PPH 2004; 10(1): 1
DOI: 10.1055/s-2004-812901
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

P. Seidenstricker
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Publication Date:
10 February 2004 (online)

Psychiatrische Pflege bedeutet vor allem, den Patienten in seinem Alltag zu begleiten. Mittels Training sollen seine Alltagskompetenzen gefördert und gestärkt werden oder er soll solche erlernen. Er soll befähigt werden, seinen Tag zu strukturieren, und z. B. als Suchtkranker erfahren, wie er seine Freizeit ohne Suchtmittel gestalten kann. Letzteres haben unsere so genannten Freizeit- oder Außenaktivitäten zum Ziel.

Stimmen Sie mir bis hierher zu?

In der Klinik, in der ich arbeite, liegt die durchschnittliche Verweildauer in der Psychiatrie bei 26 Tagen (auf der Suchtstation dürften es sogar nur 14 Tage sein) und sie wird voraussichtlich in den nächsten Monaten weiter sinken. Kann psychiatrische Pflege dann in der Akutpsychiatrie - und von deren Problematik soll hier die Rede sein - weiter so wie eingangs beschrieben erfolgen?

Von einer Stationsleitung hörte ich vor kurzem folgenden Satz: „Das was wir unter psychiatrischer Pflege verstehen, kann unter den heutigen Bedingungen (Personalabbau, Zunahme von administrativen und organisatorischen Aufgaben, mehr Aufnahmen, kürzere Verweildauer) gar nicht mehr praktiziert werden.”

Ja, was machen wir denn dann?

Wenn Koch- und Backgruppen nicht mehr angeboten werden können oder vielleicht auch von den Patienten nicht mehr angenommen werden? Wenn für den Museumsbesuch die personelle Besetzung nicht ausreicht?

Könnte es sein, dass wir unser pflegerisches Handeln in der Akutpsychiatrie und hier besonders auch die Gruppenangebote überprüfen müssen? Sollten diese verändert oder gar reduziert werden zugunsten eines individuelleren Ansatzes, der sich an den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert?

Oder bietet sich hier auch die Chance den stationären und ambulanten Bereich, wie schon lange gefordert, besser zu verbinden, d. h. Gruppen, die Alltagskompetenzen trainieren, auch für ehemalige Patienten zu öffnen?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich plädiere nicht dafür, dass wir Pflegenden uns neuen Entwicklungen stromlinienförmig und unkritisch anpassen und möglicherweise ohne Protest mit ansehen, wie die Qualität psychiatrischer Versorgung sinkt. Aber schwierige Zeiten sollten, ähnlich wie „schwierige” Patienten, auch als Herausforderung gesehen werden, auf die es gilt, mit neuen Herangehensweisen und Konzepten zu reagieren.

Noch eine Bemerkung zur Beziehungspflege: In „Pflege & Gesellschaft” 4-03 zitiert Michael Schulz in seinem Beitrag „Rekonzeptionalisierung als wesentliches Element einer qualitativ hochwertigen psychiatrischen Pflege” die amerikanische Pflegewissenschaftlerin McCabe. Sie bemängelt, dass psychiatrische Pflege dem Beziehungsprozess als Therapeutikum im Sinne Peplaus weiterhin eine zentrale Rolle beimisst und wesentliche Erkenntnisse der letzten 50 Jahre zum Verständnis psychischer Krankheiten nicht berücksichtigt. Laut McCabe ist die Beziehung keine pflegerische Intervention, auch keine Theorie, sondern ein wesentliches Element pflegerischen Handelns. Darüber hinaus wird immer mehr spezifisches pflegerisches Handeln erforderlich sein, dessen Wirksamkeit überprüfbar ist und, um auf die Akutpsychiatrie zurückzukommen, das dem Hilfebedarf des einzelnen Patienten entspricht, aber auch den personellen Ressourcen.

Mit meinen Überlegungen möchte ich eine Diskussion darüber anstoßen (vielleicht ist sie auch schon mancherorts im Gange), ob wir heute nicht mehr als in der Vergangenheit unterscheiden müssen zwischen psychiatrischer Pflege im ambulanten Bereich und/oder bei chronisch Kranken und psychiatrischer Pflege im Akutbereich. Langfristig angelegte pflegerische Beziehungen als Grundlage für Hilfen bei der Alltagsbewältigung spielen in dem einen nach wie vor eine bedeutende Rolle, während der andere Bereich mit akut Kranken, die sich oft nur noch kurze Zeit im Krankenhaus befinden, neue pflegerische Konzepte erfordert. Die psychiatrisch Pflegenden sollten solche bald erarbeiten. Heute können wir noch aktiv gestalten, während wir möglicherweise schon morgen nur noch Entwicklungen hinterherlaufen.

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