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DOI: 10.1055/s-2003-37890
Reflektierte Kasuistik als Instrument der Forschung und Lehre einer Integrierten Medizin[1]
Publication History
Publication Date:
12 March 2003 (online)

Die Akademie für Integrierte Medizin wurde vor 10 Jahren von einer Gruppe von Ärztinnen
         und Ärzten gegründet, die den Dualismus einer Medizin für Körper ohne Seele und einer
         Psychologie für Seelen ohne Körper überwinden wollten. Dabei geht es um den wissenschaftstheoretischen
         Nachholbedarf der Medizin, die den Paradigmen-Wechsel, der sich in Physik und Biologie
         vollzog, nicht zur Kenntnis genommen hat und die Konsequenzen ignoriert, die sich
         daraus für die Tätigkeit des Arztes ergeben. Statt der schon von Viktor von Weizsäcker
         angemahnten „Wiedereinführung des Subjekts in die Medizin” (1950) wird die Elimination
         des Subjektiven konsequent fortgesetzt. Ein Zeichen dieser Entwicklung ist das Verschwinden
         der Krankengeschichte aus medizinischen Publikationen und ihr Ersatz durch Operationale
         Diagnosensysteme (von Uexküll et al. 2001).
Wozu brauchen wir Kasuistiken und wozu brauchen wir ein bestimmtes Modell ihrer Darstellung?
Kasuistiken sind aus Forschung, Lehre und Behandlung weitgehend verschwunden. In der
         Forschung tritt an ihre Stelle die Gruppenstatistik und der Doppel-Blind-Versuch.
         Beides soll der Ausschaltung des Subjektes als Störfaktor dienen. In der Lehre, also
         beispielsweise auf Kongressen, sind praktisch keine Kasuistiken mehr zu hören, der
         Patient und seine Krankheit sind als Zahlenwerte repräsentiert. Die Behandlung orientiert
         sich an ICD 10 und zugehörigen Leitlinien. Beide enthalten das Subjekt und seine Geschichte
         nicht. Sind genügend der typischen Symptome einer Störung beobachtbar, kann die Diagnose
         gestellt und die Therapie leitliniengerecht veranlasst werden. Die Zahl ist das Primäre,
         die Sprache kommentiert die Zahl und wird ansonsten überflüssig. Ein „Fall” könnte
         heute also beschrieben werden als numerischer Diagnosecode nach ICD 10, ergänzt um
         die Therapie-Codes nach EBM, GOÄ oder KTL und als Behandlungsergebnis in Gestalt numerischer
         Veränderungen auf einer Symptom-Check-Liste, wie in Kliniken zunehmend üblich, auch
         das wäre eine Kasuistik.
Dem gegenüber steht eine lange Tradition der Krankengeschichte in der Medizin, getragen
         von der ärztlichen Erfahrung, dass ein Patient und seine Krankheit erst über ihre
         Geschichte lebendig und verstehbar werden, und eine Krankengeschichte erheben bedeutet,
         zwischen Arzt und Patient eine gemeinsame Wirklichkeit aufzubauen, in der Verstehen
         und Vertrauen die Grundlage für ein diagnostisches und therapeutisches Bündnis schaffen.
Unter Reflektierter Kasuistik verstehen wir in der Akademie für Integrierte Medizin die Anwendung des Meta-Modells
         einer „Integrierten Medizin” in der medizinischen Praxis.
Die Praxis soll dabei von der Theorie her und die Theorie von der Praxis her transparent
         gemacht werden, so dass das theoretische Modell ein „lernendes Modell” bleibt.
Zentrale Prämisse eines Modells Integrierter Medizin ist das Verständnis lebender Systeme als „Einheiten aus Organismus und Umwelt” (Bateson, 1985).
Konkret verstehen wir unter reflektierter Kasuistik einerseits die Entwicklung einer
         „Landkarte” für unser konkretes Handeln im medizinischen Alltag, die gleichzeitig als Modell
         der Beschreibung dieses Handelns dienen kann - andererseits eine Methode der Fallarbeit im Sinne einer Modifikation und Erweiterung traditioneller Balint-Gruppenarbeit (Geigges,
         1999, 2001):
         
Reflektierte Kasuistik als „Entwicklung einer Landkarte” für ärztliches Handeln und als Modell der Beschreibung dieses Handelns:Das Modell der integrierten Medizin soll als Landkarte dem einzelnen Arzt helfen, die Fallstricke dualistischer Sichtweisen im Praxisalltag zu erkennen, um chronische Patientenkarrieren, iatrogene Schädigungen und unnötige Verteuerungen ärztlicher Hilfe zu vermeiden.Gleichzeitig kann dieses Modell den Arzt dabei unterstützen, seine konkrete Arbeit zu beschreiben und kritisch zu reflektieren, damit seine oft unreflektierten, vorbewussten Handlungstheorien, die keineswegs regelhaft das geltende schulmedizinische Verständnismodell widerspiegeln, bewusste Entscheidungsmodelle werden, die sich am gemeinsamen Behandlungsauftrag orientieren.
Piaget (1973) hat in seiner „Theorie des kognitiven Unbewussten” ähnliche Regelhaftigkeiten
         postuliert wie im affektiven Unbewussten. Er beschreibt, dass gesellschaftlich akzeptierte
         kognitive Konzepte (z. B. das Konzept bio-mechanischer Kausalität) das Bewusstwerden
         anderer Konzepte blockieren können und anderseits die Überwindung dieser Blockaden
         mit Hilfe eines neuen Modells (erweitere Landkarte) unseren Denk- und Handlungsspielraum
         öffnen und erweitern helfen kann.
Häufig wird ärztliches Handeln in der Praxis weniger geleitet von den schulmedizinisch
         akzeptierten Konzepten als vielmehr nur zum Teil bewussten, unreflektierten Konzepten.
         Entsprechend würde auch der Arzt profitieren können, wenn er die der jeweiligen Behandlung
         eines Patienten zugrunde liegenden Modelle kritisch hinterfragen würde. Diese Methodenreflexion
         könnte ihm helfen, geeignetere Modelle, z. B. von der Entstehung von Gesundheitsstörung
         oder ihrer Behandlung, zu entwickeln und systematischer für die Praxis zu nutzen.
Unter Forschungsgesichtspunkten erinnert die hier geforderte methodische Selbst-Reflexion
         an das Forschungs-Postulat Michael Balints:
         „Die Forschung kann also nur vom praktischen Arzt selber durchgeführt werden, und
            zwar unmittelbar im Rahmen seiner täglichen Sprechstunde, während er ungestört und
            ungehindert in seiner eigenen Praxis schaltet” (Balint 1966).
         
         
b) Reflektierte Kasuistik als Methode der Fallarbeit
Im Mittelpunkt der Fallarbeit, die in der Regel in einer Gruppe stattfindet, steht
         wie in der traditionellen Balint-Gruppenarbeit der Bericht eines Kollegen bzw. einer
         Kollegin über seinen/ihren Patienten, der ihm/ihr „Mühe bereitet” bzw. „besonders
         neugierig macht und spannend wirkt”, wobei möglichst spontan erzählten „Micro-Szenen”
         der Arzt-Patienten-Interaktion eine zentrale Bedeutung zukommt.
Wie in der Balint-Gruppe sind die anderen Gruppenmitglieder aufgefordert, möglichst
         ebenfalls spontan ihre Einfälle zu formulieren und dabei auf Gefühlsreaktion, Gedanken,
         Bilder und Fantasien sowie Körpersensationen zu achten. Mit Hilfe dieser „Resonanz-Phänomene”
         lassen sich unbewusste Facetten der geschilderten Arzt-Patientenbeziehung wie durch
         eine Art „Prisma-Effekt” (Loch, 1995) herausarbeiten und neue Verständnis-Horizonte
         und Therapieoptionen für die konkrete Arzt-Patientenbeziehung entwickeln.
In der reflektierten Kasuistik werden diese Beobachtungen in der Sprache der Zeichentheorie formuliert: als Zeichenprozesse zwischen dem Organismus und seiner Umgebung, die passende Umwelten konstruieren helfen.
Neben der affektiv-unbewussten Dimensionen der Reflexionsarbeit spielen in der reflektierten
         Kasuistik „kognitiv unbewusste” Aspekte im Sinne Piagets (1973) eine zentrale Rolle:
Mit Hilfe des Meta-Modells einer integrierten Medizin soll es gelingen, kognitive
         Blockaden, die durch das verinnerlichte dualistische Modell einer bio-mechanischen
         Kausalität einerseits und psychologischen Mechanismen andererseits ausgelöst werden,
         im Gruppenreflexionsprozess zu überwinden. Wie später ausführlich dargestellt, erweist
         sich dabei die Grenze zwischen dem „offenen System” eines Körper-habens und dem geschlossenen System des erlebten Körpers als eine symbolische Grenze zwischen zwei Kontinenten, die sich
         beide in Begriffen der Zeichentheorie beschreiben, verstehen und in eine neue umfassendere
         Landkarte (Meta-Modell) einfügen lassen.
         Krankheit als Passungsstörung bzw. Passungsverlust der 
Einheit aus Organismus und Umwelt
         
Das Menschenbild der Integrierten Medizin gründet unter anderem auf einem bio-psycho-sozialen
         System-Modell, das lebende Systeme als Einheiten aus Organismus und Umwelt definiert.
Danach konstruiert der Organismus aus einer neutralen Umgebung eine zu den Bedürfnissen
         und Verhaltensmöglichkeiten des Organismus passende Umwelt. Durch Vorgänge im Organismus
         sowie unkontrollierbare Veränderungen in der Umgebung geht Passung immer wieder in
         Passungsstörung bzw. Passungsverlust über. Gesundheit und Krankheit entsprechen in
         diesem Modell Passung bzw. Passungsverlust zwischen Organismus und Umwelt.
Krankengeschichten lassen sich nach diesem Modell verstehen als Geschichten gestörter Passungen, die nicht kompensiert werden können, sondern zu einem Verlust der Passung führen.
Ärztliches Handeln wird zum Versuch, Passungsstörungen bzw. Passungsverlust zu erkennen und Angebote zu machen, die das autonome, salutogene Zusammenwirken von Organismus und Umwelt wieder in Gang setzen bzw. in Gang halten.
Der Arzt wird für den Kranken Teil von dessen Umwelt und umgekehrt.
Zentrales Anliegen der Arzt-Patienten-Beziehung ist es, salutogene Passungsangebote
         zu machen.
Der Passungsbegriff ist dabei stets dynamisch zu betrachten im Sinne einer „unvollendeten Ganzheit, die nach Vollendung trachtet“ (Piaget 1969), das heißt auch, dass Leben und Entwicklung ohne ständig auftretende Passungsstörungen gar nicht denkbar sind und andererseits Krankheit als Folge von Passungsverlusten nur dann entsteht, wenn das Assimilations- und Akkommodationspotenzial eines Organismus (Piaget 1969) nicht mehr ausreicht, hilfreiche Umwelten zu konstruieren zur Ergänzung der Leistungen des Organismus durch passende Gegenleistungen der Umgebung. Passungsstörungen fokussieren somit stets die basale ökologische Dimension des Zusammenwirkens von Organismus und Umwelt im Sinne der Salutogenese.
Die Analyse von Passungen bzw. Passungsverlusten vollzieht sich durch unterschiedliche
         Betrachtungsdimensionen:
         
Die Dimension von System/Subsystem Die konstruktivistische Dimension Die narrative Dimension Die bio-semiotische Dimension
Literatur
- 1 Balint M. Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart; Klett 1996 
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- 22 Wälte D, Hendrische A, Kröger F. Familiäre Krankheitskonzepte. Ein neuer Ansatz in der empirischen Sozialforschung. 
            In: Familie, System und Gesundheit. Kröger F., Hendrische A, McDaniels S (Hrsg) Heidelberg; Carl Auer 2000 267: 94Reference Ris Wihthout Link
- 23 Weizsäcker V v. Der Gestaltkreis. Mit einem Vorwort. 4. Aufl Thieme Stuttgart; 1950 
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1 Thure von Uexküll zum 94. Geburtstag gewidmet
Dr. W. Geigges
         Im Mättle 7
         
         79194 Heuweiler
         
         Email: w.geigges@rehaklinik-glotterbad.de
         
         
 
     
      
    