Balint Journal 2003; 4(1): 21-24
DOI: 10.1055/s-2003-37896
Balint-Preisträger
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Meine ersten Patientenerfahrungen während des Pflegepraktikums und des ersten vorklinischen Semesters

C. Reinecke1
  • 1Wilnsdorf
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Publication Date:
12 March 2003 (online)

Nach mehreren Praktika während der Schulzeit und in den Schulferien, die mir hauptsächlich Einblicke in „nicht-medizinische” Berufsfelder ermöglicht hatten, kristallisierte sich etwa ein halbes Jahr vor meinem Abitur heraus, dass nicht nur mein Interesse an der Medizin als Wissenschaft stetig wuchs, sondern mich auch der berufliche Alltag eines Arztes immer mehr interessierte. Im Nachhinein wird mir klar, dass, wenn ich von dem beruflichen Alltag eines Arztes sprach, meine Gedanken in dieser Zeit fast ausschließlich um die ärztlichen Tätigkeiten Helfen und Heilen kreisten. Wenn auch meiner Meinung nach diese Aufgaben die Basis für ärztliches Handeln darstellen und meine wichtigsten Antriebsfedern für das Studium geblieben sind, wurde mir - manches Mal auch schmerzlich - bewusst, dass ein Arzt nicht zwangsläufig die meiste Zeit seiner Arbeit mit den Patienten verbringt. Und obgleich zunehmend anerkannt wird, dass die Art des Umgangs zwischen Arzt und Patient einen großen Einfluss auf die Gesundung des Patienten haben kann, erschwert der Zeitmangel den Ärzten eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung aufzubauen.

Von solchen Problemen noch nichts ahnend, wartete ich gespannt auf mein Pflegepraktikum auf einer kardiologischen Station, das ich noch vor den letzten Abiturfeierlichkeiten begann. Hochmotiviert wollte ich soviel wie möglich während des Praktikums lernen, schließlich hatte ich bis dahin nur selten ein Krankenhaus von innen gesehen, und so hatte ich mir fest vorgenommen möglichst viele Stationen kennen zu lernen und den Ärzten bei ihren Aufgaben über die Schulter zu schauen.

Als ich zum ersten Mal, selbst ganz in weiß, den langen weißen Flur zu der Station entlang lief, breitete sich in meinem Bauch ein seltsames Gefühl aus, das bei mir manches Mal auftaucht, wenn ich beginne in einem neuen Umfeld zu arbeiten: Es war eine Mischung aus Vorfreude und Bedenken, dass ich mich nicht mit dem Pflegeteam verstehe und aus der Vorstellung, dass ich von nun an beweisen musste, ob ich wirklich so gut mit Kranken und Leidenden umgehen konnte, wie ich mir immer vorgestellt hatte.

Es stellte sich schnell heraus, dass meine Sorgen sich nicht bewahrheiteten und meine anfängliche Unsicherheit im Umgang mit den Patienten schwand von Tag zu Tag. Trotzdem nahm ich, sooft sich mir die Gelegenheit bot, an der Visite, Untersuchungen oder Operationen teil, anstatt mich voll und ganz mit den Aufgaben der Pflege zu identifizieren. Die pflegerischen Tätigkeiten empfand ich derweil nicht als Bestrafung, ich sah sie anfangs eher als eine Überbrückung der Zeit bis zu der nächsten medizinischen Attraktion. So verlor ich den Patienten als Persönlichkeit immer mehr aus den Augen; dass mir unter diesen Umständen eine Annäherung an viele Patienten und ein enger Patientenkontakt verwehrt blieb, begriff ich erst nach den ersten zwei Wochen, nachdem sich die erste Faszination für die medizinischen Errungenschaften und den ärztlichen Beruf gelegt hatte. (Es kam hinzu, dass es mich zunehmend beunruhigte, dass ich die Zeit und die Möglichkeiten, die die Ärzte für ihre Patienten und deren Probleme aufbringen konnten, überschätzt hatte.)

Ich lernte die Zeit, die sich bei den Routinearbeiten in den Zimmern bot, intensiver mit den Patienten zu nutzen, lernte erste Fragen zu stellen und ihnen besser zuzuhören. Mit der Zeit hatte ich alle Unsicherheiten abgelegt und merkte, dass nicht nur mir die Zeit mit den Kranken immer mehr Freude bereitete, sondern auch die Patienten sich immer freuten, wenn ich mit ihnen sprach und mir so viel Zeit wie möglich für sie nahm. Natürlich kam ich nicht mit jedem Patienten gleich gut zurecht, dennoch war mir die erste Annäherung an die Patienten gelungen, ich hatte mich erst ganz auf sie einlassen müssen.

In dieser Eingewöhnungsphase entwickelte sich auch ein angenehmes Verhältnis zu dem Pflegeteam, man lobte mich für den Umgang mit den Kranken und fragte mich bei der täglichen Übergabe nach meiner Einschätzung zum Befinden einzelner Patienten. Man gab mir immer mehr das Gefühl wichtig für die Station zu sein und meine „Ausflüge” zu Untersuchungen wurden seltener, ich hatte begriffen, dass es erst einmal wichtig war, auch in schwierigen Situationen ein Gespräch mit dem Patienten zu meistern, und, dass ich dabei auch sehr viel lernen konnte. Also suchte ich noch mehr den Patientenkontakt als zuvor und beschloss auch die verbleibende Zeit meines Praktikums auf dieser Station zu bleiben.

Während dieser Zeit lernte ich viele außergewöhnliche Menschen kennen, und ich bin sehr dankbar für die vielen Erfahrungen, die mir vor allen Dingen die älteren Patienten in Gesprächen über ihr Leben und den Tod ermöglicht haben. Und doch ragt für mich die Begegnung mit Herrn K. aus allen anderen Patientenbegegnungen heraus. Das liegt wahrscheinlich nicht nur daran, dass er einer der Patienten war, den ich über einen längeren Zeitraum von fast einem Monat pflegen durfte, sondern, dass unsere Beziehung von einem ständigen Auf und Ab gekennzeichnet war und ich mich auf keine andere Patientenbeziehung so emotional eingelassen habe wie auf diese.

An dem Tag, als ich Herrn K. zum ersten Mal begegnete, hatte ich Spätschicht. Bei der Übergabe erfuhr ich, dass Herr K. nach einem Schlaganfall von der Intensivstation uns zugewiesen worden war, dass er nur noch selten zu Bewusstsein kommen würde und, dass man nicht davon ausgehen konnte, dass er sich wieder erholen würde. Er war Privatpatient und lag allein auf Zimmer 117. Nicht sehr erfreut über einen weiteren bettlägerigen Patienten, der intensivere Pflege bedurfte, schrieben alle aus dem Spätschichtteam das Kürzel für Privatpatient hinter seinen Namen und nahmen zur Kenntnis, dass immer zwei Pfleger helfen mussten, um ihn zu bewegen, weil ihm wegen einer Kriegsverletzung das rechte Bein amputiert worden war. Als ich kurz darauf den Kaffee verteilte, ging ich als letztes in das Zimmer von Herrn K.. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich mich fühlte, als ich mich seinem Bett näherte, ich ging vorbei an den zwei leeren Betten bis zum letzten Bett am Fenster, in dem Herr K. schlief. Es war klar, dass er hier alleine lag, weil man damit rechnete, dass er vielleicht hier sterben würde. Es herrschte eine seltsame Stille, die nur von Kirchenglocken unterbrochen wurde, als ich das Fenster schloss. Sollte ich nun zum ersten Mal einen Menschen sterben sehen? Herr K. stöhnte im Schlaf und versuchte sich auf die andere Seite zu wälzen, was ihm wegen der Bettkeile nicht gelang. Er wurde künstlich ernährt und es sah so aus als würde er sich nur noch unfreiwillig hier quälen. Ich war sehr betroffen und traurig, warum musste jemand sich nur so im Krankenhaus quälen? Es war das erste Mal, dass ich mir für einen Patienten wünschte, dass er ohne weitere längere Qualen bald von seinem Leiden erlöst werden würde. Ich trat an sein Bett heran, nahm seine Hand und hoffte, dass Gott meine Bitte erhören würde. Bald wurde Herr K. ruhiger und ich verließ traurig das Zimmer, weil ich mich auch noch um die anderen Patienten kümmern musste. Würde er noch leben, wenn ich später in das Zimmer kommen würde? Durfte ich ihn einfach so ganz allein lassen, wenn ich doch ahnte, dass er jeden Moment sterben konnte? Ich schloss leise die Tür hinter mir und unterdrückte die aufsteigenden Tränen - mit dem Tod konnte ich einfach noch nicht umgehen.

Sooft ich konnte schlich ich mich an diesem Abend und dem nächsten Tag zu Herrn K. (ich schlich wirklich sobald ich mich in dem Zimmer bewegte, diese heilige Ruhe wollte ich nicht stören). Umso mehr ärgerte mich, dass die anderen Pfleger und die Ärzte diese Stimmung anscheinend nicht bemerkten. Ich begann mich immer häufiger darüber zu wundern, warum man seinen Tod durch die künstliche Ernährung in die Länge zog, und außerdem machte es mich von Tag zu Tag wütender, dass sich die Angehörigen nicht blicken ließen.

Am dritten Tag war ich wieder in der Frühschicht eingeteilt und erfuhr überraschender Weise, dass sich der Zustand von Herrn K. wieder stabilisiert hatte, die künstliche Ernährung hatte ihm wieder zu neuen Kräften verholfen. Man sagte mir, dass er seit dem vorherigen Nachmittag, an dem ich frei gehabt hatte, wieder von Zeit zu Zeit ansprechbar wäre. Ich war sehr verwirrt, als ich wieder zu ihm ins Zimmer ging: Hatte ich seinen Zustand so falsch eingeschätzt? Er schlief wieder, doch als ich die Infusion austauschte öffnete er langsam die Augen. Ich stellte mich vor und meinte zu ihm, dass es ihm besser ging als zuvor. Seine runden braunen Augen sahen mich müde an. Verstimmt antwortete er leise aber ausdrücklich: „Mensch lasst doch das Theater hier, lasst mich doch einfach in Ruhe sterben.” Ich wusste nichts darauf zu erwidern, drückte seine Hand, wie ich es zuvor die Tage auch immer getan hatte, doch er entzog sie mir. Was ging ihm durch den Kopf? Durfte man ihn gegen seinen Willen am Sterben hindern? Ich konnte ihn verstehen, warum brachte man ihn wieder zu neuen Kräften, wenn er es gar nicht wollte, was war ihm denn geblieben? Ich war in diesem Moment genauso mutlos wie er selbst.

Wider Erwartens verbesserte sich von diesem Zeitpunkt an sein körperlicher Zustand stetig, auch wenn er allen Lebenswillen verloren zu haben schien. Er ließ niemanden richtig an sich heran und als sich nach dem ersten Wochenende noch immer keine Verwandten um sein Befinden gekümmert hatte, fragte ich vorsichtig den Stationsarzt, ob wir nicht versuchen wollten, jemanden von den Angehörigen zu erreichen. Vielleicht könnten diese ihm etwas Mut zusprechen. Es stellte sich aber heraus, dass Herr K. vom Notarzt eingeliefert worden war und die Tochter über 500 km weit entfernt wohnte. Da ich mich weiterhin am meisten um Herrn K. gekümmert hatte, sollte ich herausfinden, ob es noch weitere Verwandte gab.

An diesem Abend setzte ich mich wieder zu ihm ans Bett und versuchte mich mit ihm zu unterhalten. Das gestaltete sich nicht einfach, denn er blickte stur zu Seite - fest entschlossen, niemanden an sich heranzulassen. So erzählte ich ihm zunächst Belangloses und versuchte dann die Sprache auf seine Familie zu bringen, indem ich beteuerte, wie leid es mir täte, dass sich seine Tochter nicht um ihn kümmern konnte. Er blickte zum ersten Mal wieder richtig auf, und ich sah wie ihm Tränen in die Augen stiegen: „Ja, das kann ich verstehen, dass sie nicht oft hierher reisen kann. Es macht mich nur ganz traurig, dass meine Frau mich nie besuchen kommt.” Er fasste meine Hand und sah mich flehend an: „Du kümmerst dich doch immer um mich, kannst du mir den Gefallen tun und meine Frau zu mir bringen?” Ich erinnere mich genau, wie er zum ersten Mal mich anlächelte, als ich seinen Händedruck erwiderte und ihm nach ein paar weiteren Fragen zu Wohnort und Straße versprach es zu versuchen. Bestand jetzt wieder eine Hoffnung ihn zum Leben zu ermutigen?

Eine andere Schwester setzte sich mit der Tochter in Kontakt, doch so leicht sollte sich das Versprechen nicht einlösen lassen, denn die Frau von Herrn K. litt unter Alzheimer und die Enkelin, die ab und zu für das Ehepaar K. gesorgt hatte, musste sich um ihre Kinder kümmern und konnte Frau K. nicht ins Krankenhaus bringen. Als mir die Schwester das erzählte, fragte ich mich, wann Herr K. eigentlich mal vom Schicksal verschont geblieben war? Erst hatte er sein Bein verloren, dann war seine Frau an Alzheimer erkrankt und nun hatte er auch noch einen Schlaganfall bekommen. Und niemand konnte sich richtig um ihn kümmern. Ich fühlte mich für ihn verantwortlich und versuchte soviel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen.

Von nun an fragte er mich bei jeder Gelegenheit nach seiner Frau, und ich beruhigte ihn, dass sie bald kommen würde. Auch seine Lebensfreude kehrte wieder etwas zurück, und ich konnte ihn zu immer mehr Dingen motivieren. Ich nahm mir viel Zeit und es kostete viele Überredungskünste, ihn zum Essen zu ermuntern. Anfangs war es nicht einfach, denn er wurde schnell missmutig und wollte aufgeben, wenn ihm etwas nicht sofort gelang; doch ich hatte den Zugang zu ihm gefunden und sein Vertrauen erlangt, und wir machten Fortschritte. Wir wurden ein eingespieltes Team, und ich lernte auch etwas grober mit ihm umzugehen, wenn er sich hängen ließ oder wenn er versuchte, mir Vorwürfe zu machen, falls nicht alles zu seiner Zufriedenheit geschah.

Bald fiel mir auf, dass er die anderen Pfleger ganz anders behandelte als mich. Er schimpfte, fluchte und kommandierte sie herum und ließ sich nicht zu der geringsten Mithilfe motivieren. Er verhielt sich so störrisch wie ein trotziges Kind und beanspruchte gleichzeitig, dass jedermann für ihn stets zu Diensten war. Mit mir scherzte er weiterhin, er wusste ja, dass ich alles für ihn machte. Mit der Zeit brachte mich das in einen Konflikt, denn ich konnte mich nicht nur um Herrn K. kümmern, außerdem machten mir die anderen aus dem Pflegeteam klar, dass er auch lernen musste einiges, bei dem ich ihm noch half, wieder selbständig zu erledigen. Es fiel mir nicht leicht das erarbeitete Vertrauen aufs Spiel zu setzen, indem ich mich wieder zurückzog, aber ich merkte, dass es wichtig für Herr K. war. Auch im Nachhinein ist mir bewusst geworden, dass ich mich zu sehr mit Herrn K. identifiziert habe, seine Stimmungen und Gefühle hatte ich auch zu Anfang viel zu sehr überinterpretiert, schließlich hatte sich sein Zustand erheblich gebessert und mit etwas Selbstvertrauen würden Herr K. noch ein paar schöne Jahre bevorstehen. Ich nahm mir diese Warnung zu Herzen, denn auch, wenn ich als „Arznei” („Der Arzt als Arznei”, Balint) viel zu seiner Gesundung beigetragen hatte, war Herr K. in einer gewissen Weise von mir abhängig geworden. Ich bemühte mich, ihn zu weiterer Selbständigkeit zu ermutigen. Wie ich befürchtet hatte, ärgerte sich Herr K. jedoch darüber, dass ich nicht mehr so viel Zeit für ihn hatte und ihm nicht mehr alle Wünsche von den Lippen ablas. So reagierte er auch auf mich immer aggressiver. Ich hatte mir aber fest vorgenommen, auf seine Provokationen nicht so zu reagieren wie die anderen Pfleger. Ich wehrte mich entschieden gegen seine Vorwürfe und versuchte ihm immer wieder zu erklären, dass es zu seinem Besten sei, wenn er wieder autonomer werde.

Unser Verhältnis besserte sich langsam. Als ihn etwa nach einer weiteren Woche seine Frau zum ersten Mal besuchte (sie war mit dem Taxi gekommen, und wir hatten die mühselige Aufgabe, darauf zu achten, dass sie nicht die Station verließ; sie war wirklich sehr vergesslich), fasste er neues Vertrauen zu mir, wahrscheinlich, weil er begriff, dass ich ihn nicht nur vertröstet, sondern mich wirklich dafür eingesetzt hatte, dass er seine Frau wieder sehen konnte.

Ich hielt mich gerade im Zimmer auf, als sie hereinkam. Sie erinnerte mich an Inge Meisel, die ich mal in einem Spielfilm in der Rolle einer Alzheimerpatientin gesehen hatte. Sie war äußerst liebenswürdig und wirkte so hilflos, als sie neben dem Bett von Herrn K. stand. Ihm liefen vor Freude die Tränen aus den Augen, als er sie fragte, warum sie erst jetzt käme. Es war rührend, die beiden zusammen zu sehen; sie gingen so liebevoll miteinander um und Herr K. scherzte und lachte und war so glücklich, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Von da an kam Frau K. häufiger. Es tauchte nur ein weiteres Problem auf: Die Ärzte und die Angehörigen waren einhellig der Meinung, dass Herr und Frau K. sich weiterhin nicht selbst versorgen könnten und es besser sei, Herrn K. in einem Pflegeheim unterzubringen; Frau K. könne bei ihrer Enkelin in ihrem gewohnten Umfeld bleiben. Es betrübte mich, wenn ich daran dachte, dass man die beiden trennen wollte. Aber daran, dass die beiden ein eigenständiges Leben ohne Hilfe nicht mehr bewerkstelligen konnten, bestand kein Zweifel.

Als die beiden von dem Vorhaben erfuhren, waren sie fest davon entschlossen, wieder zusammen in ihr Haus zurückzukehren. Herr K. war empört, dass man ihn abschieben wollte und wurde erneut unzugänglich und unzufrieden. Während er die anderen Pfleger immer schlimmer beleidigte und zu keiner Zusammenarbeit mehr bereit war, akzeptierte er mich wieder als seine Verbündete. Er erzählte mir viel von seinem Leben mit seiner Frau und versuchte mich gleichzeitig davon zu überzeugen, ihm dabei zu helfen wieder nach Hause zu kommen. Ich konnte bei dieser Bitte keine klare Position beziehen ohne ihm falsche Hoffnungen zu machen, denn auch mir fiel keine Lösung im Sinne aller ein. Immer wieder redeten die beiden auf mich ein, ihnen zu helfen, und abends, wenn ich meine letzte Runde machte, bat mich Herr K. fast täglich, ihn aus dem Krankenhaus zu schmuggeln und ihn auf meinem Heimweg nach Hause zu bringen. Es war nicht möglich ihm zu erklären, dass das keine Lösung war.

Glücklicherweise hatte der Stationsarzt derweil einen Platz in einem Pflegeheim ganz in der Nähe der Enkelin gefunden. So würde es auch möglich sein, dass sich das Ehepaar jeden Tag sah. Eine Bedingung war allerdings, dass Herr K. vorher - soweit wie möglich - mobilisiert werden würde. Es kostete alle Beteiligten viel Überzeugungskraft, doch bald fanden sich auch Herr und Frau K. damit ab, dass dieses ein guter Kompromiss war.

Häufig begleitete ich ihn in der nächsten Zeit bei seinen ersten Versuchen mit der Prothese zu laufen. Öfter als zuvor ließ ich ihn Dinge selbständig machen und weigerte mich, ihm bei Dingen zu helfen, zu denen er auch alleine in der Lage war, was mehr als einmal zu Verstimmungen seinerseits beitrug. Er schien es mir aber nicht mehr übel zu nehmen, wenn ich konsequent und nachdrücklich darauf bestand, etwas auch gegen seinen Willen durchzusetzen, auch wenn er sich vehement bei allen über meine „freche” und fordernde Art beklagte. Unser Verhältnis hatte sich geändert; ich nahm ihm nicht mehr den aktiven Teil seiner Genesung ab. Die Mühen und Anstrengungen der Mobilisierung musste er selber durchstehen, Mitleid und unangebrachte Hilfe hätten ihm nur geschadet, auch wenn es mir schwer fiel ihm etwas abzuschlagen. Am Tag seiner Entlassung war ich zufällig bei der letzten Chefarzt-Visite bei Herrn K. im Zimmer anwesend. Mit einem Seitenblick zu mir meinte Herr K. in die Ärzterunde: „Diese freche Schwester hat mir das Leben hier zur Hölle gemacht.” Ob der Stationsarzt, der mir wissend zublinzelte, dem etwas verwunderten Oberarzt und dem erstaunten Chefarzt noch erklärte, wie Herr K. das gemeint hatte, weiß ich nicht. Als er später von seiner Enkelin und seiner Frau abgeholt wurde, rief er mich noch einmal zu sich. Ich beugte mich zu seinem Rollstuhl herunter, und er meinte ernst: „Danke, du hast mir sehr geholfen, du warst immer für mich da.” Er gab mir zum letzten Mal die Hand, die ich so häufig gehalten hatte, und dann sah ich ihm nach, wie er mit seiner Frau scherzend den langen Flur herunter fuhr.

Es ist ein wunderbares Gefühl, bei einem Patienten durch Gespräche und Beistand zu seiner gesundheitlichen Verbesserung beigetragen zu haben. Ich erinnere mich heute noch oft an seine Wutausbrüche, seine Überzeugungsversuche ihm Zigaretten oder Alkohol zu besorgen, seinen Einfallsreichtum, was seine Flucht aus dem Krankenhaus betraf; ich erinnere mich, wie er bitterlich weinte, dass man ihn von seiner Frau trennen wollte und wie er hartnäckig darauf bestand, von mir bei seinen ersten Gehversuchen begleitet zu werden und sich der Physiotherapeut, bis ich Herrn K. zusprach, meistens ohne Ergebnis abmühte, ihn zu motivieren.

Danke Herr K., auch Sie haben mir sehr geholfen. Durch Sie durfte ich erfahren, wie wichtig eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung für die Genesung eines Patienten ist und, dass diese manchmal erst in einem mühevollen Prozess des Annäherns und Zurückweichens entwickelt werden muss.

Nach meinem dreimonatigen Pflegepraktikum habe ich mit dem Gefühl, die menschliche Kompetenz (ohne die der Arztberuf, meiner Meinung nach, nicht zufriedenstellend auszufüllen ist) dafür zu besitzen, durch stetigen Patientenkontakt meine Arztpersönlichkeit zu schulen, mein Medizinstudium begonnen.

Leider ist es bisher noch nicht gelungen das Medizinstudium mit dem Schwerpunkt auf Praxisorientierung grundsätzlich zu reformieren, jedoch legt die Universität Münster großen Wert auf praktische Elemente der Ausbildung schon während der ersten Semester. So wird bereits im ersten vorklinischen Semester unter lohnendem großen organisatorischen Aufwand die Einführung in die klinische Medizin in vielen interessanten Projekten durchgeführt. Uns boten sich viele Möglichkeiten mit Patienten und ihren verschiedenen Krankheitsbildern in Kontakt zu treten. Zu den einschneidenden Erlebnissen in diesem Zeitraum zählen für mich beispielsweise die Begegnungen mit Patienten der forensischen und allgemeinen Psychiatrie.

Hier wurde mir sehr schnell klar, dass sich der Zugang zu einem Patienten und die Arzt-Patienten-Beziehung immer unterschiedlich gestaltet und, dass wir Medizinstudenten eine auf den Patienten zugeschnittene Annäherung immer neu erlernen müssen. Mehrere gedankliche Anstöße habe ich weiterhin im Rahmen der Berufsfelderkundung im Gespräch mit Herrn Dr. Bauer, einem Arzt, der die Menschen im Hospiz begleitet, und in ethischen Diskussionen in unserer Projektgruppe erhalten.

Sehr viele Anregungen hat mir auch ein Treffen zur Vorstellung der Balint-Arbeit verschafft. Ich erkannte mich in einigen diskutierten Situationen und Problemstellungen wieder und fühlte mich wider Erwartens in meinen Idealen bezüglich der patientenorientierten Medizin verstanden und bestärkt, denn (zuvor) und auch jetzt stoße ich häufig auf Unverständnis und werde in Bezug auf die Patienten von „abgeklärten” Kommilitonen für zu sensibel oder emotional gehalten. Wir, die Teilnehmer der damaligen Einführung, wollen demnächst die Balint-Arbeit in einer Anamnesegruppe aufnehmen und auch anderen Medizinstudenten hier in Münster die Gelegenheit geben, ihre Erfahrungen miteinander auszutauschen.

Ich bin froh, dass ich durch diese ersten Erfahrungen früh lernen konnte, mich auf den Patienten einzulassen und mich für ihn als Person zu öffnen. Diese Erlebnisse haben mein persönliches Leben geprägt, somit Einfluss auf mein späteres Handeln genommen, und mich darin bestätigt, dass - neben den theoretischen medizinischen Kenntnissen - eine Sensibilität für den Patienten (die man sich in Eigeninitiative während des Studiums selbst aneignen muss) am meisten einen guten Arzt auszeichnet.

Cathrin Reinecke

Bergstr. 8

57234 Wilnsdorf

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