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DOI: 10.1055/s-2003-37893
Zur Verleihung des Internationalen Balint-Preises für Medizinstudenten am 15. Juni 2002 in Ascona
Einführung des Jury-Präsidenten: Dr. Arthur Trenkel, MassagnoPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
12. März 2003 (online)

Liebe Studentinnen und Studenten,
Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
ich begrüße Sie einmal mehr zur Verleihung des Balint-Preises für Medizinstudenten und möchte zum Auftakt wieder ein paar Erläuterungen vorausschicken.
Der Preis, den wir vergeben dürfen, wird von der Stiftung ‚Psychosomatik und Sozialmedizin‘
mit Sitz in Ascona und präsidiert von Professor Boris Luban bereitgestellt. Die Summe,
über welche die Jury frei verfügen kann, beträgt Fr. 10 000,-; sie wird auch in diesem
Jahr auf mehrere preiswürdige Arbeiten aufgeteilt.
Unser Preisgericht bestand aus 3 Damen und 4 Herren, die ich Ihnen bei der persönlichen
Preisübergabe auch persönlich vorstellen werde. Hier möchte ich den Kolleginnen und
Kollegen, auch meiner Frau, sehr herzlich für die Arbeit danken.
Und nun wende ich mich unserer Hauptaufgabe zu: der qualitativen Würdigung der eingegangenen
Arbeiten. Vorab will ich Ihnen die Herkunft der Texte mit den dazugehörigen Zahlen
verraten; es haben uns insgesamt 43 Arbeiten aus 11 verschiedenen Ländern erreicht:
12 aus Deutschland, 10 aus Rumänien, 6 aus Polen, 4 aus Ungarn, 3 aus Russland, 2
aus der Ukraine, 2 aus China (Hongkong) und je eine aus Belgien, Litauen, Schottland
und der Schweiz.
Leider mussten wir 11 Arbeiten von vornherein ausschließen, weil sie nicht von Studenten
verfasst oder in einer uns unzugänglichen Sprache geschrieben waren, oder - als häufigster
Grund - weil sie mit unseren Ausschreibungserwartungen unvereinbar waren.
Und jetzt komme ich wirklich zur Sache: Obwohl unser Preis seit vielen Jahren ausgeschrieben
und vergeben wird, sind die Voraussetzungen und Umstände für die Studenten, somit
auch ihre Motivation zur Beteiligung, nie identisch. Auch für uns, die Jury-Mitglieder,
ist es einerseits immer dasselbe, andererseits aber nie das Gleiche, wie es nach meiner
Erfahrung genauso für die Gruppenarbeit, die der Sache zugrunde liegt und ihr den
Namen gegeben hat, zutrifft.
Gestatten Sie, dass ich hier etwas aushole, um kurz auf die Ursprünge des Preises
und damit auf die Ideen, von denen er getragen ist, einzugehen. Ich beginne mit der
lokalen Geschichte und verweise auf die frühen Bemühungen von Herrn Luban, die Gruppenarbeit
nach Balint schon in die studentische Ausbildung einzubringen. Dazu gehört, dass in
den 70er-Jahren jeweils zahlreiche Studenten an den Tagungen hier in Ascona teilnehmen
konnten, wobei es sich bald gezeigt hat, dass die damals sehr kritische Schar nicht
nur Unruhe, sondern auch erhebliches Interesse und Gespür für die Erfahrungswelten
der Balint-Arbeit mitbrachte. So ist der hiesige Preis ‚von unten her‘, wie ich solche
Entwicklungen heute nenne, hervorgegangen. Vielleicht hat die ‚natürliche Geburt‘
auch dazu beigetragen, dass der Spross noch lebendig ist und sich Jahr für Jahr in
neuer Substanz und doch im selben ‚Geist‘ darstellt.
Dieser ‚Geist‘ wird freilich von der besonderen Art von Fallbesprechung bestimmt,
wie sie in Balint-Gruppen entwickelt wurde. Auch diese Praxis hat ‚von unten her‘
Gestalt gefunden; sie war nicht die praktische Anwendung eines vorgegebenen Sachverstandes,
sondern ging wesentlich aus Erfahrungen von Ärzten im täglichen Umgang mit ihren Patienten
hervor. Das Entscheidende war ein anderes ‚Hinschauen‘ auf diese Erfahrungen beziehungsweise
auf Gelegenheiten, die in jeder Heil-Praxis seit je grundlegend sind. In Richtung
auf den Andern nannten wir das andere Hinblicken „patientenzentriert”, und bezogen
auf uns Ärzte ging es darum, unsere Selbstwahrnehmung in der beruflichen Verständigung
zu gebrauchen statt „professionell” zu verleugnen. So haben wir neu zur Kenntnis und
vor allem ernst genommen, was eigentlich selbstverständlich ist (wäre), nämlich dass
es keine Krankheiten ohne Kranke wie auch keine Behandlungen ohne Behandler gibt,
und dass beide Protagonisten des gegenseitigen Umgangs nicht nur das sind, wofür sie
meist gehalten werden. ‚Patientenzentriert‘ heißt für uns ein Zugang, wo wir neben
aller Sachkompetenz auch selber noch „vorkommen”, wo auch mit uns etwas geschieht,
das wir nicht machen, wohl aber wahrnehmen können. Balint nannte diese personale Erlebnisdimension
sehr einfach „andere Ebene”, präzisierte aber auch, dass es um Geschehnisse gehe,
die „höchst persönlich und subjektiv, oft kaum bewusst” seien.
Wenn ich mich hier wieder einmal darum bemühe, die Wirklichkeit dieser „anderen Ebene” zu skizzieren, so deshalb weil sie bei unserem Studentenpreis nicht minder grundlegend ist als in der Gruppenarbeit, aus der er hervorging. Wir erwarten von den Preisanwärtern dasselbe ‚Andere’ sprachlich dargestellt: die konkrete Schilderung einer persönlich erlebten Patienten-Beziehung in einem studentischen Erfahrungsfeld, eigene Überlegungen dazu und schließlich auch Vorstellungen, wie die mitgeteilte Erfahrung berufliche Nachhaltigkeit gewinnen könnte.
Obwohl wir im letzten Jahr die Texte der Preisausschreibung neu überarbeitet bzw. verdeutlicht haben, mussten wir, wie erwähnt, wieder mehrere Arbeiten ausschließen, weil sie mit den genannten Erwartungen kaum etwas zu tun hatten. In verschiedenen Texten kamen die Autoren als Beteiligte gar nicht vor.
Wir haben uns erstmals gefragt, ob diese mangelhafte Respondanz möglicherweise auch in spezifischem Blick zu betrachten sei, nämlich als Symptom einer ‚Leseschwäche‘, welche die Fähigkeit verstellt, Sinn und Absicht unserer Kriterien zu erfassen. Fehlende Beziehung ist bekanntlich auch ein Befund, und so überlegten wir uns, ob die fortschreitende Depersonalisation vielerorts einen Appell an die „andere Ebene” der ärztlichen Wirklichkeit gar nicht mehr vernehmen lasse.
Glücklicherweise haben wir noch immer und mehrheitlich Arbeiten erhalten, die dem Sinn der Ausschreibung entsprechen, darunter auch einige, die das Spannungsfeld zwischen personaler Beziehung und sachlich-fachlichen Realitäten trefflich zur Darstellung bringen. Sie sind für uns auch die preiswürdigsten.
Im Folgenden konzentrieren wir uns auf diese und auf ihre Verfasser; zur Einstimmung möchte ich indes ein paar persönliche Eindrücke wiedergeben. Ich beginne auch da ‚von unten‘ , indem ich auf Arbeiten eingehe, die zwar ohne Preis bleiben, jedoch Erfahrungen erzählen, die mich speziell berührt und nachdenklich gestimmt haben.
So erzählt ein Student aus Polen, wie er sich am Monitor der Intensivstation voll mit der technischen Allmachtsillusion identifiziert, bis die Kurven zunehmend flach werden, weil der Herzmuskel eines jungen Mannes für immer erlahmt. Der Student erlebt diesen Ausgang persönlich als „Schlappe”, und so betitelt er auch seinen Text. Das Gefühl hilflosen Versagens schildert er besonders anrührig im Blick auf zwei entsetzt-verängstigte Kinder, die draußen im Gang vergeblich um das Leben ihres Vaters bangen. - Wie es in dieser Arbeit um die Grenzen medizinischer Technik geht, handelt ein anderer Bericht - diesmal aus Deutschland - von den Grenzen menschlichen Funktionierens im gegebenen System. Der Verfasser bewundert einen tüchtigen Arzt mittleren Alters, der sich selber mit der (richtigen) Diagnose Herzinfarkt in die Klinik einweist und dort auch Regie führt, indem er das Notwendige anordnet und gleichzeitig dem Studenten erklärt. Seine Erschütterung ist gewaltig, als er sich wenig später mit der Kehrseite des Vorbildlichen konfrontiert sieht: Die Hospitalisation führt den Patienten in einen deliranten Zustand, der offenbar werden lässt, wie die ‚ideale Professionalität’ um den Preis eines massiven Drogenkonsums erhandelt war. Der Titel des Textes: „Ein Helfer als Patient”.
Probleme der Sucht sind übrigens in mehreren Arbeiten und in unterschiedlichen Gesichtern von Bedeutung, so als Magersucht, Arbeitssucht, Nikotinsucht etc., am häufigsten als Alkoholsucht. Eindrücklich für unsere Perspektive ist in diesem Kontext der Bericht einer Studentin, die in ihrer Geschichte selber eine Magersucht-Phase durchlebt hat und von dieser Eigenerfahrung her eine hospitalisierte Anorexie-Patientin mit einem einzigen Satz im Zentrum ihrer Leibproblematik erreicht.
Als Gesamt-Perspektive geben die Preisarbeiten jeweils eine Art Zeitgemälde aus studentischer Sicht wieder. Einen starken Akzent scheint mir diesmal der kritische Blick auf die immer allgemeinere Instrumentalisierung der Menschen durch Reduktion auf bloße Rollen und Funktionen zu setzen. In den Kliniken sind speziell die Patienten und Ärzte von dieser ‚Anonymitätskollusion‘ betroffen. Die Studenten als „praktizierende” Praktikanten bleiben gleichsam „zwischen den Stühlen”, was ihnen willkommene Möglichkeiten zu unabhängigen Wahrnehmungen - auf der „anderen Ebene” - einräumt.
Mit besonderer Genugtuung kann ich in diesem Zusammenhang vermerken, dass in den Texten nicht selten Gruppen erwähnt werden, in denen sich die Studenten helfen und helfen lassen, persönliche Erfahrungen mit beängstigenden Erlebnissen zu mildern, ohne sie wegzufiltern. Wir erkennen hier erneut die ursprüngliche Wirkung der Balint-Gruppe, was vielleicht trotz dem herrschenden Zeitgeist auf eine zukunftsfähige Renaissance solcher Ansätze verweist. Dass diese Tag für Tag dringlicher und notwendiger werden, bleibt kaum noch verborgen.
Wir Alten haben uns seinerzeit durch Balint und anschließend durch viele Gruppenerlebnisse die Augen für die ubiquitäre und doch unbekannte „andere Ebene” öffnen lassen. In Ascona wurden erstmals auch die Jungen als künftige Akteure einbezogen. Heute empfinde ich es beinahe umgekehrt: Der damalige Aufbruch ‚von unten‘ scheint bei uns Alten unter dem Druck gegenwändiger Entwicklungen ‚von oben‘ eher am Verblassen, während uns über die Jungen, die heute ‚von unten‘ zur Sprache finden und das Wort ergreifen, erfrischende Brisen der Ermutigung erreichen. Wir möchten im Gegenzug diesen Mut zum Wort verstärken, und persönlich hoffe ich, auch mit meinem Wort dazu beizutragen.
Ausgezeichnet mit je persönlicher ‚Laudatio‘ wurden 6 Studentinnen und Studenten in folgender Rangfolge:
Preis: Angela Madalina LAZAR, Rumänien Preis: (ex aequo): Cathrin REINECKE, Deutschland und Judit LOEVI, Ungarn Preis (ex aequo): Clemens JILEK, Deutschland, Caroline LINN, Deutschland und Cosmina POPESCU, Rumänien
Dr. med. Arthur Trenkel
Via Madonna della Salute 30
CH 6900 Massagno