Balint Journal 2003; 4(4): 97-100
DOI: 10.1055/s-2003-45177
Original
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Ordnung der anderen

K. Dörner1
  • 1Hamburg
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Publication Date:
02 January 2004 (online)

Die ungewöhnliche Formulierung dieses mir gestellten Themas musste ich mir erst erschließen, um Ihnen mein Ergebnis mitteilen zu können. Üblicherweise spricht man von „der Ordnung des Anderen”. Deren besondere, einmalige Konkretheit, wenn er - anders, fremd - in mich einfällt, mir ins Gesicht springt, bildet ein Spannungsfeld mit meinem gleichzeitigen Wissen, dass er als Patient für mich als Arzt nur einer von den vielen anderen (Patienten) ist, die ihre eigene Ordnung haben. In jede ärztliche Handlung oder Beziehung spielen mir aber noch weitere andere mit ihren Ordnungen hinein; das sind einmal die Angehörigen und zum anderen die Bürger, alle Bürger der Kommune, des Stadtviertels, des Dorfs, für die oder das ich verantwortlich bin. Auch nur einen dieser Horizonte zu vergessen, bedeutet, nicht mehr vollständig Arzt zu sein.

Wenn ich mit der erfahrungswissenschaftlichen, also phänomenologischen Beschreibung erst mal des einen Anderen - innerhalb der konkreten Arzt-Patient-Beziehung - beginne, nimmt sich das zunächst harmlos aus. Seine Ordnung ist nicht meine Ordnung. Aber von meiner Ordnung her gesehen ist die Ordnung des Anderen außer-ordentlich, außerhalb - und zwar kategorisch - meiner Ordnung, „woanders” (Rimbaud), wo meine Regeln, meine Interessen, meine Bedeutungen nicht gelten, sondern seine, die ich nicht kennen kann. Und aus diesem mir Unbekannten verstört mich der Blick seiner sprechenden Augen, erreicht mich sein An-spruch, vernehme ich sein Fragen, auf das ich zu antworten habe.

Meine Antworten, meine Ver-antwortung also, meine Responsivität muss jedes Mal eine eigene, neue Rationalität nicht finden, sondern erfinden, da mir der oder das unbekannt ist, worauf ich antworte. Der Abgrund zwischen seiner und meiner Ordnung ist durch keinen symmetrischen Dialog auf derselben Ebene, auf gleicher Augenhöhe, durch kein Verstehen, schon gar nicht durch (immer an-eignende) Em-pathie überbrückbar. Der Abgrund ist unüberbrückbar, der Abstand ist unendlich. Und nur das Halten, das Aushalten dieses Abstands, der Unerreichbarkeit des Anderen, seiner Unverstehbarkeit, seiner Unverfügbarkeit konstituiert die Würde des Anderen, die in seiner Selbstzweckhaftigkeit besteht, während meine darin besteht, ihr zu dienen.

Das Gelingen meiner Antwort, meiner Ver-antwortung hängt also davon ab, dass ich

den Abgrund, die Andersartigkeit, Fremdheit des Anderen, die Differenz halte, herstelle, vertiefe, respektiere, wertschätze; auf die Verführungen des Verstehens, des Konsenses nicht hereinfalle; die Freiheit des Anderen nicht in der meinen ihren Anfang finden lasse; stattdessen auf die beiden asymmetrischen Dimensionen meiner Beziehung vom Anderen her (s. u.) setzte; die Begegnung nicht unter dem Heimspielvorteil, sondern zwischen den beiden Ordnungen, auf der Grenze, im Niemandsland stattfinden lasse; und schon mit meiner leiblichen Grundhaltung ausdrücke, dass mein Antworten nicht nur eine Welturaufführung ist, sondern auch eine Gabe und eine Erfindung nur auf Probe, eingebettet in die unbedingte Glaubwürdigkeit der Bereitschaft, mich jederzeit vom Anderen korrigieren/verbessern zu lassen; denn zwar bin ich als Arzt dazu verurteilt, antwortend mit einem Sprechen (auch Schweigen) oder Tun zu beginnen, aber nur der Andere kann mir signalisieren, was davon ihm angemessen ist.

Um vielleicht verständlicher zu machen, wie und wo ich zu diesen Erfahrungen gekommen bin, kurz zwei meiner prägendsten ärztlichen Bildungserlebnisse. Einmal ist das die Erfindung der Angehörigengruppe, begleitend zur ersten Tagesklinik 1972 in Hamburg: erst im Schutz dieses settings (Ausschluss der Patienten, Angehörige gegenüber Profis in der Mehrheit) waren die Angehörigen in der Lage, erstmals ihre Wahrheit auszusprechen. Und ich war erstmals in der Lage, die Angehörigen nicht mehr nur als die anderen und als funktionelle Appendices der Patienten, sondern jeden einzelnen als eigenständigen Anderen mit seiner eigenen Ordnung wahr- und ernstzunehmen. Kaum je hat mich eine Entdeckung mehr beschämt, und seither halte ich ärztlich nur noch die trialogische Bezeichnung „Arzt-Patient-Angehörigen-Beziehung” für zulässig. Das andere Bildungserlebnis betrifft die kollektive Ohrfeige, die mir die 435 Gütersloher lebenslänglichen Langzeitpatienten verpasst haben, als sie mir 1980 auf meine Frage, ob sie nicht entlassen werden wollten, zu über 90 % antworteten, sie seien viel zu krank, hätten Heimatrecht und seien eigentlich wunschlos glücklich (obwohl sie 15 Jahre später alle in eigenen Wohnungen lebten). Der Sinn dieser Ohrfeige: „Solange Du uns (z. B. unsere Zeit von 30 Jahren Anstalt) mit Deiner unsittlichen Frage derart verachtest und so lange Du uns nur „entlassen” willst (Subjekt entlässt Objekt), also den Abgrund zwischen uns nicht halten willst, verrätst Du nur, dass Du unsere Ordnung durch Deine Ordnung uns objektivierend einfach ersetzen willst, müssen wir also unsere Ordnung gegen Deine Ordnung setzen, schon um Dir eine Entwicklungschance zu gewähren.” Diese Chance zu nutzen, war für mich so schwer wie heilsam, wobei mir sicher auch die diversen Schriften des litauisch-französischen Rabbilehrers Emmanuel Levinas und des Bochumer Philosophen Bernhard Waldenfels geholfen haben.

Diesen meinen Bildnern, den Angehörigen und den Langzeitpatienten (die Bürger schiebe ich erst später nach), verdanke ich somit auch mein schon angedeutetes Dimensions-Modell für das Beziehungsdilemma (Beziehung als beziehungslose Beziehung): Zunächst finde ich in jeder meiner Beziehungen, in jeder Begegnung meiner Ordnung mit der eines Anderen, eine aktiv-asymmetrische Subjekt-Objekt-Dimension, in der ich den Anderen versuche zu objektivieren, mir einzuordnen, besserwisserisch anzueignen, zu instrumentalisieren usw. Damit diese nicht zu mörderisch (vor allem wenn geleugnet!) wird, finde ich in jeder meiner Beziehungen auch die umgekehrte passiv-asymmetrische Objekt-Subjekt-Dimension, freilich nach unseren Aufmerksamkeitsgewohnheiten viel verborgener, also die Dimension meiner Empfänglichkeit/Gastlichkeit für das Gebot des nackten, ungeschützten Antlitzes des Anderen, ihn nicht zu töten, zu entwerten, allein zu lassen, vielmehr ihm zu dienen, hörbar in der Stimme meines Gewissens, die zu überhören ich natürlich stets die Freiheit habe. In der ersten Dimension bin ich zu intentional auf den Anderen, in der zweiten umgekehrt-intentional, nämlich vom Anderen her, ihm passiv ausgesetzt; beide sind von der einen oder anderen Seite her zu intendieren, herstellbar. Dazwischen liegt die von uns allen so sehr gewünschte Subjekt-Subjekt-Dimension. Diese aber lässt sich nicht intendieren, herstellen, entzieht sich, je mehr und je frontaler ich sie wünsche, so lange der Andere Mensch und nicht Sache ist. Sie kann sich vielmehr nur ergeben - in dem Maße, wie es mir gelingt, die starke aktiv-asymmetrische in die schwache passiv-asymmetrische Dimension einzubetten. Dann leuchtet sie vorübergehend, wie eine Spur, die sich mir manchmal entdeckt, auf.

Kriterien für eine gelingende Arzt-Patient-Angehörigen-Beziehung ist also, dass sie gleichsinnig an Abstand und Nähe zunimmt, und zwar in dieser Reihenfolge: Nähe im Schutz von Abstand.

Auf diesem Hindergrund möchte ich jetzt das Spannungsfeld zwischen den Ordnungen der verallgemeinerten anderen und der Ordnung des konkreten Anderen ethisch entfalten; denn moralisch folgen die ersteren der Gerechtigkeits-Perspektive und orientiert sich die letztere an der Sorge-Perspektive. Wiederum ist das Verhältnis zwischen beiden Perspektiven entscheidend für die Beziehungen und das Handeln des guten Arztes.

Die Medizinethik ist nun seit Beginn der Moderne (etwa 1800) und seit die Medizin sich verwissenschaftlicht, an der von Kant stammenden Gerechtigkeits-Ethik orientiert, etwa mit den bekannten 4 Prinzipien, dass man dem Patienten wohl tun soll, ihm nicht schaden, seine Autonomie achten und gerecht sein soll, wobei gerade das letztere Prinzip die Norm beinhaltet, dass mein Tun für alle gleich, also verallgemeinerbar, universalisierbar sein soll. Diese ethische Begründung meines ärztlichen Handelns ist bis heute fraglos gültig; und dennoch mehren sich seit langem die Stimmen, denen das für eine vollständige Beschreibung der ärztlichen Grundhaltung nicht genügt; es scheint etwas für den Praxisalltag zu fehlen.

Hierzu zwei Situationen, zwei Erfahrungen, die wir wohl alle von uns kennen: Ich komme morgens auf meine Klinikstation und versuche, - natürlich gerecht - meine Zeit, Aufmerksamkeit, Liebe usw. auf alle Patienten gleich zu verteilen; das Ergebnis wird zwangsläufig sein, dass alle Patienten zu wenig von mir bekommen und zumindest emotional verhungern. Daher werde ich, wenn ich mit einem einzelnem, konkreten Patienten aus Fleisch und Blut für zwei oder zehn Minuten in eine Beziehung eintrete, eine Haltung einnehmen, wonach für diese konkrete Situation nur dieser eine einzige Patient für mich da ist, der Rest der Welt bedeutungslos wird, und für die Zeit dieser Situation werde ich sämtliche Ressourcen der Welt nur diesem einzelnen Anderen zubilligen - in höchstem Maße ungerecht. Die andere Erfahrung verdanke ich meinem Vater, Hausarzt im Ruhrgebiet, der mir eingebläut hat: Wenn ich morgens in meine Praxis gehe, verschaffe ich mir einen Überblick über all die Patienten, die heute vermutlich zu mir kommen werden und nehme mir vor, für die chancenlosesten, entferntesten, „letzten” Patienten mir etwas mehr Zeit zu nehmen, die ich den mir näheren, sympathischeren Patienten abziehe - unter dem Aspekt der Gleichbehandlung ebenfalls sehr ungerecht.

Aus Erfahrungen dieser Art ist in den letzten Jahrzehnten, insbesondere in den USA, ein der Gerechtigkeits-Ethik gegenläufiges oder zumindest sie ergänzendes Ethik-Konzept entwickelt worden: care ethics, von mir mit Sorge-Ethik übersetzt. Dieses Konzept stammt vor allem aus ärztlichen Erfahrungen, aus der Frauenbewegung, aus der Pflege-Wissenschaft, aber auch aus philosophischen Überlegungen in Frankreich, hier vor allem von Levinas 1) ausformuliert. Für ihn beginnt jede neue Beziehung mit einem Anderen mit etwas, das wir alle kennen, aber meist übersehen, nämlich mit dem Blick der sprechenden Augen aus dem nackten-ungeschützten Gesicht des Anderen, der lange bevor auch noch ein Wort gefallen ist, mir mit seinen Augen bedeutet, dass ich für ihn da zu sein habe, mich ihm aussetzen, in seinen Dienst treten soll. Natürlich kann ich in der Realität diese asymmetrische Befehlsbeziehung vom Anderen her, durch die er seine Schwäche zu einer Stärke macht, in den Wind schlagen, beiseite schieben; bloß dass ich dann die Strenge dieser Gebotsstimme, die zur Stimme meines Gewissens wird, zum Schweigen bringen muss. Wenn ich in Diskussionen mit Klinikärzten frage, wer dies von sich kennt, melden sich meist zuerst ausgerechnet die chirurgischen Notärzte oder die Rettungsdienstärzte: „Klar kenne ich das von mir, wenn ich auch noch nicht darüber nachgedacht habe: wenn ich zu einem Notfallort komme, suche ich intuitiv zunächst die Augen des Anderen, lasse mich von diesen sprechenden Augen bewegen und signalisiere mit meinen Augen, dass der Befehl des Anderen bei mir angekommen sei, sodass er sich jetzt fallen lassen könne, Vertrauen haben könne, lange bevor sich die Gerechtigkeitsfrage eines Behandlungsvertrages zwischen autonomen Individuen stellt; dies ist eine Sache von Sekunden”.

Was liegt näher, als den Versuch zu starten, beide Ethik-Konzepte - die Gerechtigkeit und die Sorge und damit die Ordnungen der anderen und die Ordnung des Anderen - miteinander zu vereinigen? Dies empfiehlt sich übrigens auch schon aus formalen Gründen: Wenn Sie ein moralisches Dilemma haben, und suchen nach einer einschlägigen Norm, kann ich Ihnen nur empfehlen, nicht nur eine, sondern zwei komplementäre Normen zu finden, weil sich in deren Spannungsfeld das anstehende moralische Problem am besten lösen lässt. Denn jede noch so segensreiche Einzel-Norm neigt dazu, sich zu verabsolutieren, und dann kann sie auch mörderisch werden: die verabsolutierte Gerechtigkeit endet im bloßen Formalismus der menschlichen Beziehungen und im emotionalen Wärmetod der beteiligten Personen; die sich verabsolutierende Sorge steht in der Gefahr, zur „fürsorglichen Belagerung”, zum aneignenden Paternalismus zu werden. Hat man aber zwei gegenläufige Normen, so können diese sich gegenseitig gegen die Gefahr der Verabsolutierung kontrollieren.

Mein Versuch der Fusion von Gerechtigkeit und Sorge ist natürlich nur ein Diskussionsvorschlag. Dabei habe ich der Gerechtigkeits-Ethik vor allem den Universalisierungsanspruch entnommen, der Sorge-Ethik die Figur der Beziehung vom Anderen als dem Letzten her, eine Beziehung, in der ich auf die mir gebietende Stimme des Anderen höre - in Gehorsam - aber auch ohne Hörigkeit (z. B. Konsumansprüchen gegenüber). Ich nenne meinen Vorschlag - bewusst im Formulierungsmodus von Kant - einen „kategorischen Imperativ”. Er lautet: „Handle in deinem Verantwortungsbereich so, dass du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen (an Zeit, Kraft, Manpower, Aufmerksamkeit, Liebe) immer beim jeweils Letzten beginnst, bei dem es sich am wenigsten lohnt”.

Dieser für die Praxis gerade der Begleitung chronisch Kranker hilfreiche und bewährte Satz kann natürlich, wenn man ihn bloß hört, nur als Provokation erlebt werden, die man abzuwehren bestrebt sein muss. Daher hier wenigstens einige kurze Erläuterungen in sieben Schritten:

Dieser Satz ist einerseits wahr; er ist nicht zu widerlegen, denn schon wenn ich nur beim Vorletzten beginne, habe ich den Letzen schon abgeschrieben, werde ihn nie wieder erreichen, da schon der Vorletzte so schwierig ist. Andererseits ist dieser Satz auch eine Über-Forderung, die niemand einlösen kann, jedoch eine kalkulierte und notwendige Überforderung; denn eine erfüllbare Forderung bringt mich nicht weiter, nur eine uneinlösbare Forderung schafft den „qualitativen Sprung”, fordert mich aus mir heraus, entwickelt mich weiter. Dazu später mehr. Das Anhängsel „bei dem es sich am wenigsten lohnt” bedeutet den dezenten Hinweis darauf, dass es getrennt von unserem sozialen Bereich den anderen Gesellschaftsbereich der Privatwirtschaft gibt, wo die entgegengesetzte ethische Norm nicht nur erlaubt ist, sondern geboten ist, nämlich zu investieren, wo es sich am meisten lohnt. Damit ist erwiesen, dass es sich um zwei getrennte Bereiche handelt und dass sich somit eine - über notwendige wirtschaftliche Überlegungen hinaus - vollständige Ökonomisierung des Sozialen verbietet, für beide Bereiche zerstörerisch und zudem auch noch kostentreibend ist, weshalb sie von uns mit guten Gründen und daher um jeden Preis abzuwehren ist. Nun zur so ärgerlichen, aber unvermeidlichen Figur des „Letzten”. Natürlich gibt es den Letzten objektiv so wenig wie den guten Arzt. Aber subjektiv hat jeder Arzt jederzeit eine Prioritätenlisten seiner Patienten, eine Hitliste von den Begehrenswertesten bis zu den Nichtbegehrenswertesten, ob es sich dabei um die chancenloseste oder chronischste Krankheit handelt oder ob der Patient besonders unkooperativ, ästhetisch eklig, der Älteste, unsympathisch, fremd oder besonders psychosozial entfernt von mir ist. Mit dem Letzten stets zu beginnen, das kann zu Lebzeiten kein Mensch; denn kein Mensch ist aus freien Stücken gut. Aus freien Stücken wollen, also nach meinem freien natürlichen Willen wollen, kann ich nur den sympathischsten Patienten oder meine ökonomischen Vorteile oder sonstige Freiheiten. Den Letzten kann ich hingegen nur gegen meinen freien, natürlichen, willkürlichen Willen und das heißt widerwillig wollen, so aber wollen. Und damit, mit diesem „widerwillig Wollen”, verrate ich Ihnen das Betriebsgeheimnis der Möglichkeit, gut zu sein, ein guter Arzt zu sein; denn auf diesem Wege, durch diesen Salto mortale verwandelt der Letzte meine willkürliche Freiheit in eine moralische Freiheit. Das ist der eine Trost. Der andere Trost besteht darin: Es reicht für die Praxis völlig aus, wenn ich nur dann, wenn ich gerade Zeit, Kraft oder Lust habe, mit dem Letzten beginne, mich von seinen sprechenden Augen in den Dienst nehmen lasse und ihn entsprechend mit Zeit, Aufmerksamkeit, Liebe kompensatorisch bevorzuge - nur damit er die gleichen, nämlich gerechten Chancen wie die Bessergestellten hat. Denn dann stehen zwar die Letzten nicht alle an der ersten Stelle, aber sie sammeln sich auch nicht alle als Abgeschriebene an der letzten Stelle, deren zerstörerischen Kräften ausgeliefert, sondern sie sind eingestreut in die Reihe aller Patienten, in sie integriert mitten unter ihnen. Das ist das bestmögliche Ergebnis. Darauf aufbauend kann man eine Reihenfolge der für uns Ärzte bedeutenden Bevölkerungsgruppen nach der Letzten-Position und nach unserem entsprechenden Mehraufwand konstruieren: Die chronisch Kranken sind gegenüber den akut Kranken die Letzten (das Kernproblem jeder bisherigen Medizin), da die Chroniker uns mit unseren Niederlagen konfrontieren; die in Heimen institutionalisierten chronisch Kranken sind gegenüber den freilaufenden Chronikern noch massiver benachteiligt und bedürfen unseres noch größeren Mehraufwandes; gegenüber Kranken überhaupt sind die Angehörigen benachteiligt, lästige, nörglerische und an etlichen Erkrankungen schuldhaft mitbeteiligte Anhängsel des Patienten, der doch angeblich im Mittelpunkt zu stehen hat, weshalb wir für die eigenständige Wahrnehmung des Eigenrechts der Angehörigen schon besonders viele Klimmzüge machen müssen, in der Psychiatrie inzwischen in Form einer Angehörigen-Gruppe für jede Klinikstation, da die Angehörigen nur im Schutz dieser Gruppe ihre eigene Wahrheit aussprechen können, was uns Profis immer wieder die Schuppen von den Augen holt, etwas, was sich auch für jede internistische Station mit der zunehmenden Zahl der Chroniker bewährt hat. Und schließlich haben wir gegenüber den Kranken und den Angehörigen die übrige Menge der Bürger einer Kommune bisher noch kaum angefangen wahrzunehmen, was aber für den Aufbau einer wirklich für alle tragfähigen Gesundheitsversorgung jeden Mehraufwand lohnt, wegen des dort vorhandenen unerschöpflichen Hilfepotentials sowohl im Allgemeinen als auch in den verdichteten Zonen von Nachbarschaft, die es als Institution schlicht wiederzuentdecken gilt, weil wir bei dem ständig wachsenden Bedarf an Hilfe und Sorge ohne sie keinesfalls auskommen werden. Dies ist alles andere als aussichtslos; ich habe in meinem Buch 2) einige lohnende Strategien hierfür gesammelt. Unlängst saß ich z. B. in einem Kreis von Hausärzten. Dabei ergab es sich, dass fast alle schon Erfahrung damit gemacht hatten, etwa für die Vervollständigung des tragfähigen sozialen Netzes eines an Demenz erkrankten älteren Mannes in derselben Straße gegenüber eine 50-jährige Frau zu gewinnen, die wegen Weggangs ihrer Kinder an einem akuten Defizit an sozialem Sinn für Andere leidet. Denn was wir leicht vergessen: Anthropologisch haben alle Menschen nicht nur ein, sondern zwei oberste, vitale Grundbedürfnisse: nicht nur das Selbstbestimmungsbedürfnis, sondern gleichrangig das Bedürfnis, soziale Bedeutung für Andere zu haben. Alle Hausärzte berichten, dass sie zunächst lange Zeit sich geschämt haben, ein solches unsittliches Ansinnen an diese Nachbarin zu richten, um dann jedes Mal erstaunt darüber zu sein, dass die Bereitwilligkeit wesentlich größer war, als sie vermutet hatten. Das „Haus”, das der Hausarzt aus guten Gründen in seinem Titel führt, umfasst eben nicht nur die Kernfamilie, sondern darüber hinaus die entfernteren Verwandten (die oft das bekömmlichere Gemisch aus Nähe und Distanz darstellen), Freunde, Bekannte, Nachbarn und beginnt mit dem Sorgepotenzial der gesamten Kommune, die ja einmal wegen ihrer Kernaufgabe der Daseinsfürsorge gegründet worden ist. Diesen Horizont haben wir wiederzugewinnen und auszuschöpfen. Wir alle haben Gemeindemediziner zu sein und mit der Erarbeitung unseres Selbstverständnisses vom Horizont der Gemeinde her zu beginnen. Dies möchte ich jetzt abschließend wiederum auf die Situation des einzelnen Patienten herunterbrechen. Damit ich als Arzt über alle Ressourcen eines konkreten Patienten vom letzten, entferntesten seiner konzentrischen Beziehungskreise seiner Lebenswelt ausgehend informiert bin, genügen vier Fragen an diesen Patienten, die sich wenigstens mir in meiner langjährigen Praxis bewährt haben und die Sie in fünf bis zehn Minuten beantwortet haben können, ein Zeitaufwand, der sich zukünftig auszahlen wird: „Was tun Sie so die Woche über und wen treffen Sie so die Woche über?” Damit erhalten Sie ein Bild über die Nutzungsfähigkeit des öffentlichen Raums Ihres Patienten. „Was wollen Sie mit dem Rest Ihres Lebens anfangen?” Damit erhalten Sie ein Bild nicht nur über den Lebensraum, sondern auch über die Lebenszeit (und zwar mit der Betonung auf „Rest”) von der Endlichkeit, vom Ende des Lebens her und von seiner Perspektivfähigkeit her. „Wer ist für Sie da, für wen haben Sie Bedeutung?” Dies verschafft einen Überblick über das Sorge-Potenzial nicht nur des öffentlichen, sondern auch des privaten Raumes. „Für wen sind Sie da, wer hat für Sie Bedeutung?” Diese Frage ist ebenso entscheidend wie regelhaft vernachlässigt; denn Menschen leben zwar auch von ihrer egoistischen Nutzen- und Freiheitsmehrung, jedoch in gleichem Maße davon, von wem sie gebraucht werden, wobei die soziale Bedeutung auch unscheinbar oder nur symbolisch sein kann.

Damit oder auf einem ähnlichen Wege haben Sie sich hinreichend viel Spielmaterial erarbeitet, um alle Patienten, insbesondere Ihre Chroniker, über Ihre diagnostisch/therapeutische Kompetenz hinaus lebensweltlich angemessen begleiten zu können.

Wegen der besonderen Schwierigkeit der Denkfigur des „widerwilligen Wollens” noch ein Beispiel. Den Barmherzigen Samariter stelle ich mir so vor: Während der Priester und der Levit davon ausgingen, dass sie aus freien Stücken schon genug Gutes getan hätten, war der Samariter gar nicht darauf aus, gut zu sein. Als er den Hilfsbedürftigen sah, reagierte er daher auch so: „Scheiße, gerade heute habe ich meiner Frau versprochen, pünktlich abends zu Hause zu sein; aber was soll ich machen? Was kann ich ausrichten gegen die sprechenden Augen des Anderen, die in mir zur Stimme meines Gewissens werden, mich zur Verantwortung ziehen?”

Die letzte Bedingung für das Gelingen der Arzt-Patient-Angehörigen-Beziehung besteht somit in dem Mass, in dem ich als Arzt auch auf die Integrität meiner Ordnung achte, hier besonders darauf, dass ich mich von dem unkontrollierbaren Kern meiner Verantwortung/Sorge nicht entkernen lasse oder mich gar selbst entkerne, indem ich z. B. dem Patienten Wunscherfüllung statt Verantwortung biete und so meine Unverfügbarkeit preisgebe; um bloß nicht paternalistisch zu wirken, verliere ich so meine Bedeutung für den Anderen.

Notwendige Fremdkontrolle muss in Selbstkontrolle ebenso eingebettet sein wie innerhalb meiner Beziehungen „Vertrag” in „Vertrauen” und wie der Wunsch des Patienten in seinem Wohl. Sonst hätten wir bei der Rationalisierung des Gesundheitssystems den Arzt gleich mit wegrationalisiert.

E. Levinas: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg: Meiner 1989 K. Dörner: Der gute Arzt, Stuttgart: Schattauer 2001

Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner

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