Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2003; 38(6): 381-383
DOI: 10.1055/s-2003-39363
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ärztemangel in der Anästhesie und dessen Ursachen

Lack of Physicians in Anesthesia and its ReasonsA.  Junger1 , G.  Hempelmann1
  • 1Abteilung Anaesthesiologie, Intensivmedizin, Schmerztherapie (Direktor: Prof. Dr. Dr. h.c. G. Hempelmann)Universitätsklinikum Gießen
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Publication Date:
21 May 2003 (online)

Der besondere Beitrag dieser Ausgabe befasst sich mit einem für die klinische Medizin insgesamt und insbesondere auch für die Anästhesiologie und Intensivmedizin außerordentlich wichtigen Thema: dem Mangel an Nachwuchskräften und dessen Ursachen.

Eine im Jahr 1999 von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) initiierte Studie zur Entwicklung des Angebotes und Bedarfs an Anästhesisten prognostizierte einen stetig wachsenden Angebotsüberhang bis zum Jahr 2010 [1]. Bereits zwei Jahre später zeichnete sich in einer von der Geschäftsstelle des BDA durchgeführten Umfrage jedoch ein ganz anderes Bild ab [2]. Von den antwortenden Anästhesie-Abteilungen hatten in den letzen zwölf Monaten 75 % freie Stellen zu verzeichnen. In lediglich 27 % der Fälle konnten diese nahtlos neu besetzt werden; ein Drittel der Stellen war zwölf Wochen oder länger vakant. Die Bewerberlage im Vergleich zu den Vorjahren wurde von 95 % der Befragten als schlechter bzw. deutlich schlechter eingeschätzt. Die Umfrageergebnisse lassen erkennen, dass der Nachwuchsmangel bereits Realität ist, wobei die ländlichen Gebiete in den neuen Bundesländern davon besonders betroffen sind. Wer hätte das damals gedacht?

Krankenhäuser haben generell zunehmend Probleme, offene Stellen im ärztlichen Dienst zu besetzen [3]. Bis zu 42 % der Krankenhäuser in den alten und sogar bis zu 80 % in den neuen Bundesländern verfügen heute über freie Stellen! Dies bedeutet nicht nur eine enorme zusätzliche Arbeitsbelastung für die Kolleginnen und Kollegen im täglichen Dienst [4].

Auch die Chirurgen beklagten auf ihrem diesjährigen Jahreskongress lautstark den Nachwuchsmangel. Bauer [5] spricht sogar von 40 % der Studienabgänger, die sich wegen schlechter Karriereperspektiven anderen Berufsfeldern (Behörden, Versicherungen, Beratungsindustrie) und anderen Ländern (Skandinavien 8000, Großbritanien 2000 Jungmediziner jährlich) zuwenden.

Ursachen hierfür sind eine überalterte Ärzteschaft, mit Einschränkung sinkende Zahlen der Medizinstudenten in den letzten Jahren sowie steigende Zahlen der Studienabbrecher bzw. Studienplatzwechsler. Bereits jetzt gehen junge Kollegen einer lukrativeren Beschäftigung in der freien Wirtschaft - vielfach nach einem Zweitstudium (Medizin + Gesundheitsökonomie) oder im europäischen Ausland nach [6]. Wer meint, einen Arzt in Deutschland nach einer mindestens 15-jährigen Aus- und Weiterbildung (6 Jahre Studium, im Durchschnitt 6 Jahre Weiterbildung zum Facharzt und weitere 3 - 6 Jahre Fortbildung mit zusätzlicher Qualifikation, z. B. Spezielle Anästhesiologische Intensivmedizin, Notarzt/Leitender Notarzt, Schmerztherapeut, Transfusionsbeauftragter etc.) mit einem BAT-Gehalt oder einem wenig besser dotierten Festgehalt bei befristeter Beschäftigung als leitender Angestellter in Chefarztposition für eine deutsche Klinik anwerben zu können, wird sich wundern. Zudem wird es keine erstrebenswerte Position sein, in der man sich zwischen den Mühlsteinen der konkurrierenden operativen Fächer bei dem Gefeilsche um DRG-Anteile zu bewegen hat. Die Fachwechsler bzw. „Landesflüchtigen” sind heute im Gegensatz zu früher die überdurchschnittlich guten Studenten, die beruflich clevere Alternativen ergreifen, um sich in anderen Berufsfeldern zu verwirklichen, bei fast immer deutlich besseren Gehältern.

Die Ergebnisse der Umfrage [7] bei 20 % der im Krankenhaus in nichtleitender Stellung tätigen Kolleginnen und Kollegen, welche die Landesärztekammer Hessen 2000 durchgeführt hat (Rücklaufquote von 51 %), ergaben, dass etwa 40 % der antwortenden Ärztinnen und Ärzte mit ihrer Tätigkeit unzufrieden sind und sich nicht noch einmal für das Medizinstudium entscheiden würden! Krankenhauspersonal wird Mangelware und der Arbeitsplatz Krankenhaus in Deutschland für Deutsche immer unattraktiver.

In dem Beitrag von Boldt [8] zu diesem Thema wird klar, dass unsere Fachdisziplin besonders von dieser Entwicklung betroffen ist bzw. sein wird. Als Gründe für den Personalmangel im ärztlichen Bereich werden vor allem die inhumanen Arbeitszeiten, Schichtdienste sowie Arbeitsbedingungen, das „problematische” Rollenbild der Anästhesie in der Öffentlichkeit und bei Kollegen anderer Fachrichtungen und vor allem die nicht leistungsorientierte Bezahlung diskutiert. Ein weiteres Problem sind die im Vergleich zu anderen Berufen unattraktiv gewordenen beruflichen Endpositionen. Früher konnte man nach einer langen Durststrecke auf eine lukrative Praxis oder eine entsprechende Oberarzt- oder Chefarztposition hoffen.

Außerdem nehmen administrative Aufgaben einen stetig zunehmenden Anteil an der ärztlichen Tätigkeit ein. Trotz umfangreicher unbezahlter Mehrarbeit - zumindest (2 - 3 Stunden täglich!) an Universitäten, unzulässiger Überlastung in häufigen Bereitschaftsdiensten etc. empfindet die überwiegende Mehrheit der jüngeren Krankenhausärzte das Übermaß zu erledigender Verwaltungsarbeit - originäre Aufgabe der in den letzten Jahren überproportional aufgeblähten Administration - mit deutlichem Abstand als besonders unangenehm, gefolgt von Überstunden, Überlastung und zu wenig Zeit für die Patienten [9] sowie die Forschung.

Auch die nicht enden wollende und kostspielige Aus- und Weiterbildung, die zumeist aus eigenen finanziellen und zeitlichen Mitteln aufgebracht wird, ist dabei zu nennen [10]. Eine strukturierte Weiterbildung zum Facharzt wird in den wenigsten Kliniken angeboten - dagegen gibt es heute fast immer Zeitverträge, oft nur für die Dauer von ein oder zwei Jahren. Hier muss klar betont werden, dass die Güte einer ärztlichen Weiterbildung in Struktur und Inhalt ein wesentlicher Faktor für die Anwerbung qualifizierter Assistenten ist und in Zukunft noch mehr sein wird.

Kein Zweifel, der Arztberuf hat aus den beschriebenen Gründen deutlich an Attraktivität verloren - politisch gewollt! Dies betrifft besonders junge Kolleginnen mit ihrer besonderen Problematik zwischen Familie und Beruf. Die extreme Hierarchie, der Umgangston und die besondere körperliche wie auch psychische Arbeitsbelastung werden von der heutigen Studentengeneration als besonders unangenehm und nicht mehr erstrebenswert betrachtet. Des Weiteren hat die persönliche Lebensqualität im Vergleich zu früheren Generationen eine wachsende Bedeutung erlangt [11]. Um das Blatt wenden zu können, muss dies bei der Arbeitsplatzgestaltung unbedingt berücksichtigt werden.

Die Tarifvertragsparteien, Krankenkassen und die Politik sind aufgefordert, für die notwendigen Rahmenbedingungen zu sorgen. Die Tarifpartner sollten eine höhere Vergütung, insbesondere für die Ärzte im Praktikum, möglichst kurzfristig umsetzen; AiP’ler und Jungärzte schlechter zu bezahlen als Fachpflegekräfte war zu Zeiten einer Ärzteschwemme und eines künstlichen Pflegenotstandes wohl durchsetzbar, führt heute jedoch mit Sicherheit zu einer Unterversorgung und qualitativ schlechteren Versorgung von Patienten - und das im eigentlichen Wertschöpfungsbereich. Die Verantwortung hierfür liegt jedoch nicht nur bei den Politikern, Tarifpartnern und Kliniken, sondern auch bei den Angehörigen unseres Faches in leitenden Positionen. Sie gestalten aktiv den Klinik- und Forschungsalltag mit und bestimmen mit Einschränkungen wichtige Randbedingungen für jüngere Kollegen. Klar definierte Poolbeteiligungen gibt es nur in wenigen Bundesländern; bei Festverträgen entfallen sie ohnehin.

Welchen Beitrag können wir leisten? Auch wenn sie unangenehm sind, müssen wir uns folgende Fragen stellen: Haben wir nicht jahrelang durch „Nichtdokumentieren” von Überstunden und „Einspeisung” von Drittmittel- und Forschungsstellen in die klinische Routine den tatsächlichen Personalbedarf in der klinischen Versorgung verschleiert? Haben wir immer eine optimale Ausbildung unserem Nachwuchs geboten? Sind wir nicht selber ein Teil des hierarchischen Systems, was als so unangenehm empfunden wird?

Derzeit verfügen die meisten Krankenhäuser über eine divisionale Organisationsform mit diesen hierarchischen Strukturen und ausgeprägten Dienstleistungen. Hierarchisches fachabteilungsbezogenes Denken, Rückdelegation von Aufgaben, Abweisen von Verantwortung und somit auch lange Reaktionszeiten auf Entscheidungen sind Merkmale dieser Krankenhausorganisationen. Die Organisation eines modernen Krankenhauses muss jedoch zukünftigen Anforderungen entsprechen, d. h. die Organisation muss u. a. die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Unternehmensprozesse unterstützen, die Motivationsanreize für die Mitarbeiter fördern, die Reaktionszeiten bei Entscheidungsproblemen verkürzen und ein erhöhtes Maß an Innovationsfähigkeit zulassen. Dies kann nur durch Organisationsstrukturen geleistet werden, die flache Hierarchien, mitarbeiterorientierte Personalführung und einen kooperativen Führungsstil beinhalten.

Hierfür gibt es etablierte Lösungsstrategien und Instrumente aus dem modernen Management. So kennt z. B. das Total Quality Management (TQM) nicht nur den externen (Patient) sondern auch den internen Kunden (Mitarbeiter), dessen Zufriedenheit von entscheidender Bedeutung für den Erfolg eines Unternehmens ist. Der Aspekt „Mitarbeiterzufriedenheit” wurde auch bei der Implementation des neuen Zertifizierungsverfahrens für Krankenhäuser der Kooperation für Transparenz und Qualität im Krankenhaus (KTQ) berücksichtigt und großgeschrieben [12], bewirkt hat es allerdings bisher nicht viel (außer Kosten !!!).

Die zunehmende Delegation von Entscheidungen, Einbau von Arbeitsgruppen und Implementation von Teamstrukturen sowie verstärkte Berücksichtigung der Projektorganisation sind organisatorische Mittel, mit denen sich flachere Hierarchien in der Krankenhausorganisation erreichen lassen. Ob Begriffe wie „Mitarbeiterzufriedenheit”, „Mitarbeitermotivation” oder TQM gelebt werden, oder wie Boldt befürchtet, nur Zauberworte oder Worthülsen bleiben, können wir in erheblichem Maße mitentscheiden. Auch Dudziak [13] hat in seiner Abschiedsvorlesung als Lehrstuhlinhaber für Anästhesiologie am 2.5.2003 beklagt, dass Ästhetik, Ethik und Logik im Rahmen der Kultur der deutschen Lehrstühle an Bedeutung verloren haben. Nicht nur für junge Ärzte, insbesondere für Patienten hat sich die Situation geändert; sie sind zu Kunden degradiert worden, was wiederum negative Rückwirkungen auf unsere Nachwuchskräfte haben dürfte.

Andererseits sind dem Ärztemangel aus der Sicht der jungen Kollegen durchaus auch positive Aspekte abzugewinnen. Heute kann man sich als Arzt oder Ärztin die Stellen aussuchen! Die Rollen beim Vorstellungsgespräch haben sich geändert; junge Kollegen sind nicht mehr darauf angewiesen, alles hin- oder anzunehmen, was ihnen vorgesetzt wird. Die Zeiten, in denen nicht nur Berufsanfänger bereit waren, nach monatelangem „Klinkenputzen” für ein halbes Gehalt eine ganze Stelle anzutreten, sind vorbei. Wir haben es heute mit einer selbstbewussteren Generation zu tun, die bestens über ihren Marktwert Bescheid weiß.

Es kommt jetzt darauf an, die beschriebenen Problemfelder rational und vor allem schnell zu lösen. Alle Beteiligten, auch wir Ärzte, sind in der Verantwortung, praktikable Lösungen anzubieten und diese in die Praxis umzusetzen.

Literatur

  • 1 Infratest Epidemiologie und Gesundheitsforschung .Entwicklung des Angebotes und Bedarfs an Anästhesisten bis zum Jahr 2010. Untersuchung für die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und den Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA), März 1999. 
  • 2 Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) .BDA-Umfrage zur Arbeitsmarktsituation in der Anästhesiologie. Dezember 2001. 
  • 3 Deutsches Krankenhausinstitut e. V. .Krankenhausbarometer Herbstumfrage 2002. Februar 2003. 
  • 4 www.ak-junge-aerzte.de. 
  • 5 Bauer H. Chirurgenkongress 2003, München. 
  • 6 Kassenärztliche Bundesvereinigung .Gehen dem deutschen Gesundheitswesen die Ärzte aus? Studie zur Altersstruktur- und Arztzahlenentwicklung. Dezember 2001. 
  • 7 Möhrle A. Deutschlands Ärzte - eine bedrohte Spezies.  Hess Ärztebl. 2002;  63 126-127
  • 8 Boldt J. Anästhesisten-Mangel - oder wie bekommen wir die Besten.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2003;  38 383-387
  • 9 Kaiser R H, Kortmann A. „Mißbrauch” von Bereitschaftsdienst zu Routinetätigkeit und Unzufriedenheit mit dem gewählten Beruf bei hessischen Krankenhausärzten.  Hess Ärztebl. 2002;  63 128-131
  • 10 Blobner M, Kochs E. Anästhesie heute.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2003;  38 241-254
  • 11 Biedenkopf A. Die Entscheidung nach dem PJ: Chirurgie - Ja oder Nein?.  Mitt Dtsch Ges Chir. 2002;  2 115-119
  • 12 www.ktq.de. 
  • 13 Dudziak R. Abschiedsvorlesung 2.5.2003. Frankfurt: Über die Wandlung der Kultur des medizinischen Lehrstuhls. 

Dr. med. Axel Junger

Abteilung Anaesthesiologie, Intensivmedizin, Schmerztherapie, Universitätsklinikum Gießen

Rudolf-Buchheim-Str. 7

35392 Gießen

Email: Axel.Junger@chiru.med.uni-giessen.de

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