PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(4): 394-398
DOI: 10.1055/s-2003-45293
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Suizide auf den Schienen

Manfred  Pietschmann, Steffen  Fliegel[1]
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Publication Date:
05 December 2003 (online)

Manfred Pietschmann ist Pressesprecher der Deutschen Bahn Nordrhein-Westfalen.

PiD: Herr Pietschmann, schönen Dank, dass Sie sich für uns einem schwierigen Thema annehmen: Wie bewältigen es Lokführer, wenn sich ihnen ein Mensch vor den Zug wirft, der mit seinem Leben nicht mehr fertig geworden ist? Gibt es Zahlen, wie häufig solche Suizide vorkommen?

M. Pietschmann: In Deutschland haben wir im Schnitt jeden Tag drei Suizide, also ca. 1000 im Jahr. Im vergangenen Jahr gab es in NRW allein 370. Das bevölkerungsreichste Bundesland hat eben auch hier eine einsame Spitzenposition, leider.

PiD: Bringen sich mehr Männer oder mehr Frauen auf diese Weise um?

M. Pietschmann: Das sind zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen.

PiD: Welche Funktion haben Sie bei der Deutschen Bahn?

M. Pietschmann: Ich bin bei der Deutschen Bahn Pressesprecher für den Bereich NRW und zwar Konzern-Pressesprecher und damit zuständig für den gesamten Bereich der Bahn.

PiD: In welcher Art und Weise sind Sie mit Suiziden bei der Bahn persönlich in Berührung gekommen?

M. Pietschmann: Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht über Streckensperrungen wegen Selbsttötungen unterrichtet werden und zwar ganz hautnah. Wir müssen dann Informationen an die geben, die mit uns unterwegs sind oder noch nicht mit uns unterwegs sind. Das ist immer sehr schwierig, weil eine solche Streckensperrung manchmal eine Stunde, manchmal zwei Stunden oder länger dauert. Das heißt, wir sind gar nicht in der Lage unser Publikum in den Zügen bzw. das Publikum, das noch unterwegs zum Zug ist und wegfahren will, so zu unterrichten, wie wir uns das wünschten. Wir leben sozusagen von der Hand in den Mund, wir leben von den Informationen ganz besonders von denjenigen vor Ort, die letztlich den Hut aufhaben. Das sind die behördlichen Stellen mit dem Bundesgrenzschutz.

PiD: Sie hatten früher aber auch selbst Konfrontationen mit den Toten auf dem Gleis…..

M. Pietschmann: Ja, in meinem früheren Leben bei der Bahn war ich u. a. auch Dienststellenleiter großer Betriebsstellen und hatte hautnah damit zu tun. Bahnhofsvorsteher oder Dienststellenleiter, so nannte man das früher, heute heißt das Notfall-Management. Zu diesen Zeiten war ich dann auch häufig draußen und habe die ganze Problematik vor Ort miterlebt. Ich habe gesehen, was passiert ist, habe mit den Lokführern gesprochen, das gehört zu den Aufgaben der Leitung an der Unfallstelle. Und ich habe damals den Einblick in die Problematik gewonnen, welche Tragik sich für die Lokführer als eigentliche Opfer ergibt. Ganz besonders dramatisch ist es, wenn es am helllichten Tage passiert. Da ist so ein Erlebnis hautnah.

PiD: Wählen Menschen, die den selbstgewählten Tod gehen, ganz bestimmte Strecken oder Züge aus?

M. Pietschmann: In NRW gibt es keine Strecke, wo solche Dinge nicht passieren.
Ein Mensch, der aus dem Leben scheiden will und sich dafür das Rad-/Schiene-System aussucht, tut es überall, wo Züge fahren.

PiD: Wie ging es Ihnen, als Sie den ersten toten Körper auf dem Gleis sehen mussten?

M. Pietschmann: Da ich vorher im Rangiergeschäft tätig war, hatte ich leider Gottes auch schon vorher Erlebnisse, dass Mitarbeiter während ihrer Tätigkeit verletzt oder auch zu Tode gekommen sind. Dadurch hatte ich gelernt, mit dieser Stress-Situation umzugehen. Und ich erinnere mich noch genau an die erste Tote. Ich habe lange, lange dafür gebraucht, um dieses Erlebnis zu verkraften. Ich weiß heute noch, dass ich es vielen Leuten erzählt habe. Und ich habe mich manchmal gefragt, warum machst du das alles, die wollen das doch gar nicht hören. Heute aber weiß ich, dass es ein Stück meiner Aufarbeitung des Geschehens war. Ich musste dieses Problem irgendwie anderen mitteilen, um es für mich zu lösen. Ich trage das gesamte Geschehen heute noch in mir, allerdings ohne dass es mich negativ berührt. Das war damals übrigens eine Phase, in der ich aufgehört hatte zu rauchen. Und an diesem Tage habe ich das Rauchen wieder begonnen.

PiD: Was sehen eigentlich Lokführer, die am stärksten betroffene Berufsgruppe bei der Bahn, auf den Schienen, vor dem Suizid und nach dem Suizid? Ich frage das nicht aus Voyeurismus, aber unsere Leserinnen und Leser haben in ihren Therapien auch mit den Menschen zu tun, die schwere Traumaerlebnisse erfahren haben?

M. Pietschmann: Ich möchte noch einmal betonen: Für mich ist das eigentliche Opfer des Geschehens der Lokführer. Die Lebensmüden sind Menschen, die aus dem Leben scheiden wollen und die Lokführer zu Opfern machen. Wir Menschen sind sehr unterschiedlich und auch die Lokführer sind in ihrer Handlungsweise und in der Verarbeitung sehr unterschiedlich. Sie sehen aus ihrem Führerstand bei der hohen Geschwindigkeit rechts und links Bäume, sie sehen Sträucher, sie sehen die Signale und fahren die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Das bedeutet: In dem Augenblick, in dem jemand ins Gleis tritt oder hinter dem Gebüsch hervor auf die Gleise stürzt oder sogar gegen den Zug läuft, haben Lokführer keine Chance mehr. Sie sehen plötzlich eine Gestalt und dann kommt der große Stress. Dann kommt natürlich die Reaktion, die heißt immer: auf die Bremse und natürlich Warnsignale geben. Das sind die ersten Stressmomente. Sie wissen ganz genau, eine Chance rechtzeitig zum Halten zu kommen, gibt es meistens nicht. Sie reagieren aus der Hoffnung, dass der Lebensmüde sein Vorhaben rückgängig macht[2].

PiD: Wie bringen sich die Menschen hauptsächlich zu Tode? Legen sie sich auf das Gleis, laufen sie dem Zug entgegen, schauen sie weg, stellen sie sich hin?

M. Pietschmann: Es gibt alles. Es gibt diejenigen, die sich auf das Gleis legen, um sich den Kopf abtrennen zu lassen. Es gibt diejenigen, die sich vor den Zug werfen, möglichst über beide Gleise, um total zermalmt zu werden. Und es gibt die, die im Gleis knien, meist abgewandt vom Zug, und sich dann treffen lassen. Oder sie laufen dem Zug entgegen. Es hat auch schon Fälle gegeben, dass bei der Einfahrt eines Zuges in einem Bahnhof sich vor versammeltem Publikum ein solches Geschehen abspielte. In den meisten Fällen aber sind Todeskandidaten, die ihr Leben beenden wollen, sehr individuell und meistens für sich ganz alleine.

PiD: Wie geht es Lokführern beim Führen des Zuges? Sind Sie in einer Dauerspannung? Beobachten Sie die Gleise intensiv nach Menschen, die sich das Leben nehmen wollen oder reagieren sie dann auf den Moment?

M. Pietschmann: Wenn jeder Lokführer jeden Tag dauernd hinter jeder Ecke jemanden erahnen wollte, der sich das Leben nehmen will, dann hätten sie ein großes Problem. Nein, die Lokführer gehen morgens ganz normal zur Arbeit und haben einen festen Plan, ihren Zug pünktlich ans Ziel zu bringen. Menschen sind sehr unterschiedlich. Lokführer, die solche Vorfälle schon mehrmals erleben mussten, mögen da häufiger daran denken.

PiD: Und was machen die Betroffenen dann?

M. Pietschmann: Manche tragen das mit sich herum und verkraften es nur schwer. Aber es gibt auch Lokführer, die damit schnell fertig sind, weil sie wissen, sie sind nicht Täter, sondern Opfer. Die sind zwar nicht kühl und ohne Gefühlsregung, aber sie wissen ganz genau, dass sie sich nicht das Problem von Lebensmüden zu ihrem Problem machen dürfen. Ich kenne sogar Lokführer, die entwickeln eine ziemliche Wut und Aversion diesen Menschen gegenüber, weil sie Probleme nicht nur ihm, sondern den Fahrgästen vieler Züge schaffen.

PiD: Gibt es Verhaltensanweisungen für Lokführer, wenn sie einen Menschen auf der Schiene entdecken, nach der Notbremsung und dem Signal geben, z. B. wegschauen, Ohren zuhalten, um den Knall nicht hören zu müssen o. a.?

M. Pietschmann: Nein, die gibt es nicht, und es ginge auch vollkommen an den Problemen vorbei. Jeder Mensch handelt anders, und ich glaube, hier kann man keine Handlungsmaxime vorgeben. Es gibt allerdings eine Stress-Fibel. Da sind Vorschläge enthalten, wie Lokführer Stress-Situationen, die sie tagtäglich erleben, bewältigen können. Das sind Verhaltensweisen, die muss man trainieren, und jeder muss letztlich seinen eigenen Weg finden. Wie man sich in solchen Fällen verhält, das kommt automatisch aus dem Bauch. Man versucht noch zu bremsen, man gibt noch Warnsignale, mehr ist nicht möglich.

PiD: Was tut ein Lokführer unmittelbar nach dem Zusammenprall? Verlässt er die Lok?

M. Pietschmann: Nein, denn er ist verantwortlich für seinen Zug. Und das Erste nach der Schrecksekunde, die manchmal auch einige Minuten lang sein wird, ist auf jeden Fall die Meldung an die Betriebszentrale. Das Zweite ist die Verständigung der Reisenden: „Wir können vorläufig nicht weiterfahren, wir haben hier einen Personenunfall”. Alles Weitere ist eine Sache der Persönlichkeit des Lokführers. Da gibt es welche, die brauchen erst einmal eine Viertelstunde, um sich zu finden. In dieser Situation ist jeder Mensch anders. Es gibt keine Guten oder Schlechten. Es gibt nur Menschen, die mit einer solchen Situation schneller fertig werden und weniger schnell.

PiD: Fährt der Lokführer danach den Zug noch weiter, oder wird er ausgewechselt?

M. Pietschmann: Auch hier gibt es keine Regel, meistens sind sie dazu nicht mehr in der Lage, meistens ist Ablösung notwendig. Manchmal kommen der Schock und der Stress ja erst später. Von daher weiß kein Mensch, wie er reagieren wird. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch Lokführer ablösen, wenn sie noch fahren wollen. Es gehört zur Sorgfaltspflicht gegenüber dem Mitarbeiter und gegenüber der Kundschaft im Zug, dass man schnellstens eine Ablösung einleitet[3].

PiD: Gibt es eine Nachbetreuung?

M. Pietschmann: Ganz deutlich: ja. Es gibt eine Nachbetreuung. Sie beginnt in den Werken, dort haben wir besondere Mitarbeiter, häufig aus dem Bereich der Betriebsräte, die sich der Lokführer annehmen und einfach im Gespräch ergründen: Ist alles in Ordnung? Hast du das gut verarbeitet? Und sollten sie den Verdacht haben, dass irgendwo noch irgendetwas steckt, geben sie den Rat: Geh zum Psychologen! Es gibt einen Psychologischen Dienst, Fachärzte, die eine professionelle Betreuung garantieren. Da muss nicht jeder hin, aber die Zahl derjenigen, die von dem Angebot Gebrauch machen, ist größer geworden.
Wer mit dem Thema allein fertig werden will, weil er in seinem Umkreis genügend Menschen hat, denen er sein Erlebnis schildern kann, dann ist das auch in Ordnung[4].

PiD: Kann es auch sein, dass ein Lokführer eine längerfristige Psychotherapie braucht, weil doch die Bilder nicht aus dem Kopf gehen?

M. Pietschmann: Auch das hat es gegeben. Aber das ist Gott sei Dank die Minderheit. Es gibt aber Lokführer, die vergessen es eigentlich nie. Sie schleppen es mit sich herum und leiden irgendwie.

PiD: Gibt es die Möglichkeit für Lokführer, sich auf den Fall eines Suizides vorzubereiten? Zum Beispiel in der Ausbildung?

M. Pietschmann: Ja, bereits in der Ausbildung und später in den regelmäßigen Schulungen wird das Thema Stress und seine Bewältigung behandelt.

PiD: Noch einmal die Nachfrage: Ein spezieller Aspekt in der Ausbildung ist aber der Umgang mit Suizidfällen in der Arbeit des Lokführers nicht?

M. Pietschmann: Es gehört zum Stressprogramm der Lokführer. Man spricht darüber und gibt Verhaltensvorschläge, aber letztlich muss jeder damit auf seine Weise fertig werden.

PiD: Erhalten Sie im Nachhinein Informationen über die Menschen, die sich durch das Werfen vor den Zug das Leben genommen haben?

M. Pietschmann: Wir sind ein Transport-Unternehmen. Die Untersuchungen werden durch die Staatsanwaltschaft geleitet. In aller Regel ist die Staatsanwaltschaft vor Ort vertreten durch den verlängerten Arm, den Bundesgrenzschutz. Aber natürlich gibt es auch einen Unfallbericht der Bahn, in dem die Inhalte, die für die Bahn relevant sind, festgehalten werden.

PiD: Können Sie ein paar Gründe aus diesen Berichten heraus nennen, warum sich jemand vor den Zug geworfen hat?

M. Pietschmann: Ich habe ungefähr 30-mal diese Fälle während meiner Zeit vor Ort gehabt. Da gab es Menschen, die verwirrt waren, es gab Menschen, die älter waren und eine unheilbare Krankheit hatten. Aber es gab auch Menschen, die eheliche Probleme hatten, und die dann oft in betrunkenem Zustand aus dem Leben geschieden sind. Ich erinnere mich noch an einen Fall, als eine Frau 14 Tage später zu mir kam und sagte: „Wissen Sie, ich weiß, dass mein Mann sich das Leben genommen hat, aber meine Schwiegermutter schickt mich, die glaubt das nicht. Kann ich von Ihnen wissen, wie es war?” Und da mir der Lokführer alles genau erzählt hatte, konnte ich ihr sagen: „Jawohl, ihr Mann hat sich auf das Gleis gelegt und sich den Kopf abfahren lassen.” Ich konnte ihr also bestätigen, dass kein Dritter dabei war, kein Mord also.

PiD: Wird Ihnen auch über Fälle berichtet, wo jemand im letzten Moment umgekehrt ist, d. h. das Gleis wieder verlassen hat?

M. Pietschmann: Auch das gibt es. Ich weiß von Lokführern, dass es durch Warnsignale gelungen ist, dass ein Rückzug vom Gleis erfolgte.

PiD: Wie gehen Sie denn mit solchen Fast-Suiziden weiter um?

M. Pietschmann: In der Regel gibt es eine Streckensperrung, weil in Gleisnähe ein Mensch gesichtet worden ist, von dem man annimmt, dass er sich in Suizidabsicht dort aufhält. Der Bundesgrenzschutz versucht dann, diese Leute aufzuspüren.

PiD: Sie haben vorhin gesagt, das eigentliche Opfer ist der Lokführer. Können Sie das noch einmal ein wenig konkretisieren, was das „Opfermäßige” dabei ist?

M. Pietschmann: Er ist deswegen Opfer, weil er einen Auftrag hat, einen Zug zu fahren und dabei von Menschen, die des Lebens überdrüssig sind, zu einem Täter wider Willen gemacht wird. Opfer deswegen, weil er konfrontiert wird mit einem grauenvollen Ereignis.

PiD: Haben Lokführer eine bestimmte Einstellung zu den Menschen, die sich so das Leben nehmen?

M. Pietschmann: Das ist sehr unterschiedlich, da gibt es keine Regel.

PiD: Vielen Dank, Herr Pietschmann für das sehr aufklärende Gespräch über ein trauriges Thema.

1 PiD hat dankenswerterweise die Möglichkeit, auf der Schnellfahrstrecke Köln-Frankfurt im ICE vorne im Führerstand mitzufahren, um sich ein eigenes Bild von der „Situation vor Ort” zu machen, glücklicherweise ohne „Personenschaden”. Dabei ergänzten die beiden anwesenden Lokführer einige Aussagen des Pressesprechers, was jeweils in den Fußnoten vermerkt wird.

2 Das Schlimmste ist, wenn Personen stehend angefahren werden. Diese werden dann hoch geschleudert und „fliegen” an der Windschutzscheibe vorbei. Der Anblick dieses Körpers geht nie mehr aus dem Gedächtnis. Einer der Lokführer hatte fünf, der andere einen Suizid vor seiner Lok erlebt. Jedes der Bilder bleibt unauslöschlich im Gedächtnis erhalten.

3 Beide sagen ganz klar: Keine anschließende Weiterfahrt.

4 Am wichtigsten sind die Gespräche mit den Kollegen. Da hat man geduldige und eigentlich auch mitbetroffene Zuhörer. Das baut auf. Auf das Kollegenteam kann man sich bei der Bahn verlassen. Die psychologischen Schulungen werden eher skeptisch beurteilt.

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