Z Gastroenterol 2004; 42(4): 301-302
DOI: 10.1055/s-2004-812973
Editorial

© Karl Demeter Verlag im Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Noch ein Paradigmenwechsel: Defekt des angeborenen - nicht des spezifischen - Immunsystems bei M. Crohn?

Another Paradigm Shift: Defective Innate - Not Specific - Immune System in Crohn’s Disease?E. F. Stange1
  • 1Abteilung Innere Medizin I, Robert Bosch Krankenhaus, Stuttgart
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Publication Date:
19 April 2004 (online)

„The etiology of the process is unknown”, stellten Burrill B. Crohn, Leon Ginzburg und Gordon Oppenheimer in ihrem berühmten Artikel im Jahr 1932 im JAMA fest. Crohn selbst hielt die Erkrankung, die seinen Namen tragen sollte (obwohl sie bereits zweimal von anderen beschrieben war), für eine Infektionskrankheit - am ehesten eine Virusinfektion. In einem weiteren Artikel über die mysteriöse Erkrankung, diesmal ohne Crohn als Koautor, schrieben Ginzburg und Oppenheimer 1933 folgenden aus heutiger Sicht bemerkenswerten, fast prophetischen Satz:

„Both the intestine and its peritoneal covering are known to possess remarkable powers of resistance to infection and inflammatory lesions within them show a striking tendency to undergo resolution. ... In some instances, however, following infection or injury, restitutio ad integram (sic!) does not occur.”

Langsam beginnen wir zu verstehen, wie wohl intuitiv Recht diese drei Kliniker in ihren pathogenetischen Überlegungen damals bereits hatten. Vielleicht lag es auch daran, dass Crohn, der jeden Morgen und jeden Abend über 100 Blocks quer durch New York City zu und von seinem Arbeitsplatz am Mount Sinai Hospital zu Fuß ging und zudem (oder deswegen) 99 Jahre alt wurde, reichlich Zeit zum Nachdenken hatte. Die „resistance to infection” und ihre Bedeutung für den M. Crohn sind in den letzten Jahren bestätigt und molekular definiert worden.

Die letzten Jahrzehnte waren zunächst charakterisiert durch einen gewaltigen Aufschwung der immunologischen Forschung. Naturgemäß standen T-Zellen, Antiköper und Myriaden von Zytokinen auch bei der Erforschung des M. Crohn im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Investitionen in diese Forschungsrichtungen an Zeit und Finanzen waren ebenso sicher Gewinn bringend wie die New Economy - so dachten zumindest die Gutachter der Forschungsförderung und die Reviewer der wissenschaftlichen Zeitschriften. Alternative Ansätze zur Erklärung dieser „idiopathischen”, d. h. unverstandenen, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen von Masernviren bis Mykobakterien wurden rasch kritisiert und, nach einer kurzen Weile erschrockener Besinnung, belächelt. Doch trotz fantastischer Fortschritte im Verständnis der Mukosaimmunologie blieb eines unverstanden: der Auslöser, das primum movens des entzündlichen Geschehens. Die immunologische „Dysregulation”, die von allen Mainstream-Forschern gebetsmühlenartig wiederholt wurde, konnte bis heute nicht molekular eingegrenzt werden. Natürlich gibt es zwar Mäuse, aber aus Sicht dieser Forschungsrichtung unglücklicherweise keine CED-Patienten mit einem Zytokin-Knockout. Welch staunenswert akribische Beschreibung von Sekundärphänomenen!

Ein erster Ruck ging durch die CED-Szene, als klar wurde, dass die immunologische Reaktion nicht gegen körpereigenes Gewebe, sondern gegen normale intestinal-luminale Bakterien gerichtet ist. Diese Befunde von R. Duchmann, bezeichnenderweise aus einer deutschen immunologisch-hepatologischen Abteilung, wurden durch tierexperimentelle Untersuchungen ergänzt und schließlich akzeptiert - die Zielantigene sind somit nicht wirklich „autoimmun”, es sei denn, wir betrachten unsere bakterielle Darmflora als integralen Teil des Organismus. Diese immunologischen Zusammenhänge sind übrigens auch unter dem Gesichtspunkt einer Abheilung von Darmabschnitten distal eines Stomas plausibel; auch die Chirurgen hatten also schon immer Recht.

Der zweite völlig überraschende Befund ergab sich aus Arbeiten einer französischen Arbeitsgruppe um J. P. Colombel und einer deutschen von A. Swidsinski: Die Mukosa bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen ist, im Gegensatz zu gesunder, durch epithelial adhärente und teilweise invasive Bakterien charakterisiert. Damit wird die Erkrankung zu einem Barriereproblem des Epithels, solche Biofilme von Bakterien lassen sich kaum durch einen Defekt im spezifischen Immunsystem der Mukosa erklären. Gegenwärtig wird im Detail untersucht, welche Darmbakterien an diesem Phänomen beteiligt sind.

Die dritte neue Entwicklung ist die lang erwartete Entdeckung und Erstbeschreibung eines molekularen Defekts bei M. Crohn durch das Team um J. P. Hugot in Paris, dem französischen Pionier der molekulargenetischen Forschung bei M. Crohn, und einer amerikanischen Gruppe um J. Cho in Chicago. Zunächst hatte Hugot einen Suszeptibilitätslocus auf Chromosom 16 gefunden, der international bestätigt wurde. Schließlich konnten beide unabhängig voneinander den Defekt in „Loss of Function”-Mutationen des NOD2, einem intrazellulären Rezeptor für bakterielles Peptidoglykan, erstbeschreiben. Auch eine deutsche Arbeitsgruppe hat diese Ergebnisse nach kurzer Zeit bestätigt. Unklar blieb, warum diese Mutation zu einem M. Crohn führt und welcher Defekt bei der Mehrzahl der M.-Crohn-Patienten, die diese Mutation nicht aufweisen, vorliegt.

Schließlich hat unsere Arbeitsgruppe zunächst an der Universitätsklinik zu Lübeck, dann im Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart unter der Hypothese eines grundlegenden Defensindefekts zu den oben erwähnten Befunden recht gut passende Veränderungen der antibakteriellen Abwehr der Darmmukosa erarbeitet. Wie in dem nachstehenden Artikel ausgeführt wird, muss je nach Befallsmuster differenziert werden: Bei Kolonbefall des M. Crohn findet sich im Vergleich zur Colitis ulcerosa eine gestörte Induktion dieser antibakteriell und chemotaktisch wirksamen Peptide. Dies betrifft im Kolon mehrere ß-Defensine, die im Dünndarm nur eine untergeordnete Rolle spielen. Im Ileum ist demgegenüber ein Defekt der Bildung von α-Defensinen entscheidend, der nur bei Ileitis terminalis nachweisbar ist. Besonders ausgeprägt ist die verminderte Expression von α-Defensinen bei Mutationen im NOD2-Gen, das vor allem in Paneth-Zellen exprimiert wird. Dies erklärt die Lokalisation des M. Crohn bei diesen Mutationen vorwiegend im terminalen Ileum. NOD2 spielt offenbar eine wesentliche Rolle bei der Erkennung und Abwehr einer bakteriellen Attacke auf das Epithel, indem es als Mediator einer Defensininduktion dient.

Natürlich ist noch viel weitere Arbeit erforderlich, um die genauen molekularen Zusammenhänge aufzudecken: Wo liegt genau der Induktionsdefekt bei den Patienten ohne NOD2-Mutation? Welche Mediatoren oder Rezeptoren (Toll like receptor 4?) sind hier beteiligt? Ist der Defensindefekt pathogenetisch bei allen oder nur einem Teil der Patienten von Bedeutung? Wo liegt das pathogenetische Problem bei der Colitis ulcerosa? Interessanterweise sind ANCAs gegen ein weiteres antibiotisch wirksames Peptid, das bactericidal permeability increasing protein (BPI), gerichtet - Zufall?

Ein solcher Paradigmenwechsel von der spezifischen zur angeborenen Immunität hätte natürlich auch erhebliche Konsequenzen für unser therapeutisches Denken. Falls primär ein Problem dieser chemischen Barriere vorliegt, wäre der traditionelle rein immunsuppressive Ansatz nicht wirklich zielführend. Tatsächlich ist eine wohl dosierte Immunsuppression zwar in vielen Fällen wirksam, aber zumindest im Fall von Infliximab bisweilen letal und niemals kurativ. Könnte es sein, dass Kortikosteroide deswegen zu Steroidabhängigkeit führen, weil sie die Defensinsynthese unterdrücken? Wie viel eleganter wäre es, wenn die endogene Barriere medikamentös aktiviert werden könnte, um Entzündungsschübe zu verhindern? Bei der Colitis ulcerosa in Remission scheint dies mit E. coli Nissle zu gelingen. Gerade dieser probiotische Keim stimuliert die Defensinsynthese weitaus stärker als alle anderen getesteten E. coli - auch dies vermutlich kein Zufall. Licht am Ende des Tunnels zur kausalen Therapie?

Immerhin, wie die oben erwähnten Beispiele zeigen, ist es auch in Deutschland, trotz der konservativen Strukturen der klinischen Forschung und der hierzu komplementären Forschungsförderung, bisweilen möglich, originelle Ansätze umzusetzen. Es ist der Mühe wert nachzuweisen, dass Crohn, Ginzburg und Oppenheimer ebenso wie einige andere Querdenker Recht hatten. Gerade weil die Lerche lange behauptete, sie sei die Nachtigall.

Prof. Dr. Eduard F. Stange

Abteilung Innere Medizin I, Robert-Bosch-Krankenhaus

Auerbachstr. 110

70376 Stuttgart

Email: eduard.stange@rbk.de

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