Psychother Psychosom Med Psychol 2004; 54(2): 43-44
DOI: 10.1055/s-2003-812614
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Internet in der psychosozialen Versorgung: Neue Mode - Neues Glück?

Internet and Psychosocial Care: New Fashion - New Luck?Hans  Kordy
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Publication Date:
11 February 2004 (online)

Das Internet ist heute ein alltägliches Kommunikationsmedium - auch im Alltag der psychosozialen Versorgung? Ja und nein lautet wohl die Antwort. Nun war es in diesem Fall sicher kein Nachteil, nicht ganz vorne dabei gewesen zu sein. Im Gegenteil, es bringt den Vorteil, aus den Fehlern und Fehleinschätzungen der Schnellen und Vorschnellen lernen und dennoch von deren Ergebnissen profitieren zu können. Aber bewegen müssen sich auch die Langsamen, sonst werden nicht nur Enttäuschungen über geplatzte Visionen vermieden und Ressourcen gespart, sondern es steigt auch das Risiko, dass Entwicklungen verpasst werden; d. h. hier: Chancen für die Verbesserung der psychosozialen Versorgung ungenutzt bleiben.

Für die psychosoziale Versorgung, in der die Kommunikation eine zentrale Rolle hat, muss irgendwann die Frage nach der Nutzung der Computer-Mediated Communication (CMC) [1] beantwortet werden. Seltsamerweise - oder vielleicht doch eher bezeichnenderweise - ist die derzeitige Situation mehrdeutig. Für alltägliche Verwaltungsabläufe und Standardkommunikation werden PC, Internet und Handy ebenso selbstverständlich eingesetzt wie im privaten Bereich. Auf Textbausteine für Berichte und Anträge beispielsweise möchte kaum jemand verzichten. Auch Recherchen im Internet sind für viele inzwischen ein vertrauter Weg zu Informationen. Fachgesellschaften präsentieren sich über eine Homepage genauso im Internet wie Patientenorganisationen; Fachkliniken und Beratungsstellen stellen sich und ihr Angebot im Internet vor, Selbsthilfegruppen bieten ihre Hilfe und Unterstützung an; Krankenkassen und Rentenversicherer bieten (sich und) Informationen und Rat für die Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsversorgung an (Übersichten findet man beispielsweise über www.dkpm.de oder www.psychiatrie.de/hilfe/mail.htm).

Gleichzeitig gibt es aber eine deutliche Zurückhaltung, werden Bedenken ins Feld geführt, wenn es darum geht, das Internet direkt für die Versorgung zu nutzen. Gewarnt wird vor unseriösen Anbietern und ihren Angeboten, vor Fehlinformationen oder Fehlinterpretationen. Und es gibt Grund genug für Warnungen. Suchmaschinen liefern mehrere Tausend Treffer für Email- oder Onlineberatung. Darunter verbirgt sich alles mögliche, aber eben auch Angebote für psychosoziale Beratung, bis hin zur Psychotherapie. Angebote kommen von qualifizierten und unqualifizierten Anbietern. Oft bleibt die Qualifikation unklar und leider sagt die Professionalität der Selbstdarstellung via Homepage wenig über die Qualität der angebotenen Leistung. Und es sind nicht nur kommerzielle Interessen, von denen Gefahr ausgeht. Es werden z. B. Verabredungen zu Selbstverletzung und Selbstmord getroffen - und tatsächlich ausgeführt. Täter suchen sich Opfer, Opfer suchen sich Täter über das Netz. Keine Frage: Das Internet in „falschen Händen” ist gefährlich. Aber was sind die „richtigen Hände” bzw. wer hat die „richtigen Hände”, was sind die Regeln für die „richtige Handhabung”?

Die Debatte ist in der - deutschen - psychosozialen Versorgung noch nicht wirklich eröffnet. Eher bekommt man den Eindruck, es gäbe einen unausgesprochenen Konsens: Finger weg vom Internet! Das wäre schade. Trotz aller Gefahren - das Internet öffnet den Zugang zu Information und dem Wissen anderer, es bringt Menschen zusammen, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit anderen teilen und gemeinsam nutzen wollen. Das kann man sich auch für die psychosoziale Versorgung vorstellen, z. B.:

Der Vorstellung vom gut informierten Patienten, bereit und fähig, Verantwortung für die eigene Behandlung mit zu tragen, werden viele im Feld Tätige Positives abgewinnen, auch wenn manche dabei eher an den mündigen Patienten beim Chirurgen, Internisten, Allgemeinarzt etc. denken mögen. Ein besonderes Feld tut sich auf bei Patienten mit chronischen Krankheiten. Auf den „expert patient” setzt beispielsweise der britische National Health Service (NHS). Die Idee ist, den Patienten durch fundierte Information in seiner Expertise zu stärken. Das Internet bietet sich in doppelter Hinsicht an: 1. als Medium für die Vermittlung der Information und 2. als Medium, das „expert patient” und „expert therapist” zusammenbringt. Eine Schulung in der Selbstbeobachtung, beispielsweise um kritische Entwicklungen der eigenen Krankheit zu erkennen, kombiniert mit einer Unterstützung durch andere Patienten und mit einer gezielten Beratung durch klinische Experten über das Internet können die Versorgung chronisch Kranker erheblich verbessern. Was Patienten recht ist, sollte Therapeuten billig sein. Inter- oder Supervision haben Tradition für die Aus- und Weiterbildung in der psychosozialen Versorgung im Allgemeinen und in der Psychotherapie im Besonderen. Das Internet eröffnet neue Möglichkeiten des kollegialen Austausches, der dann etwa in ein Qualitätssicherungsprogramm integriert werden kann. Daten, die durch systematische Beobachtung in Fachkliniken, Beratungsstellen oder einzelnen Praxen gewonnen wurden, können zusammen geführt und zu einer Wissensplattform ausgebaut werden - aggregiert, anonymisiert und verschlüsselt selbstverständlich. Die aufwändige Technik, die nötig ist, diese Daten in Wissen bzw. Information zu transformieren, kann über das Internet bereitgestellt werden und schließlich können die Ergebnisse über das Netz für alle verfügbar gemacht werden. Das alles zeitnah und entfernungsunabhängig. In Chat-Räumen können sich Therapeuten in virtuellen Qualitätszirkeln, um diese Daten und Informationen zu bewerten und mit ihrer Erfahrung zu verknüpfen. Räumliche Nähe oder Entfernung spielen keine Rolle mehr, nur das gemeinsame Interesse entscheidet. Ohne Reiseaufwand können Experten - nicht notwendiger Weise nur klinische, vielleicht auch fachfremde Experten wie Psychometriker, Techniker, Ökonomen etc. - eingeladen werden, um etwa bestimmte, für die Gesundheitsversorgung relevante Themen zu diskutieren, seien es bestimmte Krankheiten oder bestimmte Behandlungsansätze. Vernetzung ist auch das Stichwort, wenn man an die verschiedenen Versorgungsebenen denkt. Die Entwicklung zu formellen oder informellen „Stepped-care”-Ansätzen wird sich verstärken. Für viele Störungen werden Phasen der Behandlung in spezialisierten Zentren stattfinden, denen Behandlungsphasen in weniger spezialisierten Einrichtungen, bei niedergelassenen Praktikern oder in Selbsthilfegruppen vorausgehen oder folgen. Diese Zentralisierung wird begleitet sein von der Notwendigkeit, Übergänge zu gestalten. Die neuen Kommunikationsmedien bieten sich an für die Errichtung entsprechender Brücken. Mitarbeiter der spezialisierten Zentren können sich in Chaträumen mit Patienten nach der Entlassung treffen, sie bei ihrem Übergang in den Alltag begleiten und unterstützen. Auf diese Weise wird die Reichweite der Spezialisten erweitert, die Übergänge zwischen tertiärer, sekundärer und primärer Versorgung werden fließend. Umgekehrt können solche begleiteten Übergänge auch von der primären zur tertiären Ebene oder in andere medizinische Bereiche hinein organisiert werden, z. B. bei fachärztlicher Behandlung in der Inneren oder Chirurgie. Das Internet kennt keine Richtung. Die Entscheidung liegt bei den Beteiligten. Für manche Patienten mag ein striktes Setting mit z. B. regelmäßigen wöchentlichen Gruppensitzungen zu viel sein. Hier mag ein kontinuierliches Monitoring der Krankheits- bzw. Gesundheitsentwicklung unterstützt durch einige standardisierte supportive Maßnahmen ausreichen. Ein solches minimales Nachbetreuungsprogramm, das nicht mehr als 1 - 2 Minuten vom Patienten und Therapeuten verlangen muss, lässt sich beispielsweise über ShortMessageService (SMS) und Mobiltelefon einrichten. Solche Programme bieten sich insbesondere für Patienten mit chronischen Erkrankungen an, die eventuell über lange Zeit in weiten Zeitabständen betreut werden. Kombiniert mit der oben genannten Idee des „expert patient” kann eine solche kontinuierliche Betreuung die Bereitschaft und die Fähigkeit des Patienten stärken, Verantwortung für sich und seine Behandlung zu übernehmen.

Diese drei Beispielskizzen sind nicht nötig, um eine Vorstellung vom Potenzial der neuen Kommunikationstechnologien für die psychosoziale Versorgung zu bekommen. Es gibt aufregendere Visionen. Worauf sie aufmerksam machen sollen, ist, dass es die Nutzer sind, die das Internet hilfreich oder gefährlich werden lassen. Es ist praktisch unmöglich, die „falschen Hände” zu kontrollieren, insbesondere, wenn diese auch noch „fremde Hände” sind. Trotzdem ist es sinnvoll und notwendig, dass Fachorganisationen Standards erarbeiten und ggf. kontrollieren. So hat z. B. der Bundesverband Deutscher Psychologen (BDP) ein Gütesiegel für psychologische Onlineberatung vorgeschlagen (www.bdp-verband.org). Ebenso hat die American Psychological Association (APA) Regeln für die Beratung über Telefon und Internet formuliert (www.apa.org/ethics/stmnt01.html). Solche Maßnahmen verbessern die Transparenz, greifen aber nur für diejenigen Anbieter (und Nutzer) von Informationen und Diensten, die Wert auf die Autorisierung durch die regelsetzende Organisation legen.

Nimmt man das Medium in die „eigenen Hände” kann durch sorgfältige Beobachtung und Evaluation die „richtige Handhabung” besser gewährleistet werden. Die Sorge, dass selbst ernannte Fachleute falsche Informationen ins Internet stellen, kann ausbalanciert werden, indem anerkannte Fachleute ihr Wissen und ihre Erfahrung verfügbar machen. Dafür gibt es gute Beispiele (etwa www.hungrig-online.de für Essstörungen oder www.kompetenznetz-depression.de für Depressionen); eigene Betreuungsangebote im Netz (z. B. Projekt Internetbrücke https://netgruppe.psyres-stuttgart.de/index_s.php) reduzieren den Druck auf die Patienten, sich selbst auf dem Internetmarkt umzusehen und damit das Risiko, in „falsche Hände” zu geraten.

Freier Zugang zu jeder Information für jeden und von jedem Ort der Welt! Diese Vision inklusive ihres subversiven Charme findet ihre Anhänger auch in der psychosozialen Versorgung. Aber es mag auch genau dieser subversive Charme sein, der beunruhigt. Und dann ist da noch die Vision des „Why the future doesn't need us” von Internetgurus wie Bill Joy [2] von Sun Microsystems …

Literatur

  • 1 Budman S H. Behavioral health care dot-com and beyond: computer-mediated communications in mental health and substance abuse treatment.  American Psychologist. 2000;  55 1290-1300
  • 2 Joy B. Why the future doesn't need us.  Wired. 2000;  8 238-262

Prof. Dr. Phil. Hans Kordy

Forschungsstelle für Psychotherapie

Chr.-Belser-Straße 79 a

Stuttgart

Email: kordy@psyres-stuttgart.de

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