Z Geburtshilfe Neonatol 2003; 207(2): 48-53
DOI: 10.1055/s-2003-39147
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Projektive Identifizierung und Schwangerschaftsverdrängung - Überlegungen zu Ursachen und Hintergründen der auch ärztlicherseits nicht erkannten Schwangerschaft

Projective Identification and Denial of Pregnancy - Considerations of the Reasons and Background of Unrecognized Pregnancy also Undiagnosed by a PhysicianJ. Wessel1 , J. Endrikat2 , R. Kästner3
  • 1Klinik für Geburtsmedizin, Charité, Campus Virchow-Klinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
  • 2Frauenklinik und Poliklinik, Universitätskliniken des Saarlandes, Homburg/Saar
  • 3Frauenklinik, Ludwig-Maximilians-Universität, München
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Publication History

Eingang: 12.4.2002

Angenommen nach Revision: 11.10.2002

Publication Date:
12 May 2003 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund und Fragestellung: Bei der Schwangerschaftsverdrängung wird die Gravidität auf der bewussten Ebene von der Schwangeren nicht wahrgenommen und im Extremfall tatsächlich erst mit der Geburt offenkundig. Aber auch betreuende Ärzte erkennen die Schwangerschaft oft nicht, obwohl die zum Arztbesuch führenden somatischen Leiden meist typische Schwangerschaftsbeschwerden sind. Bereits in ersten historischen Publikationen wird diese „iatrogene Mitbeteiligung” beschrieben. Zum näheren Verständnis dieser Fehlleistung werden verschiedene Theorien aufgezeigt. Schlichte Wahrnehmungsdefizite oder Inkompetenz sind keine hinreichenden Erklärungen.

Patientinnen und Methodik: 25 Frauen mit Schwangerschaftsverdrängung, Interviews

Psychodynamische Erklärungsversuche: Basierend auf der tief verwurzelten subjektiven Grundhaltung, nicht schwanger zu sein, gelingt es der Schwangeren, auch enge Angehörige sowie ihr soziales Umfeld in die Grundhaltung der Schwangerschaftsverdrängung mit einzubeziehen. Ebenso vermag sie es, auch ihren Arzt in dieser Weise zu beeinflussen. Dabei erleben autosuggestive Wunschvorstellungen der Schwangeren, nicht schwanger zu sein, eine suggestive Bestätigung durch die Fehldiagnose des Arztes und führen zur weitergehenden Verdrängung der Schwangerschaft.

Projektive Identifizierung: Dieser Terminus wurde 1946 von M. Klein eingeführt zur Beschreibung eines bestimmten Abwehrmechanismus, der sich auf Fantasien und begleitende Objektbeziehungen bezieht. Dem Selbst gelingt es zunächst, sich unerwünschter Aspekte zu entledigen, diese abzuspalten und in einer anderen Person unterzubringen, um sie schließlich in veränderter Form wieder zu erlangen. Bestimmte Elemente dieses psychoanalytischen Konzepts können diejenige Interaktion zwischen Arzt und Schwangerer charakterisieren, die bei der Schwangerschaftsverdrängung nicht zur Diagnose der bestehenden Gravidität führt. Die Schwangere vermag im Sinne der Projektion den Arzt so zu manipulieren, dass er entsprechend ihres Wunsches, nicht schwanger zu sein, empfindet und als korrespondierende Gegenleistung die Fehldiagnose erbringt. Die Möglichkeit eines reiferen Umgangs mit den verdrängten Inhalten im Sinne eines psychischen Wachstums durch die richtige Diagnose der Schwangerschaft wird angedeutet.

Abstract

Background: In denial of pregnancy, the pregnant woman does not consciously perceive the pregnancy and, in extreme cases, awareness occurs only during delivery. The attending physicians also often fail to recognize the pregnancy, even though the somatic complaints leading to consultation with a physician are typically pregnancy associated. This „iatrogenic participation” was described in the earliest historical publications. Different theories are presented in this paper to elaborate this phenomenon. Elementary deficiencies in perception or incompetence do not explain most cases.

Patients and Methods: Twenty five women with denial of pregnancy, interviews

Psychodynamic explanations: Based on the deep-rooted subjective attitude of not being pregnant, the pregnant woman is able to include family, friends, and associates into the denial of pregnancy mindset. In a similar way, she is able to influence her doctor. The woman’s autosuggestive wishful notions of not being pregnant receive suggestive confirmation by the physician’s misdiagnosis and lead to a continuing denial of pregnancy.

Projective identification: In 1946, M. Klein introduced this term to describe a certain defense mechanism relating to fantasies and accompanying object relationships. The self initially successfully disposes of unwanted aspects, splits them off, and transfers them to another person, to finally reclaim them in a modified form. Certain elements of this psychoanalytical concept can characterize the interaction between physician and pregnant woman, which, in the case of denied pregnancies, does not lead to a diagnosis of pregnancy. Through projection, the pregnant woman is capable of manipulating the physician so that he perceives her, according to her wishes, as not being pregnant and misdiagnoses her correspondingly as ”service in return”. Opportunities for more mature handling of the denied content in terms of psychological development through accurate diagnosis of the pregnancy are indicated.

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1 Wie tief diese Übezeugung von der Schwangeren erlebt wird, veranschaulichen Brezinka et al.: Noch im Kreißsaal unter der Geburt stehend beschimpfte eine Schwangere Hebamme und Ärzte, man solle endlich „mit dem blöde Gerede von der Geburt aufhören” [16].

2 Projektive Identifizierung und projektive Identifikation können synonym verwandt werden.

Dr. Ralph Kästner

I. Frauenklinik

Klinikum der Universität München

Ludwig-Maximilians-Universität

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