PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(2): 187-191
DOI: 10.1055/s-2003-814937
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Täter kommen aus unserer Mitte

Eine Gemeinde stellt sich ihrer VerantwortungGerhard  Greiner, im Gespräch mit Jochen Schweitzer
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Publication Date:
28 May 2004 (online)

PiD: Herr Greiner, Sie sind Bürgermeister von Neulußheim, einer kleinen Gemeinde südlich von Mannheim. Im Oktober 2003 ist Ihr Ort wegen eines Verbrechens in die Schlagzeilen geraten, aber insbesondere auch wegen der Art, wie dieses Verbrechen in der Gemeinde anschließend aufgearbeitet worden ist. Könnten Sie bitte unseren Leserinnen und Lesern in kurzen Worten beschreiben, was damals in Neulußheim geschehen ist.

G. Greiner: Am 15. Oktober 2003 haben acht Kinder und Jugendliche - ein 19-jähriger Jugendlicher und mehrere Kinder, vorwiegend im Alter zwischen 12 und 14 Jahren - einen obdachlosen Menschen, den bei uns in der Gemeinde jeder kannte, so „malträtiert”, dass er darüber zu Tode gekommen ist. Im Grunde genommen haben sie ihn totgeschlagen. Im Laufe der Ermittlung hat sich dann herausgestellt, dass es insgesamt zwölf Beteiligte zu zwei Tatzeiten waren: Zwei Tage vor dem 15. Oktober fand bereits an einer Stelle im Wald ein Angriff teils identischer Kinder und Jugendlicher statt. Sie haben ihm mit Schlägen so zugesetzt, dass er bereits mehrere Brüche davongetragen hat. Am 15. Oktober haben sie ihm „den Rest gegeben”. Er hat offensichtlich noch gelebt, als sie ihn im Wald zurückließen, ist aber kurz darauf in der Nacht zum 16. Oktober an diesen Misshandlungen gestorben, die nach Aussage der ermittelnden Beamten in einer beispiellosen Brutalität ausgeübt wurden.
Für uns besonders Besorgnis erregend ist, dass es Kinder und Jugendliche aus unauffälligen, geordneten, zum Teil aus durchaus angesehenen Familien waren. Sie kamen weder - und da sage ich „Gott sei Dank” - aus sozial auffälligen Familien, noch waren Ausländer oder Emigranten dabei. Sonst wäre die Diskussion im Dorf auf einer ganz anderen Ebene verlaufen.

PiD: Gab es denn eine persönliche Bekanntheit zwischen dem Obdachlosenmitbewohner und den Jugendlichen?

G. Greiner: Es muss da Begegnungen gegeben haben. Die Jugendlichen wollten in seine Hütte, in die er sich im Wald zurückgezogen hatte. Sie forderten, er solle diese freimachen, sie wollten die Hütte zum Spielen. Er hat die Hütte verteidigt, und aus diesem Konflikt muss sich das alles entwickelt haben. Es gibt da vor diesen zwei Kämpfen, die ich geschildert habe, wahrscheinlich noch einen dritten, der noch weiter zurückliegt.

PiD: Muss ich mir eine Jugendlichen-Gruppe mit ein oder zwei Führungspersonen vorstellen, der sich die anderen als Mitläufer anschließen? Oder eine egalitär organisierte?

G. Greiner: Es gab in dem 19-Jährigen nach Alter und Statur eine Führungsperson. Er stand zwar nach Aussage der ermittelnden Beamten sozial auf dem Stand eines 14-Jährigen, war aber körperlich überlegen und konnte als 19-Jähriger z. B. Handyverträge abschließen, Zigaretten und Alkohol kaufen etc. Da bei uns relativ scharf Alterskontrolle betrieben wird, hat er die Dinge besorgt, auf die die anderen keinen Zugriff hatten. Wenn diese Kinder und Jugendlichen etwas vereint, dann - nach Aussage der Personen, die sich zwischenzeitlich mit ihnen befasst haben - dass es alle relativ schwache Persönlichkeiten sind.

PiD: In welcher Weise?

G. Greiner: Im Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen - es waren solche, die auch in der Schule nicht als starke Persönlichkeiten bekannt waren.

PiD: Eher schüchterne und gehemmte?

G. Greiner: Ja.

PiD: Wahrscheinlich hat man mit den Kindern und Jugendlichen über ihre Motive gesprochen. Was geben sie selber an?

G. Greiner: Da kann ich nichts dazu sagen, weil ich im Nachhinein keinen Einblick in die Ermittlungen habe.

PiD: Das heißt, es ist im Moment noch Gegenstand des Verfahrens. Wird es im Dorf nicht diskutiert?

G. Greiner: Wir haben diese Diskussion erst gar nicht aufkommen lassen. Wir haben von vornherein versucht zu suggerieren, dass es nicht weiterführt, in dieser Sache nach Schuld und Schuldigen zu suchen. Ein Volkesurteil ist da sehr schnell, da sind es sofort die Medien oder das Elternhaus, welches versagt hat. Wir haben immer gesagt: Wir müssen losgelöst vom speziellen Fall Wege finden, die wieder positive Orientierung aufzeigen.

PiD: Was haben Sie denn da versucht hier in Neulußheim?

G. Greiner: Zunächst war die Zeit allgemeiner Sprachlosigkeit, die Zeit der allgemeinen Spekulationen, die Zeit der Presse, die versucht hat, in einer ganz üblen Form den Mord zu recherchieren. Ich habe im Umgang mit der Presse gemerkt, dass man denen gute Informationen geben muss, dann bleibt der spekulative Bereich weiter außen vor. In den ersten eineinhalb Wochen habe ich mich nicht über den Fall geäußert, wusste auch sehr wenig, weil mich die Polizei nicht besonders informiert hatte. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem die Leute vom Bürgermeister eine Aussage erwarteten.
Dann entstand zusammen mit dem Pfarrer die Idee: Wir müssen etwas unternehmen, wir müssen uns informieren, wir müssen reflektieren, wir müssen Orientierung geben. Dies war entscheidend dafür, dass jetzt jemand sagt, „wo es lang geht”. In einem langen Gespräch entwickelte sich der Gedanke, zusammen mit der Kirche, obwohl der Pfarrer zunächst nicht begeistert war, eine Veranstaltung für unsere Bürger zu machen. Zunächst kam ein Gedenkgottesdienst, aus den Gedanken heraus: „Der Kirchenraum schützt von seiner Art her vor Entgleisungen, Übergriffen oder unbewältigbaren Emotionen schützt. Die Form des Gottesdienstes gibt uns Halt. Wenn wir dies alles, was wir machen wollen, in die strenge Form eines Gottesdienstes gießen, an dem wir auch die zuhörenden Besucher beteiligen, indem wir sie gemeinsam Lieder singen lassen, dann bindet man sie ein, bildet ein gemeinsames Band. In diesem Rahmen kann eigentlich nichts schief gehen.”
Das war die erste Veranstaltung, die argumentativ dafür sorgen sollte, dass die Tatbeteiligten und ihre Familien nicht Ausgrenzung brauchen oder gar Ächtung, sondern Hilfe. Wichtig war zu zeigen, dass es wenig bringt nun Schuld zuzuweisen, sich selbst rauszunehmen, zu sagen „da gibt es ja Verantwortliche, mich geht dies alles nichts an”, sondern zu sagen: „Diese Kinder und Jugendliche sind zum größten Teil in Neulußheim geboren. Sie sind in unseren Einrichtungen groß geworden und geprägt worden: Kindergarten, Schule, Vereine, Nachbarschaft. Sie kommen aus unserer Mitte heraus und deshalb sind wir alle verantwortlich.” Denn es muss ja im gemeinsamen Umgang und in der Prägung innerhalb der Ortschaft etwas schief gelaufen sein.

PiD: Wie hat denn die Gemeinde darauf reagiert?

G. Greiner: Sehr gut. Der Gottesdienst fand großes Interesse. Sicher hat auch die Neugierde die einen oder anderen angetrieben. Manche hofften Informationen zu bekommen, die sie über die Presse noch nicht erhalten hatten. Die Stimmung nach diesem Gottesdienst war sehr nachdenklich. Im Ort habe ich festgestellt, dass dieses „Fingerzeigen” und dieses „schnell urteilen” („die Eltern haben versagt” usw.) im Wesentlichen weg war. Nach dem Gottesdienst musste es weitergehen. Wir haben dann diese Steuerungsgruppe gegründet. Sie ist sehr gut besetzt und zusammengestellt, beteiligt sind Polizeimitarbeiter unterschiedlicher Referate, der Pfarrer, der Schulleiter, die Leiterin unserer Kindertagesstätte, die Sozialpädagogin unseres kommunalen Kinder- und Jugendtreffs, ein Psychologe.
Gemeinsam haben wir die zweite große Aktivität überlegt, mit der wir nach außen gegangen sind: eine Veranstaltung Mitte Dezember in der Aula der Schule unter dem Thema „Wir, auf der Suche nach Antworten”. Da haben wir alle Verantwortungsträger von Neulußheim eingeladen: den Gemeinderat, die Wählervereinigungen, alle LehrerInnen, ErzieherInnen, alle Elternbeiräte aus Schule und Kindergarten, alle Vereinsvorstände - Leute, die Verantwortung tragen. Wir sagen: Wer Verantwortung trägt, muss Antwort geben können.
In dem Podium wurde noch einmal aufgearbeitet, dass die Schuldzuweisung nichts bringt. (Zu der Zeit kam im Dorf die Stimmung auf: „Es kann nicht sein, dass die einen Menschen totschlagen und dann wieder zur Schule gehen, als wenn nichts gewesen wäre. Warum sperrt man sie nicht weg?”) Eine wesentliche Botschaft dieser Veranstaltung war „Strafe ja, aber Wegsperren ist keine Lösung”. Wir wollten diese Dinge aufarbeiten und von dem Psychologen die Hintergründe erhellen lassen, wie kann es zu „so etwas” überhaupt kommen. Wir wollten deutlich machen, dass da nicht kleine Monster unbemerkt von uns allen in unserer dörflichen Gemeinschaft herangewachsen waren, sondern dass eigentlich jeder diesen Teil in sich trägt, nur dass wir ihn im Regelfall unter Kontrolle halten. Und dass in diesen Momenten bei den Kindern und Jugendlichen etwas da war, wodurch die natürliche Sperre oder die Grenze gefallen ist.

PiD: Haben Sie das Gefühl, dass das, was die Sperre abgebaut hat, plastisch geworden ist? Ist deutlich geworden, warum diese sozialen und Selbstkontrollmaßnahmen ausgesetzt haben?

G. Greiner: Ich meine schon. Der Psychologe hat sehr deutlich gemacht, dass diese dunkle Seite in jedem schlummert und dass es auch kein Kind gibt, welches nicht einen anderen Menschen schon einmal totgewünscht hätte. Dem Psychologen ist es sehr gut gelungen aufzuzeigen, welche Balanceakte und Spagate Jugendliche in dieser schwierigen Entwicklungsphase zum Erwachsenwerden in ihrem Inneren zu überwinden haben. In der nächsten Stufe wurde deutlich gemacht, was eine Gruppendynamik bewirken kann. Dies alles ist dem Psychologen gut gelungen.

PiD: Es scheint ja häufig so zu sein, dass eine Mischung aus Gruppenkonformität, aus alkohol- oder drogeninduzierter Verminderung des Wachsamkeitsniveaus und einer Abwertung des Täters („der hat dies ja verdient, der ist selber Schuld daran”) zu solchen Exzessen beiträgt.

G. Greiner: Den letztgenannten Grund habe ich in allen Diskussionen massiv vertreten. Eine Aussage eines Mädchens will mir nicht aus dem Kopf gehen. Sie ist 13œ. Sie hat dem am Boden liegenden und schon sterbenden Mann entgegengeschleudert „Was gibt dir das Recht mich anzuschauen?” und ihm daraufhin mit dem Fuß in sein Gesicht getreten. Das war für mich das Signal: Die Ursache liegt genau in dem, was Sie angesprochen haben, in dieser Geringschätzung und Nichtachtung eines anderen Menschen.

PiD: Es scheint so zu sein, dass gerade obdachlose Menschen hiervon stärker als andere bedroht sind. Nicht nur von der Überlebensgewalt untereinander, sondern auch von der rechtsradikalen Gewalt, die sich ja nicht gegen Leute mit Jackett richtet, sondern gegen Obdachlose, gegen Behinderte, gegen Menschen, die sich schwächer zeigen.

G. Greiner: Die Gruppe ging davon aus: „Erstens hat er es verdient, zweitens ist es nicht schlimm, es wird wahrscheinlich gar niemand bemerken, wenn der fehlt. Sollte es doch jemand bemerken, dann kann es keine große Rolle spielen, man wird kein großes Aufheben machen, es ist ja bloß ein Penner”. Sie hatten sich regelrecht zum „Pennerklatschen” verabredet. Mit diesem Ausdruck kam die totale Nichtachtung und Entwürdigung: „Mit dem kann man es ja machen”. Ich glaube, das Gewaltmotiv war mit dabei, aber nicht vordergründig.

PiD: … sondern dieses sich abgrenzen von jemand, auf den man zu Recht hinunterschauen darf?

G. Greiner: Deswegen müssen wir die ganze Bevölkerung mit einbeziehen. Denn unter diesem Aspekt haben die eigentlich in der Tat - so schlimm es war - das vollzogen, was jeden Abend an irgendwelchen Stammtischen an Gewalt produziert wird. Hier bin ich noch etwas weitergegangen. Wir hatten über Jahre hinweg viele Obdachlose im Ort. Dies hängt mit der Verkehrslogistik und der Auszahlung der Obdachlosenhilfe in den verschiedenen Kreisen und Bundesländern in unserer Nachbarschaft zusammen. Dadurch hatten wir in unserer kleinen Gemeinde zum Teil täglich 30 - 40 Obdachlose, die bei uns kassiert haben. Wir haben einen sehr maßgeblichen Mann im Gemeinderat - ein bekennender Altnazi -, der mich immer wieder in öffentlichen Sitzungen ermahnte, ich solle doch denen erst einmal einen Besen in die Hand drücken und sie etwas schaffen lassen, bevor wir ihnen Geld auszahlen. Dies haben auch alle meine Kollegen so gemacht, alle. Ich habe gesagt, das geht nicht, es besteht ein gesetzlich garantierter Anspruch, den kann ich nicht einschränken. Aber darin steckte schon immer diese Abwertung - es wäre ja schon eine Zumutung, dass wir die überhaupt am Ort haben und die auch noch Geld kriegen. Was hier passiert ist, kann seine Wurzeln auch in der völligen Missachtung haben, die in solchen Äußerungen und solchem Verhalten unserer erwachsenen Bevölkerung deutlich wird. Denn dadurch haben die Kinder schon gelernt, dass die Obdachlosen sowieso nichts wert sind.

PiD: Was können die Erwachsenen im Ort jetzt tun, um diese Gewaltschwellen zu erhöhen? Welche Botschaft möchten Sie dazu in die Gemeinde tragen?

G. Greiner: Es fällt hier am Ort eines negativ auf - dies habe ich noch nie so ausgeprägt erlebt wie hier in Neulußheim: Es gibt ganz starke Abgrenzungen zwischen Vereinen und zwischen den Parteien sowieso. Aus meiner Heimat kenne ich dies so nicht. Dort hat man hat sich politisch bekriegt und ist nach der Diskussion in Ruhe ein Bier trinken gegangen. Hier wird ganz stark unterschieden, die einen haben mit den anderen überhaupt nichts zu tun. Nach Möglichkeit wird auf der Straße auch nicht gegrüßt. Dies trägt sich durch alle Vereine. Ist man bei einem Verein, geht man auf keinen Fall noch in den anderen. Meines Erachtens muss es möglich sein, diese strenge Abgrenzung zu überwinden - sich etwas stärker auch um andere Dinge zu kümmern, die nicht nur im eigenen Interessenfeld liegen.
Ein anderes Beispiel: Der Kindergarten ist ein aktuelles Thema für die, die ihre Kinder dort haben. Ansonsten interessiert sich dafür niemand. Wir geben sehr viel Geld aus, von unseren kommunalen Mitteln aus unserer kleinen Gemeinde im Jahr 750 000 € Zuschuss. Niemand will genau wissen, was damit eigentlich gemacht wird. Wir wollen die Diskussion darüber führen, dass das, was aus diesen Kindergärten kommt, unsere zukünftige Gesellschaft ist. Man kann Kinder noch massiv so oder so beeinflussen, zum Guten oder zum Schlechten. Dann kann es einem doch nicht egal sein, was dort passiert.

PiD: Sie wollen ein stärkeres Interesse an Pädagogik und an dem, was mit Kindern und Jugendlichen passiert?

G. Greiner: Ja, und generell an kommunalen Einrichtungen.

PiD: In einer extremen Weise hatten wir eine Abwertung von Andersartigen im Dritten Reich gehabt. Ist das auch Thema gewesen? Gibt es ein Interesse an der kommunalpolitischen Vergangenheit des Dorfes im Dritten Reich? Meine eigene Heimatgemeinde nahe bei Frankfurt hat eine Dokumentation erstellen lassen über die Juden in diesem Dorf. Ist das in Neulußheim auch als Thema aufgekommen?

G. Greiner: Es gab von außen keinen Anstoß dazu. Wir haben dies bis jetzt nur deshalb vermieden, um nicht vor allem Schuld suchend in der Vergangenheit zu stöbern. Das hat die Begegnung und die aktuelle Diskussion leichter gemacht. Vielleicht sollten wir dies aber jetzt verknüpfen, was wir eigentlich gerne aus anderen Gründen machen würden. In Neulußheim ist es erstaunlich, dass es weder im kommunalen Archiv noch in irgendwelchen Kirchenbüchern irgendetwas über diese Zeit gibt. Da hat jemand ganz gründlich aufgeräumt. Es beginnt alles erst wieder ab dem Jahr 1946. Von 1933 - 1946 ist überhaupt nichts vorhanden. Weder in der Kirche noch im Rathaus ist über diese Zeit etwas zu finden.

PiD: Hat der getötete Mann Angehörige?

G. Greiner: Er hinterlässt eine Schwester. Er muss auch noch einen Bruder haben, aber der ist in der Obdachlosenszene noch weiter abgerutscht. Seine Schwester lebt bei Bonn, sie hat veranlasst, dass der Leichnam dorthin überführt und dort bestattet wurde. Sie lebt aber auch von der Sozialhilfe, sie ist ebenfalls in der Randgruppe einzustufen.

PiD: Es wird sich bei den 12- bis 13-Jährigen auch die Frage stellen, was man denen als Sanktion auferlegen wird. Sie können ja vor dem 14. Lebensjahr nach Jugendstrafrecht nicht verurteilt werden. Das Prinzip des Täter-Opfer-Ausgleiches wird zunehmend populär. Nun ist das Opfer aber tot. Ist denn hier vorstellbar, dass die Jugendlichen etwas tun und ihr Unrecht wieder gutmachen können? Oder ist dies noch zu früh, weil das Verfahren und die Aufklärung noch nicht abgeschlossen sind?

G. Greiner: Wir haben uns in unserer Steuerungsgruppe und auch in der Gemeinde über dieses Thema noch keine Gedanken gemacht. Dies ist zunächst einmal Sache des Prozesses, überhaupt einmal die unterschiedlichen Beteiligungen in der Gruppe an das Licht zu bringen und dann zu sagen, was angemessen ist.

PiD: Es wird ja keine strafrechtliche Verurteilung geben. Kann es irgendwelche anderen, wenigstens teilweise Ausgleichshandlungen geben? Das wird ja bei Eigentumsdelikten diskutiert, auch bei Körperverletzung. Aber bei Mord und Totschlag?

G. Greiner: Ich würde sagen, für die Gesamtverfassung wäre es fatal, wenn nichts passieren würde. Da muss etwas kommen. Die härteste Strafe bei Jugendlichen, meines Erachtens die wirksamste, wäre die Verweigerung des Führerscheins mit 18 Jahren. 22 Jahre wäre bei mir die Grenze. Hier könnte man sie hart treffen, in der Einschränkung ihrer Freiheitsrechte.

PiD: Die Hütte gibt es nicht mehr, in der der Mann gelebt hat?

G. Greiner: Sie war schon in einem sehr desolaten Zustand. Bevor sie sich zu einem Wallfahrtsort oder zu etwas anderem entwickeln konnte, wurde sie relativ schnell beseitigt. Die Hütte gehörte weder der Gemeinde Alt- noch Neulußheim, sondern einer privaten Waldgemeinschaft. Die haben diese Hütte irgendwann einmal erstellt, aber nicht mehr genutzt. In Absprache mit dieser Gesellschaft wurde die Hütte abgerissen und an diese Stelle ein schöner Baum gepflanzt. Es soll noch ein kleiner Gedenkstein aufgestellt werden.

PiD: Wenn man an Berlin und die dortigen Gedenkstättendiskussionen denkt …?

G. Greiner: Solche Überlegungen hat es hier ja auch gegeben. Aber dies erst, wenn es soweit ist.

PiD: Was haben Sie noch vor? Am Anfang sagten Sie, man müsse ein bisschen vorsichtig sein. Wie kann es weitergehen?

G. Greiner: Wir hatten vorletzte Woche eine Sitzung unserer Steuerungsgruppe. Mit den aktiven Programmen wollen wir gleich starten, mit einem runden Tisch Kindergarten, Schule und offene Jugendarbeit. Bevor wir jedoch irgendwelche Ratschläge geben, um Themen aufzuarbeiten, wollen wir hier im Rathaus Bestandserhebung machen, indem wir mehrere Arbeitsgruppen beauftragt haben, zunächst einmal bis zum 30. März aufzulisten: Wie viele Kinder haben wir in welchem Alter, was ist an Angeboten vorhanden, wie werden diese Aktivitäten wahrgenommen, ist genügend im Angebot, gibt es Überschneidungen, wo sind Problembereiche, die vielleicht besonders bearbeitet werden müssen? Dies alles läuft im Moment schon sehr gut und es gibt noch keinen weiteren Handlungsbedarf.
Diese Zahlen für die unterschiedlichen Bereiche wie Kindergarten, Schule, Jugendarbeit sind anschließend aufzuarbeiten, mit einer klaren Bestands- und Problemanalyse, darauf aufbauend können wir weitermachen. Dann käme die Phase „sehen und hören”. In dieser Phase wollen wir versuchen, mit entsprechenden Fachleuten Informations- und Diskussionsveranstaltungen anzubieten, um darin zu versuchen, das Bewusstsein und bestimmte Verhaltensweisen zu ändern. Der letzte Schritt wäre einfach „Worte finden”, um über Grenzen hinweg ins Gespräch zu kommen.

PiD: Unsere Zeitschrift richtet sich überwiegend an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche. Haben Sie Wünsche an diese Berufsgruppe?

G. Greiner: Für mich war es ein wesentlicher Punkt, dass wir nichts von außen hier hereingetragen haben, sondern das Ganze sich aus unserer Gemeinschaft entwickelt hat. Deshalb sind wir als Gemeinschaft gefordert. Jeder muss sich angesprochen fühlen. Wir müssen uns aber in all den Bereichen Fachleute hinzuholen, in denen wir Hilfe brauchen, die unsere Kompetenzen und Möglichkeiten überschreiten. Wir haben den Psychologen, Herrn Reuser, über die evangelische Beratungsstelle in Mannheim vermittelt bekommen, und er hat das sehr gut gemacht. Am letzten Gespräch hat seine Stellvertreterin, Frau Krämer, teilgenommen, sie war auch sehr involviert in der Sache. Die Schule hat staatliche Psychologen hinzugezogen. Es brächte uns aber nichts, wenn wir uns von außen einen Guru holten, der uns vorschreibt, was wir zu tun haben. Wir müssen unseren Weg selber finden, wir müssen aber auch so offen sein und so selbstkritisch, dass wir unsere eigenen Grenzen erkennen.

PiD: Herr Greiner, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!

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