PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(3): 288-290
DOI: 10.1055/s-2003-41841
Interview
Aus der Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Schönste ist ein leerer Kopf!

Interview mit einer PatientinMichael  Broda
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
03. September 2003 (online)

Patientin Frau K., 34 Jahre alt, ein Kind, geschieden, Industriekauffrau. Seit 2000 nach einem stationären Psychiatrieaufenthalt wegen Handlungs- und Gedankenzwängen in ambulanter niederfrequenter Verhaltenstherapie, bislang 33 Sitzungen.

PiD: Herzlichen Dank, dass Sie sich bereit erklärt haben, für das Interview zur Verfügung zu stehen. Vielleicht können Sie unseren Lesern kurz schildern, wie bei Ihnen die Entwicklung der Zwangsbeschwerden angefangen hat, und wichtige Stationen in Ihrer Leidens- und Behandlungszeit nennen.

Frau K.: Angefangen hat es schon in der Kindheit, so ohne dass ich das richtig mitbekommen habe. Ausgebrochen ist es dann während meiner Schwangerschaft, das war 1995. Ich hatte Kontrollzwänge, Reinigungszwänge, Gedankenzwänge und Depressionen.

PiD: Welches waren die ersten Symptome, die sie gemerkt haben?

Frau K.: Die ersten Symptome waren, dass ich vor der Arbeit (normalerweise bin ich aufgestanden, habe gefrühstückt, mich fertig gemacht und bin weg) noch schnell das, dies und jenes machen musste, und so hat sich langsam ein Zwangsverhalten eingeschlichen, bis ich zum Schluss alles exzessiv mehrmals am Tag machen musste. Ich war dann durch die Schwangerschaft schon früh zu Hause, bin nicht mehr arbeiten gegangen und habe dadurch noch mehr Zeit für die Zwänge gehabt.

PiD: Auf welche Tätigkeiten oder Objekte hat sich der Zwang hauptsächlich gerichtet?

Frau K.: Auf die Wohnungseinrichtung, seltener auf mich selbst oder meinen damaligen Mann. Meistens war es die Wohnungseinrichtung.

PiD: Können Sie im Nachhinein eine Vermutung aussprechen, warum Sie zwangskrank wurden?

Frau K.: Ich kann spekulieren, dass es die Angst um mein Kind war, das eventuell krank auf die Welt kommen könnte.

PiD: Wie hat sich denn dann die Beziehung zu Ihrem Mann unter der Erkrankung weiter entwickelt?

Frau K.: Er war von Anfang an eher gleichgültig der Sache gegenüber. Er hat mich zwar zunächst zum Neurologen begleitet und war einmal in einer früheren Therapie mit dabei, aber je länger die Sache dauerte, umso gleichgültiger ist er geworden. Er hat mich eigentlich nicht unterstützt und mir schon gar nicht irgendwie geholfen. Zum Schluss, als es zum Höhepunkt kam, hat er mich deswegen verlassen.

PiD: Wie war dieser „Höhepunkt” aus Ihrer Sicht? Was haben Sie dabei erlebt, wie war das für Sie?

Frau K.: Der Höhepunkt war ein Handlungszwang - es waren wahnsinnig viele Handlungen, die ich machen musste, 10- bis 20-mal immer wieder das Gleiche. Ich war von morgens bis abends immer auf den Beinen und habe irgendetwas geputzt oder gereinigt. Kurz vor meinem stationären Aufenthalt waren auch die Gedankenzwänge extrem. Aus einem kleinen Gedanken hat sich immer weiter eine Gedankenlawine entwickelt: „Was passiert, wenn ich das oder dies nicht mache?” Depressionen kamen auch noch dazu.

PiD: Und nebenher haben Sie es immer noch geschafft, die Versorgung Ihres Sohnes sicherzustellen?

Frau K.: Das habe ich nur geschafft, weil ich kaum mehr geschlafen habe. Ich bin immer sehr früh aufgestanden, das mache ich heute noch. In der Zeit habe ich dann versucht, meinen Zwang zu befriedigen. In der Zeit, in der mein Sohn wach war, habe ich versucht, nicht zu „zwängeln”, sondern mich, so gut es ging, ihm zu widmen. Das hat am Anfang, als er noch ganz klein war, gut funktioniert. Jetzt da er größer ist, kann ich auch in seiner Gegenwart „zwängeln”, weil er mich nicht mehr so sehr braucht.

PiD: Sie haben dann einen stationären Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich gebracht. War das der Wendepunkt in der Entwicklung der Symptomatik oder wie beurteilen Sie den Aufenthalt im Nachhinein?

Frau K.: Der Aufenthalt dort war nicht der Wendepunkt. Der Wendepunkt war das, was mir dort passiert ist, nämlich dass mich mein Mann verlassen hat. Irgendwie musste ich dann weiter kämpfen, ich war ganz allein, musste mich um meinen Sohn kümmern, musste alles organisieren, neue Wohnung, Arbeitsplatz - den ich unter Zwang gekündigt habe. Es war nicht die stationäre Behandlung, die hat mich eher nur etwas ausruhen lassen, ich konnte etwas Abstand gewinnen von allem, ich war etwas befreiter von den Zwängen. Aber dass es großartig geholfen hat, glaube ich nicht. Das Einschlagende war, dass mein Mann mich damals verlassen hat und ich dann nur so schnell wie möglich dort raus wollte und versuchen wollte, wieder auf die Beine zu kommen.

PiD: Wenn Sie sich die Veränderungen der Symptomatik in den letzten Jahren anschauen, was sind die wichtigsten Erfolge gewesen, die Sie für sich verzeichnen konnten und wie hat sich die Veränderung des Zwanges psychisch auf Sie ausgewirkt?

Frau K.: Das Wichtigste war, dass ich am Schluss endlich den richtigen Therapeuten gefunden habe - nach zwei Fehlversuchen: einmal Verhaltenstherapie mit einer Frau, die nichts gebracht hat, und das andere war eine Gesprächstherapie, die hat gar nicht geholfen. Schließlich und endlich hat mir in der jetzigen Therapie immer am meisten geholfen, dass Sie am Anfang gesagt hatten: „So und so machen Sie dies, weil es so und so eben richtig ist.” Es war für mich immer am wichtigsten, dass Sie entschieden hatten, wie ich es zu machen habe, ich musste gar nicht darüber nachdenken, weil Sie gesagt haben, dass es so richtig sei und Schluss.

PiD: Also haben Sie eine Art „Versicherung” gebraucht, wie machen es andere oder in welcher Häufigkeit oder Intensität ist etwas akzeptabel und ab wann nicht mehr.

Frau K.: Ganz genau. Weil ich das selbst alles gar nicht mehr wusste oder mir selber nicht mehr geglaubt habe. Ich habe damals ständig gefragt, wie mache ich dies, wie mache ich das, die einfachsten Sachen - wann muss ich etwas abwischen, wann nicht - wann kommt das dran, wie oft muss ich die Betten beziehen, wie oft muss ich das Auto putzen - und dann sagten Sie „das reicht alle vier Wochen” oder „das braucht man nicht jeden Tag zu machen”, und daran habe ich mich gehalten, und dies hat mir sehr viel geholfen. Es war jemand da, der gesagt hat „so machen wir das jetzt”, ich musste nicht allein entscheiden.

PiD: Wie hat sich diese Veränderung psychisch auf Sie ausgewirkt? Was für eine Stimmung hat sich eingestellt oder wie haben Sie sich da verändert?

Frau K.: Zuerst möchte ich noch etwas erwähnen, was mir auch geholfen hat, es waren die Medikamente, die ich eingenommen habe, ich glaube zumindest, dass sie mir geholfen haben. Auch vielen Dank an die Neurologin, die mir viel geholfen hat. Zusammen mit der ganzen Therapie, Neurologe, Therapeut und Medikamenten sind dann die Gedankenzwänge fast vollständig verschwunden, und durch die Verhaltenstherapie habe ich einen großen Teil von meinen Handlungszwängen ganz gut in den Griff bekommen. Restzwänge sind auf jeden Fall noch da, und ich würde auch nicht sagen, dass ich völlig glücklich bin, aber ich komme recht gut im Leben zurecht.

PiD: Spüren Sie in der psychischen Befindlichkeit eine Erleichterung oder eine größere Ausgeglichenheit gegenüber früher, wie wirkt es sich bei Ihnen aus?

Frau K.: Ich sage immer wieder, das Schönste im Nachhinein ist ein leerer Kopf. Also ein Kopf ohne Gedanken ist etwas ganz Tolles. Man kann irgendwo sitzen, ohne dass irgendwelche Gedanken einen quälen. Ruhe im Kopf!

PiD: Wenn heute noch Zwangshandlungen auftauchen, gelingt es Ihnen dann, einen Zusammenhang herzustellen zu anderen belastenden Lebenssituationen, in denen Sie sich gerade befinden?

Frau K.: Dadurch, dass mich mein Therapeut immer gefragt hat „Warum” oder „Können Sie sich vorstellen, warum Sie dies gemacht haben?”, habe ich angefangen darüber nachzudenken. Er hat mich darauf gebracht, dass immer irgendwelche Stresssituationen diese Zwangssymptomatik auslösen. Wenn ich dann darüber nachgedacht habe, musste ich feststellen, dass er Recht gehabt hat. Es war immer irgendwelcher familiärer Stress, beruflicher Stress, und dann war es auch mit den Zwängen wieder schlimmer. Was besonders belastend ist, ist der Umstand, dass ich im Beisein von meinem Sohn innerlich immer sehr unruhig bin und am liebsten viel „zwängeln” würde. Vielleicht hängt es mit seinem Problem (er hat ADS) zusammen, dass er mich so unruhig macht.

PiD: Also, dass die Unruhe in der Symptomatik Ihres Sohnes bei Ihnen zu einer stärkeren Verspannung führt und damit es wahrscheinlicher werden lässt, dass Impulse hochkommen, wieder Zwangshandlungen auszuführen?

Frau K.: Ja, eben weil es stressreicher ist sich um ihn zu kümmern als um ein Kind ohne ADS. Er braucht viel mehr Zuwendung, und er braucht viel mehr Erklärung, Ermahnung, und das kostet alles Kraft und Zeit. Aber wenn man „zwängelt”, dann ist Zeit etwas, von dem man nicht genug hat. Damit man alles in Ruhe „abzwängeln” kann.

PiD: Als ich Sie kennen lernte, haben Sie sehr negativ über sich gedacht. Also, dass Sie keine gute Mutter sein könnten, dass Sie zu nichts taugen, dass Sie hauptsächlich aus Zwang bestehen. Wenn ich Sie heute erlebe, erlebe ich eine junge Frau, die in ganz großen Teilen in der Lage ist, ihr Leben als Berufstätige und allein erziehende Mutter selbständig in den Griff zu bekommen. Wie wichtig ist für Sie der Anteil von Selbstbewusstsein im Zusammenhang mit Ihrer Symptomatik?

Frau K.: Selbstbewusstsein ist immer gut, auch wenn man nicht krank ist. Leidet man an so einer psychischen Erkrankung, finde ich das Selbstwertgefühl natürlich sehr wichtig, wobei Sie immer behauptet haben, ich hätte welches, aber das stimmt überhaupt nicht. Sie sagen es mir nur immer, reden mir dies ein und fast glaube ich daran. Nein, ich denke, ein bisschen mehr Selbstbewusstsein habe ich auf jeden Fall gewonnen, seit es mir besser geht. Viele Dinge gelingen, viele Zwangssituationen, die ich ausgemerzt habe oder stark zurückgeschraubt habe, bringen schon Selbstbewusstsein, auch wenn ich es selbst oft nicht glaube.

PiD: Wie gut gelingt es Ihnen eigentlich, Ihren eigenen Willen, das was Sie an Handlungen durchführen wollen und was Sie nicht wollen, siegen zu lassen gegenüber dem Zwang?

Frau K.: Dies ist ganz wichtig, es ist abhängig von der Tageszeit. Es gelingt mir abends besser, da symbolisch der Tag bald abgeschlossen ist und ich morgens dann gleich wieder von vorne anfangen und alles ins Reine bringen kann. Später am Tag gelingt es mir besser als gleich morgens oder nachmittags.

PiD: Was würden Sie anderen PatientInnen mit einer ähnlichen Symptomatik raten, wie sie Fortschritte erzielen können. Nicht nur in Bezug darauf, sich einen geeigneten Therapeuten oder eine Therapeutin zu suchen, sondern was würden Sie denen noch empfehlen?

Frau K.: Was ganz wichtig ist, dass man selber an sich glaubt. Alle andern können mithelfen, der Therapeut kann einem helfen, die Medikamente helfen. Als ich dann soweit mit den Medikamenten war, dass ich einigermaßen ruhig im Kopf war, wieder klar denken konnte, konnte ich aus eigener Kraft manches schaffen, was ich in der Therapie gelernt habe. Zum anderen habe ich auch wieder Dinge probiert, die ich nicht dort gelernt habe, sondern weil ich sie tun wollte. Dann habe ich manches getan oder versucht und wenn dies gelungen ist, war es gut. Ich denke, man muss sich zum größten Teil selber rausziehen, sonst schafft es keiner. Ich sage immer wieder: Es waren ich selbst, die Neurologin, die Medikamente und der Therapeut. Die vier zusammen, die passen.

PiD: Haben Sie ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

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