PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(4): 384-388
DOI: 10.1055/s-2002-36092
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Es mangelt an lebendigen Beziehungen im öffentlichen Leben unserer Gesellschaft

Rita  Süßmuth, Annette  Streeck-Fischer
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Publication Date:
11 December 2002 (online)

PiD: Liebe Frau Professor Süßmuth, neben vielem anderen haben Sie sich auch gerade mit der Jugend in unserer Gesellschaft beschäftigt. Was war Ihnen da ein besonderes Anliegen?

R. Süßmuth: Das ist ein breites Feld. Schon die Frage, wann die Adoleszenz beginnt und wo sie endet, ist nicht klar definiert. Wir haben die Übergänge zwischen Pubertät und Adoleszenz einzubeziehen: Es geht um das Erwachsenwerden mit allen Übergängen in psychisch-körperlichen Bereichen, aber auch im Sozialen. Es ist die Zeit der Selbstfindung, der Orientierung und der Berufswahl, des Übergangs von der Schule in Ausbildung oder Beruf; es ist auch die Zeit der Freundschaften, der Partnersuche in der Gleichaltrigengruppe.

Und es ist die Zeit, in der nicht alle Jugendlichen, aber ein großer Teil, sich fragt: Wer bin ich eigentlich selbst? Was will ich? Was will ich nicht? Fragen, die eine hohe Selbstreflexivität voraussetzen und auch von Anregungen und Hilfen aus der Umwelt abhängen. Wie Adoleszenz verläuft, wird nicht nur vom Jugendlichen selbst bestimmt, sondern auch von seiner erwachsenen und gesellschaftlichen Umwelt.

Hier entwickeln sich neue Eigenwelten, zu denen ein großer Teil der Gesellschaft keinen Zugang hat, mit ihren Abschottungen und Öffnungen. Es entstehen Konformismus und Nonkonformismus. Und gerade bei sensiblen Jugendlichen auch unterschiedlich stark ausgeprägte Identitätskrisen. Im ganz persönlichen Bereich gehören dazu die Auseinandersetzungen mit den eigenen Eltern.

In der Kindheit gab es vielleicht oft einen Machtkampf zwischen Eltern und Kindern bei einem noch sehr abhängigen Verhältnis. In der Adoleszenz werden Eltern zugleich als Gegenüber und als zugehörig erfahren. Jugendliche wollen sich von ihnen abgrenzen, können es aber oft nicht. Sie machen die Eltern für die eigene Entwicklung verantwortlich und fragen sich: Wer bin ich eigentlich im Verhältnis zu wem? Und welche Teile davon schätze ich und welche Teile davon schätze ich nicht?

Das sind zentrale Fragen, die uns in der Jugendpsychologie beschäftigen: Wie mächtig sind Mütter und Väter im Leben von Töchtern und Söhnen. Haben diese Töchter und Söhne überhaupt die Chance, sie selbst zu werden? Und zugleich leben sie in einer Gesellschaft, in der vorgegebene Strukturen fehlen, in die sie hineinwachsen könnten.

Unsere Gesellschaft unterliegt - soziologisch betrachtet - einem beschleunigten Wandel. In dieser offenen Gesellschaft müssen Jugendliche vieles selbst entscheiden, zum Beispiel in den Bereichen Religion, Beruf und Partnerwahl, was früher vorentschieden war. Dieses Ausmaß an Entscheidungen ohne festgefügte Orientierung ist eine große Chance, aber auch eine große Belastung für Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen.

PiD: Diesen Hinweis finde ich sehr wichtig und möchte Sie dazu auch fragen, wie Sie das aus Ihrer Perspektive als Politikerin und Gesellschaftswissenschaftlerin mit der scheinbaren Freiheit des „Anything goes” für Jugendliche sehen? Vielleicht haben Sie dazu ja eine ganz andere Sicht?

R. Süßmuth: Es handelt sich um einen sehr ambivalenten Tatbestand. Wenn wir von Gegenwart oder Moderne - oder besser Postmoderne - sprechen, dann geht es mir darum, nicht nur Niedergangs- und Untergangsszenarien zu sehen, sondern zu fragen: Worin liegt das Positive und worin liegt das Problematische? Ich empfinde es beispielsweise als sehr positiv, dass Menschen heute in freiheitlichen Gesellschaften aufwachsen und somit eigene Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten haben, die frühere Generationen nicht gehabt haben. Das betrifft ja nicht nur die Berufswahl oder den Lebensort, der für die meisten festgelegt war, sondern auch die Frage: Was wird aus meinen persönlichen Leben? Das betrifft auch den ganz persönlichen Lebensstil.

Da hinein mischt sich allerdings ein großer Konformismus. Die Buntheit ist oft sehr uniform, angefangen von der Kleidung bis hin zur Musikrichtung. Im Grunde genommen ist mit dieser Buntheit zugleich der Mainstream verbunden. Mit Mainstream meine ich den allgemeinen Trend - das Denken und Handeln der Mehrheit.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem großen Angebot: Wer hilft mir eigentlich, die Auswahl zu treffen? Ein Beispiel dafür ist die heutige Datenflut - es ist ja schön und gut, was uns das Internet alles bietet, aber wer hilft mir bei der Auswahl? Was ist wichtig, was ist unwichtig, was braucht der Mensch zum Leben, was braucht er nicht? Für diese Entscheidungen werden gemeinsam erarbeitete Kriterien gebraucht. Und hier sind erwachsene Bezugspersonen, die sich einlassen und helfen, für Jugendliche unverzichtbar. Diese kann ich auch nicht durch Gleichaltrige ersetzen.

Die Welt der Jugendlichen ist eine eigene Welt, die ich auch zulassen muss. Da sollte ich mich auch nicht ständig reinbegeben wollen, sondern wichtig ist, dass ich da, wo ich meinen Platz als Erwachsener habe, da bin, verfügbar bin und selbst gelernt habe, mir diese Fragen zu stellen, die Konflikte zu durchleben. Zum Beispiel, ob ich überhaupt als eine Art Pattern oder Muster zur Orientierung des Jugendlichen dienen kann. Wie ist es mir selbst ergangen im Umgang mit Konflikten, wie habe ich sie gelöst, woran habe ich mich selbst orientiert, woher habe ich eigentlich meine Wertorientierung bezogen? Oder was waren meine Motive für Berufswahl? Das müssen sich Erwachsene in diesem Zusammenhang selbst fragen. Denn Jugendliche brauchen Muster, an denen sie sich abarbeiten können. Erwachsene, die selbst nur durchs Leben geschleust worden sind oder sich haben schleusen lassen, haben Schwierigkeiten, Pattern zu sein, was sich in der Orientierungslosigkeit der Jugendlichen niederschlägt, und zum Beispiel heftige Aggressionen, Gewalt, Apathie oder Selbsttötung zur Folge haben kann.

Wir schrecken auf, wenn Jugendliche bei ihrer Suche in die Esoterik geraten, wenn sie in Sekten Orientierung suchen, wenn sie in Peergroups hineingeraten, die Ersatzlösungen durch Drogen anbieten. Aber ich bin trotzdem der Meinung: Neben den wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen, den Eltern, der Verwandtschaft, dem engsten Freundeskreis, sollte die Gesellschaft kleine Einheiten anbieten, in denen Jugendliche in überschaubaren, informellen und festen Bezugsgruppen auch Antworten finden.

Ich meine gerade auch den Bereich des Religiösen, den wir lange unterschätzt haben. Das Religiöse ist nicht von vornherein durch eine bestimmte Glaubensrichtung vorgegeben. Es ist oft eine diffuse Suche. Die Suche nach Orientierung auch in anderen Religionen als der christlichen sollten wir in ihrer Bedeutung nicht unterschätzen. Selbst dann, wenn der Jugendliche dieses Religiöse ablehnt.

PiD: Man sieht in verschiedener Hinsicht eine Auflösung bisheriger Strukturen: Familien, die sich auflösen, Veränderungen in den Partnerschaften, Veränderungen in der Sexualität. Wie ist es da möglich, Jugendlichen mehr Orientierung zu bieten, insbesondere solchen, die diese inneren Strukturen durch sichere frühe Bindungen nicht mitbekommen haben? Was kann da aus der gesellschaftlichen Perspektive geschehen?

R. Süßmuth: Es hilft wenig, wenn versucht wird, das Alte wiederherzustellen. Wir haben dazu eine aktuelle Diskussion, zum Beispiel zum Eheverhalten und Eheverständnis in der Großstadt. Ich glaube nicht, dass wir mit dem Blick zurück den adäquaten Zugang haben, vielmehr heißt der adäquate Zugang für mich, das Erproben, Suchen, Tasten als etwas Wichtiges anzunehmen, obwohl im Erproben auch Gefahr steckt, ob das nun im Bereich der Sexualität ist und/oder der Partnersuche.

Ich gehe von der Grundannahme aus, dass junge Menschen die Suche nach der für sie angemessenen Sexualität brauchen und dabei sowohl positive als auch schlechte Erfahrungen machen. Und da sind auf der anderen Seite die Eltern, denen der Gedanke zu Recht Angst macht, was eigentlich ist, wenn Jugendliche ständig wechselnde Partner haben sollten. Wie verarbeiten sie das? Wie nehmen sie Stellung? Oft haben sie, je schwieriger die eigene Eltern-Biografie war, eine extrem hohe Erwartung an Partnerschaft, manchmal mit allen Formen der Flucht in die Zweierbeziehung als das allein sie Bindende, Haltende, Stützende, und scheitern damit. Denn die meisten Ehescheidungen kommen nicht deshalb zustande, weil man von vornherein gesagt hat: „Probier ich mal aus und dann ... die nächste, bessere Erfahrung”, sondern nach wie vor erleben wir bei den Jugendlichen Erwartungen und Vorstellungen mit der Hoffnung verbunden, man möge das Menschlich-Verlässliche, Helfende, Stützende finden.

Es scheint mir heute in der Gesellschaft wichtig genau dort und zunächst in der Phase der Adoleszenz, Menschen zu helfen, für sich selbst die Lebensform zu finden, mit der sie leben können, ohne andere zu schädigen - und das kann eventuell lebensbegleitend sein. Denn ich kann meine eigenen Konflikte nicht ständig zulasten Dritter bearbeiten. Viel zu viele Frauen und Männer haben existenzielle Bindungsprobleme. Ich bin unlängst einer 30-jährigen Frau mit einer Psychose begegnet, die als Kind jahrelang missbraucht wurde und die mit ihren Konflikten Menschen in ihrer Umwelt nahezu verbraucht. Ich kann ihr das nicht zur Last legen, aber sie geht mit der ganzen Wucht von Liebeserwartung, Aggression, Zerstörung in ihre eigenen emotionalen Erdbeben herein.

Deswegen ist es mir so wichtig, dass wir Beratung und Therapieangebote für mehr Menschen verfügbar machen. Wir brauchen neue Wege, um unsere Lebensformen zu finden. Das ist natürlich mit viel höheren Ansprüchen verbunden, als es in der Vergangenheit der Fall war. Aber was heißt das konkret? Wie ist es möglich, Beziehungen dauerhafter zu leben, ohne dass sie ständig auseinander brechen, weil ein miteinander Weitermachen nicht mehr möglich ist. Wenn Menschen, die nicht gelernt haben, mit Konflikten umzugehen, miteinander in massive Auseinandersetzungen geraten, schließlich die Beziehung abbrechen und gleich darauf die nächste Beziehung eingehen, dann wiederholen sich diese Erfahrungen ohne neue Perspektive. Das erfordert fachliche und menschliche Hilfe, Zuwendung und Erziehung.

Nach Erfurt zum Beispiel kamen sehr viele Anfragen zur Einführung und Förderung des Pädagogikunterrichts in der Schule. Erziehung ist wichtig, aber geschieht das durch Fachunterricht? Mit einem Pädagogikunterricht, in dem Texte aus der Geschichte und der modernen Pädagogik gelesen werden, ist dieses Problem, das wir haben, nicht zu beantworten. Vielmehr bin ich der Meinung, dass Lehrer, Lehrkräfte und Schüler, Schülerinnen miteinander zum Beispiel Mediation lernen sollten.

Es geht mir darum, dass wir diesen Teil nicht fortsetzen, den wir jahrelang in der Schule ausgeblendet haben, nach dem alten Muster: „Erzogen wird zu Hause, der Lehrer unterrichtet und muss einen effizienten Unterricht praktizieren”. Das Allerwichtigste wird dabei gerade nicht getan, denn Lernen ist ein Lernen in Beziehungsverhältnissen. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis, der Umgang miteinander und untereinander ist entscheidend. Das ist das eine Problem, was ich hier anspreche, das andere Problem in der Schule sind die Eltern mit ihren Erwartungen und eigenen Konflikten.

PiD: Meinen Sie, dass Psychotherapeuten mehr aus diesem individuellen Raum rausgehen und mehr in die Gesellschaft hinein wirken sollten, auch in Schulen, in das Bildungssystem und in die Familien? Habe ich Sie da richtig verstanden?

R. Süßmuth: Der individuelle Raum, in dem die Psychotherapie stattfindet, das wird jeder Psychotherapeut so sehen, ganz gleich, welche Fachrichtung er vertritt, sollte für ihn den absoluten Vorrang haben. Das reicht aber nicht. Vielmehr ist wichtig, in welcher Weise wir Angebote an Schulen und im außerschulischen Bereich machen. Entscheidend ist, was in den Schulen selbst geregelt werden kann und nicht gleich an andere Beratungsdienste überwiesen wird. Es kommt zur Bearbeitung der Erziehungsprobleme auf eine enge Zusammenarbeit mit den Jugendlichen an. Bislang ist dieses kein konstitutiver Teil unseres Lern- und Beziehungssystems.

Ich finde, solange es das nicht ist, ist die Praxis der Beratungsstellen und der Psychotherapeuten eine Reparaturstelle. Die Probleme kommen so auch nicht in den Bereich der Prävention hinein, damit zu einem früheren Zeitpunkt geholfen werden kann. Wir brauchen ganzheitliche statt gestückelte Hilfen. Es gibt die zunehmend schwierigen und kaum lösbaren Fälle. Ich denke da an Fälle, nicht aus der Adoleszenz, sondern der Altersgruppe bis zu 10 Jahren, wo Kämpfe zwischen Eltern und Kindern, Müttern und Kindern ablaufen. Das geht bis zu Prügeleien mit Eltern zur Durchsetzung des eigenen Willens. Und die Eltern stehen machtlos davor, sind nicht mehr in der Lage, solche Konflikte zu lösen.

PiD: Den Vergleich mit einer Reparaturwerkstatt finde ich interessant. Was meinen Sie, wie könnte man aus diesem Ansatz zu reparieren, den die Psychotherapie in sich hat, gerade bei solchen Kindern und Jugendlichen und den Familien herauskommen, bei denen so vieles im Argen liegt und viel mehr an Hilfestellungen und Unterstützungen nötig ist?

R. Süßmuth: Wir haben das ausgearbeitet, als ich den Vorsitz für den 7. Jugendbericht hatte. Es ist ja nicht so, dass wir heute sagen müssten, dass darüber nicht nachgedacht worden und fachlich nichts entwickelt worden wäre oder es keine Erprobung gäbe. Ob wir nach Amerika schauen oder nach Deutschland, oder wenn ich hier in Göttingen an den kompetenten inzwischen emeritierten Kinderpsychiater Herrn Professor Specht denke, dann sind da genügend Ansätze, die bereits entscheidend entwickelt wurden. Man kann natürlich sagen: Wir brauchen noch Besseres. Aber entscheidend sind die Umsetzungen. Es gilt rasche Hilfen zu ermöglichen für Eltern, Heranwachsende, Erzieher, Lehrkräfte, Ausbilder.

PiD: Besorgniserregend ist ja auch, dass die Strafvollzugsanstalten immer größer werden und die forensische Psychiatrie expandiert. Das betrifft vor allem männliche Jugendliche und männliche junge Erwachsene.

R. Süßmuth: Die Rollenkonfusion - die Schwierigkeit der Rollenveränderung - ist heute bei Männern oft größer als bei Frauen. Das haben wir so nicht angenommen. Wenn ich daran denke, wie sehr wir uns um Ichfindung, Eigenheiten und persönliche Entwicklungen von Frauen über einen langen Zeitraum gekümmert haben, dann glaubten wir, es trete auch parallel eine Veränderung bei den Jungen und Männern ein. Aber dafür braucht es ebenfalls Programme und Hilfen.

Jungen und junge Männer fragen sich: Wer bin ich eigentlich als Junge? Wer bin ich als junger Mann? Und besonders ausgeprägt finden wir dies bei den ethnischen Minderheiten. Und beobachten wir die Situation vieler Männer nach Scheidungen, dann sind die Krisen so vehement, dass sie vorübergehend zu Handlungsunfähigkeit, zu Krankheit führen. Frauen sind häufiger belastbarer. Konflikte lassen sich nicht vermeiden, aber es kann geholfen werden, die Ausmaße des Konfliktes, die Auswüchse zu vermindern und zu helfen, dass Menschen aus diesen Konflikten konstruktiv herausfinden, ohne dass sie aggressiv oder apathisch werden. Dabei denke ich, es ist wichtig, sich zunächst mit Bewertungen nach dem Motto „Nun lass die Jungens mal sehen, wie sie aus dem Mist selbst herauskommen”, zurückzuhalten. Das ist keine angemessene Reaktion. Es liegen oft massive Konflikte vor. Und sie sind auch eigentlich sehr konsequent mit ihren Antworten.

Denn wenn es so etwas wie einen revolutionären Umbruch gibt, dann hat das soziologisch und damit auch psychologisch massive Auswirkungen auf Frauen und Männer. Das erschüttert eine Gesellschaft. Deswegen ist es auch nicht damit getan, dass man sagt: Geschiedene sind selbst verantwortlich und nun sollen sie auch die Konsequenzen tragen. Das ist keine adäquate Antwort, sondern hier ist mehr Begleitung notwendig. Oder anders gesagt: Bei der Verteilung von Ressourcen in Familien hinein ist vielen Familien mit einer einfachen Verbesserung der finanziellen Ressourcen wenig geholfen. Es geht um die Kombination von Entlastungen: finanzielle Hilfen, Erziehungshilfen und Entlastung durch Betreuungs- und Beratungsmaßnahmen. Es müssen die Zusammenarbeit und der Zusammenhalt in den Familien gestärkt werden.

Und hier bin ich noch mal bei den psychotherapeutisch Tätigen und ihren Fachorganisationen: Warum dringen die nicht stärker in die Öffentlichkeit mit dem Notruf: Es tun Erziehung, Begleitung, Beratung not, wenn wir aus der Sisyphusarbeit herauskommen wollen. In fast allen familienpolitischen Programmen haben wir den wirtschaftlich-finanziellen Ansatz und mit gleicher Priorität die familienergänzende Betreuung der Kinder. Und dazu müssten gehören: Familienbildung, Erziehungsberatung etc. Es fehlt der ganzheitliche Ansatz.

PiD: Das ist sehr anregend. In diese Richtung möchte ich auch noch mal nachfragen: Wenn die Psychotherapeuten, die Tendenz haben, sich in ihrer Arbeit auf ihr Kämmerlein zu beschränken, was aus Ihrer Sicht - der einer Politikerin - da verändert werden kann? Wie schaffen wir neue Strukturen, die zur Folge haben, dass mehr miteinander verbunden und integriert wird? Ich finde es sehr einleuchtend, wenn Sie sagen, wir sollten in Kreisprozessen denken, wo Familienbildung und Erziehungsberatung nicht an letzter Stelle stehen.

R. Süßmuth: Ich möchte da nochmal nachsetzen. Ich erläutere es am Beispiel Erfurt. Da ist eine große Erschütterung und Empörung. Und dann wird nicht mehr gesagt: „Anything goes”, sondern: „Something goes wrong”. Diese allgemeine Beurteilung teile ich. Aber wenn wir uns damit auseinander setzen, dass da was schief läuft, was aus dem Ruder läuft, was uns aufmerken lässt, dann erlebe ich, dass wir ganz schnell wieder bei traditionellen Mustern sind. Sofort kommt die Bemerkung: Da hat die Familie versagt. Eine Hauptreaktion war die Forderung, Familien müssten wieder mehr erziehen.

Da kann ich nur sagen, das ist, als wenn ich in den Wald hereinrufe: „Liebe Vögel, verlasst den Wald!” Oder: „Kommt alle zurück!” Da passiert gar nichts. So kann nichts passieren, weil dieser Appell, wenn er nicht mit Hilfestellungen einhergeht, aussichtslos ist. Aber wir erleben gegenwärtig etwas Neues. Elternabende in Kindergärten und Schulen waren lange Zeit nicht nur ermutigende, sondern auch quälende Veranstaltungen. Lange Zeit kamen nur wenige. Inzwischen stellen wir fest: Sie kommen wieder, weil sie Nöte haben, weil sie sich austauschen wollen und Helfen erwarten.

Elternschaft ist nichts Naturwüchsiges, sie muss entwickelt werden. Wenn man ein Kind zur Welt bringt, ist man nicht auch schon eine fähige Bezugsperson. In Erfurt wurden Versäumnisse beim Namen genannt, ein Tabu gelichtet. Da gab es ein Tabu: Was weiß eine Lehrerin, ein Lehrer von Problemen und Konflikten seiner Schülerinnen und Schüler? Das Hauptargument angesichts wochenlangen Fehlens in der Schule lautet: Der Lehrer hatte gar keine Möglichkeit zur Intervention, der Junge war über 18. Der Lehrer hatte nicht das Recht, die Familie zu informieren. Dabei schien niemandem aufgefallen zu sein, dass er drei Monate nicht mehr zur Schule kam. Und wenn es aufgefallen ist, hat man keine Maßnahmen ergriffen.

Was stimmt da nicht? Warum handelt niemand? Was ist das für eine Art von Beziehung? Das Naheliegendste ist doch zu handeln, wenn die Schule geschwänzt wird. Habe ich wirklich kein Recht zu informieren? Gehe ich denn als Lehrer nicht hin, rufe an oder fahre hin, um mit dem Jugendlichen oder den Eltern zu reden? Es ist nicht mit dem Schüler geredet worden. Und damit kommen wir zum Kern. Es geht hier nicht um Vorwürfe, sondern es ist ein gesellschaftliches Problem. Alle Beziehungen sind geregelt, institutionalisiert, bürokratisiert, lebendige Beziehungen sind abgetötet. Wir ziehen uns zurück in eine bestimmte geregelte Rechtsform. Und da ich nicht das Recht habe zu informieren, scheint daraus auch nicht mehr die Verpflichtung zu erwachsen, den Einzelnen zu sehen.

Und jetzt komme ich erneut auf Ihre Frage zurück: Der Psychotherapeut sitzt in seiner Praxis. Ich möchte nicht, dass der personale Bezug beeinträchtigt wird und an dessen Stelle der gesellschaftliche gesetzt wird. Der Arzt handelt von Person zu Person, mit allem, was die Intimität, Schweigepflicht usw. einschließt. Aber ob das nun der Kinderarzt ist oder der Jugendpsychiater, sie alle wissen, es gibt Probleme, die liegen nicht nur im Individuellen, sondern die haben mit den Lebensvollzügen in unserer Welt zu tun. Und da brauchen wir die Öffnung aus der Zweierbeziehung oder auch der Familientherapie in die Öffentlichkeit.

Ich erläutere es an einem Beispiel, das auch die Politik angeht. Über die große Zahl von Kindern in Pestalozzi-Dörfern, in Kinderheimen, in psychologischer Behandlung legen wir den Nebel des Schweigens, statt es stärker öffentlich zu erörtern. Das erinnert mich an das Tabu des sexuellen Kindesmissbrauchs in der Vergangenheit. Es hat lange gedauert, bis das Schweigen gebrochen wurde. Schließlich haben wir auch die Armutsproblematik öffentlich gemacht und darauf hingewiesen, dass dies ein dringliches Problem ist. Es geht nicht darum, diese Gesellschaft krank zu reden, sondern darum den richtigen Ausweg zu finden. Mehr und mehr Menschen zerbrechen an ihren Problemen, so auch der Amokschütze in Erfurt, aber es wird zu verkürzt als Einzeltäterschaft gesehen. Und wenn es mehrere sind, dann sind es mehrere Verrückte. Wir fragen nicht über den Einzelfall hinaus: Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, was in unserer Kultur des Zusammenlebens nicht stimmt.

PiD: Wenn ich Sie recht verstanden habe, dann sagen Sie, es braucht mehr an persönlicher Beziehung im öffentlichen Raum statt sich auf Regeln und Gesetze zu berufen oder auch auf Funktionen.

R. Süßmuth: Es klingt jetzt so, als hätte ich etwas gegen Regeln. Im Gegenteil, ich bin ein Mensch, der größten Wert auf verbindliche Regeln setzt. Jeder muss wissen, am besten auch verbindlich aushandeln, worauf er sich einlässt, woran er sich bindet. Nichts anderes beinhaltet letztlich auch die Verfassung. Das ist die eine Seite. Aber was helfen mir all diese Regeln, wenn sie die lebendigen Beziehungen ersticken? Das geht bis hin zu einer kritischen Überarbeitung unseres Professionalitätsverständnisses. Wir brauchen das Persönliche inmitten des Professionellen.

Um noch mal auf die Schule zurückzukommen, ich möchte doch mein Kind, mein Enkelkind lieber in einer Schule wissen, wo ich erwarten kann oder wo ich sogar sicher bin, dass Lehrer oder Lehrerinnen auch noch Menschliches wahrnehmen, von denen ich erfahre, was mein Kind an Problemen hat, die sich kümmern. Dieses Wort „kümmern” wird immer wichtiger, kommt immer häufiger vor, manchmal auch als Worthülse. Aber eigentlich verweist es auf das Defizit des „nicht mehr in Beziehungen leben”.

Ich möchte Ihnen abschließend noch ein Beispiel erzählen, das mich zu Beginn der 80er-Jahre sehr erschrocken hat. Es war ein Schlüsselerlebnis. Ich arbeitete in der Lehrerbildung, hatte ein Abendseminar und wir kamen zum Thema „Erziehungsprobleme im Unterricht”. Die Studenten um den Tisch herum meinten: „Damit haben wir doch nichts zu tun. Wenn so etwas auftaucht, schicken wir unsere Schüler zum Psychologen, zum schulpsychologischen Dienst.” Ich war entsetzt. Mein erster Gedanke war: Da ist etwas schiefgelaufen. Was haben wir versäumt, dass sich solche Vorstellungen in den Köpfen unserer zukünftigen Pädagogen breit machen? Wir haben dann, glaube ich, bis Mitternacht über diese Sache diskutiert. Das Erlebnis hatte mich so aufgewühlt und ich bin leidenschaftlich in die Diskussion eingestiegen, weil mein gesamter pädagogischer Weg davon geprägt war, dass Erziehung und Unterricht nicht getrennt werden können.

Und ich habe hier Verschiedenes verstanden: Die Zuständigkeit allein für den Unterricht ist die Folge einer einseitigen Fachausbildung in der Lehrerbildung. Außerdem hatte ich es bereits mit einer jungen Generation zu tun, der dieses Selbstverständliche des Erzieherischen von ihrem eigenen Lebensweg her nicht mehr vertraut war. Sie kamen aus Schulen, in denen die falschen Elemente der 68er-Bewegung unterstützt wurden, zum Beispiel das falsche Verständnis von Selbstregulierung. Kinder brauchen Orientierung, brauchen Führung. Erziehung ist anstrengend, es ist eine der anstrengendsten Tätigkeiten. Und deswegen sehe ich im Augenblick auch noch nicht, wie wir bei aller Bildungsreform nicht nur Leistungsstandards, sondern auch die Erziehung verbessern.

Wir wagen uns nicht an die zentralen Fragen heran, weil wir ökonomische Effizienzdenker geworden sind und das Bildungssystem nur noch an der Leistung bemessen und dabei an Substanz verlieren. Es wird erst wieder anders werden, wenn Deutschland wieder interessant ist für die Menschen außerhalb Deutschlands. Was sich heute viele in anderen Ländern an guter Bildung und Erziehung holen, holten sie sich früher in Deutschland ab. Und dann noch einmal zur Not, von der wir bei unseren Jugendlichen zu Recht sprechen, diese haben Amerikaner nicht weniger als Franzosen oder Deutsche. Notwendig sind gemeinsame Anstrengungen. Das wäre noch einmal ein World Education Movement wert, damit wir aus der Gewalt, die wir in den so genannten Zivilgesellschaften verurteilen, wirklich herauskommen. Und wie soll ich es einem Afrikaner erklären, wieso wir soviel Gewalt haben, bei soviel Zivilgesellschaft.

PiD: Frau Süßmuth, ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses interessante Gespräch.

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