humoralen und autonom-vegetativen Mechanismen zu erforschen, die zwischen emotionaler konflikthafter Belastung und resultierendem Krankheitssymptom stehen. Dabei wird es immer wichtiger werden, die oft sehr komplexen Wechselwirkungen zwischen verschiedensten, meist zu jeweils vielfältigen Funktionen fähigen Hirnstrukturen besser zu verstehen (zum Beispiel durch sog. „Konnektivitätsanalysen”). Diese Art der Forschung ist aber nur in der engen interdisziplinären Zusammenarbeit der Psychosomatik mit primär somatischen Fächern und (experimenteller) Psychologie möglich.

In diesem Sinne hat die Forschung „rund um die Alexithymie” dazu beigetragen, die Psychosomatik aus einem in der Tendenz theorielastigen, körper- und biologieindifferenten bis -feindlichen Elfenbeinturm „zurück in die Medizin” zu holen. Der interessierte Leser kann in diesem Schwerpunktheft von PPmP aktuelle Beispiele aus verschiedenen Forschungsbereichen finden.

Dem Schlusswort von P. Sifneos auf dem Heidelberger Kongress 1976 wäre auch heute kaum etwas hinzuzufügen:

 „Alexithymia is a nasty phenomenon. It is a nasty concept, but so is cancer. The fact is that they exist and that all the wishing in the world will not make them go away and it is up to us to fight against them. Now alexithymia presents such a challenge to our psychotherapeutic abilities, or to our own narcissism, that we want to deny it, or we want to rationalize it, or we want to relegate it to the lower classes, or we want to forget it. As Dr. Shands said the other day, for 30 or 40 years we have managed to forget ist. We have succeeded unfortunately. It's up to us, up to you, ladies and gentlemen, to recognize it. The fact is, that alexithymia is here to stay whether we like it or not, and it is going to be with us for the rest of our lives. It is up to us to be honest, to be scientific, to observe it, to study it and to do something about it.”

Michael v. Rad, München

Harald Gündel, München

Literatur

  • 1 Bräutigam W, v Rad M. Toward a theory of psychosomatic disorders. Alexithymia - pensée opératoire, psychosomatisches Phänomen. Basel; Karger 1977
  • 2 Marty P, de M'Uzan M. Das operative Denken („Pensée opératoire”).  Psyche (Stuttg). 1978;  32 974-984
  • 3 Stephanos S. Das Konzept der „pensée opératoire” und „das psychosomatische Phänomen”. In: v. Uexküll T (Hrsg) Lehrbuch der psychosomatischen Medizin. München; Urban & Schwarzenberg 1979 a: 217-240
  • 4 Weiner H. The illusion of simplicity: The medical model revisited.  Am J Psychiatry. 1978;  135 (Suppl) 27-33
  • 5 Sifneos P E. Alexithymia: Past and Present.  Am J Psychiatry. 1996;  153 (Suppl) 137-142
  • 6 Lane Richard D, Schwarz G E. Levels of Emotional Awareness. A Cognitive-Developmental Theory and Its Application to Psychopathology.  Am J Psychiatry. 1987;  144 133-143
  • 7 Benedetti G. Beitrag zum Problem der Alexithymie.  Nervenarzt. 1980;  51 534-541
  • 8 Krystal H. Alexithymia and Psychotherapy.  Am J Psychother. 1979;  33 17-31
  • 9 Hoppe K D. Die Trennung der Gehirnhälften. Ihre Bedeutung für die Psychoanalyse.  Psyche. 1975;  29 919-940
  • 10 Nemiah John C. Alexithymia. Theoretical considerations.  Psychother Psychosom. 1977;  28 199-206
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