Aktuelle Rheumatologie 2004; 29(3): 125-127
DOI: 10.1055/s-2004-813302
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schmerzen in der Kinder- und Jugendrheumatolgie

Pain in Pediatric and Juvenile RheumatologyH. Michels1
  • 1Rheumaklinik für Kinder und Jugendliche, Garmisch-Partenkirchen (Ärztlicher Direktor: Dr. H. Michels)
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Publication Date:
08 July 2004 (online)

Schmerz in der Kinder- und Jugendrheumatologie ist ein bislang eher vernachlässigtes Thema. Dabei nehmen insbesondere die so genannten weichteilrheumatischen Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen aus bislang nicht ausreichend geklärten Gründen enorm zu. Sowohl in Europa als auch in den USA machen „idiopathische” Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparats („Schmerzverstärkungssyndrome”) bereits etwa 10 % der Patienten in Spezialeinrichtungen für Kinder und Jugendrheumatologie aus [1]. Deshalb verdient dieses Gebiet verstärkte Beachtung. Die Auswirkungen auf den Alltag der Betroffenen, auf Schule und Ausbildung, aber auch auf die gesamte Familie sind immens, führen sowohl zu einem erheblichen Leidensdruck als auch zu beträchtlichen, von der Gesellschaft aufzubringenden Kosten. So sind die Autoren der Beiträge und ich dem Herausgeber der Aktuellen Rheumatologie, Herrn Dr. Miehle und Frau K. Maier, Thieme-Verlag, außerordentlich dankbar für die Möglichkeit, in dieser Ausgabe der Aktuellen Rheumatologie den derzeitigen Stand des Wissens aus ganz verschiedenen Blickwinkeln darstellen zu dürfen. Dabei wird der Bogen von der ärztlich-kinderrheumatologischen Sichtweise über die der Psychologen bis hin zu einem psychotherapeutischen Ansatz gespannt. Grundlage der Beiträge sind entsprechende Vorträge, die auf dem 29. Garmischer Symposium für Kinder- und Jugendrheumatologie (23.- 24. Januar 2004) gehalten wurden.

In seinem einleitenden Übersichtsreferat „Schmerz - ein multisystemisches Erlebnisprodukt” gibt Herr Prof. H. Truckenbrodt, Garmisch-Partenkirchen, einen umfassenden Überblick über die Definition, Physiologie und Pathophysiologie des entzündlich-rheumatischen und des nichtentzündlichen Schmerzes und über seine Auswirkungen im Kontext der Kinder- und Jugendrheumatologie. Chronische Schmerzen führen über Bewegungsmangel zu Wahrnehmungsdefiziten und interferieren nachhaltig mit der körperlichen und psychosozialen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen.

Frau Oberärztin Dr. R. Häfner und Frau C. Beisken, Physiotherapeutin, beide Garmisch-Partenkirchen, stellen die „Klinische Symptomatik bei entzündlich rheumatischem Schmerz, physiotherapeutische Intervention” am Beispiel der juvenilen idiopathischen Arthritis dar. Dabei werden die nonverbalen Schmerzäußerungen der Kinder und die sich aus schmerzbedingten Fehlhaltungen entwickelnden Fehlstellungen als Grundlage des therapeutischen Handelns erörtert. Das so genannte Garmischer Physiotherapie-Behandlungskonzept wird Schritt für Schritt sehr präzise und praxisnah entwickelt. Die Behandlung bei Kleinkindern besteht in einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zu dritt (Therapeutin, Kind, Mutter). Die Mutter (oder der Vater) wird als Co-Therapeut in den Therapieplan integriert.

Die weltweit größten Erfahrungen bei Kindern und Jugendlichen mit Schmerzverstärkungssyndromen im Bereich des Bewegungsapparats werden Prof. D. Sherry, Philadelphia, zugeschrieben. In seinem Beitrag „Diagnose und Therapie von Schmerzverstärkungssyndromen bei Kindern: Erfahrung aus zwei Jahrzehnten” stellt er die klinischen Unterschiede zu den Erwachsenen heraus und weist auf die weitaus bessere Prognose bei Kindern gegenüber dem adulten Fibromyalgiesyndrom hin. Da die ACR-Fibromyalgiekriterien für Kinder nicht validiert sind und in dieser Form die tägliche Praxis bei Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend widerspiegeln, vermeidet er diesen Begriff im Übrigen auch konsequent. Besonders bemerkenswert ist sein Therapieansatz, der weitgehend auf alle Medikamente und interventionellen Maßnahmen verzichtet und sich statt dessen hauptsächlich auf ein täglich fünfstündiges intensives Bewegungstraining bei einem Verhältnis Patient zu Therapeut von 1 : 1 stützt, Gesamtdauer etwa drei bis vier Wochen. Noch bemerkenswerter sind die erstaunlich guten Ergebnisse insbesondere bei CRPS I mit 92 % Symptomfreiheit, nach fünf Jahren waren noch 88 % beschwerdefrei, nach den jüngsten Erfahrungen mit dieser Therapie in Garmisch-Partenkirchen in der Tendenz zu bestätigen. Wie ist eine solch personalintensive Behandlung für eine Klinik finanziell realisierbar? Prof. Sherry erhält von den Krankenversicherungen pro ambulantem Patienten und Woche etwa 5000 USD, für stationäre Patienten etwa 9000 USD pro Woche.

In ihrem Beitrag „Juvenile Fibromyalgie - „alles tut weh” geht Frau Oberärztin Dr. R. Häfner, Garmisch-Partenkirchen, auf die generalisierten Schmerzverstärkungssyndrome im Bereich des Bewegungsapparats ein. Neben der enormen Häufigkeitszunahme dieser Erkrankungsbilder fällt ein Verschwinden der Altersgrenze nach unten auf. Mittlerweile werden in Deutschland zunehmend auch 6- bis 7-jährige Patienten gesehen, in den USA sogar gelegentlich 2- bis 3-jährige Kleinkinder (Sherry). Prof. Cassidy, Columbia/USA, weltweit einer der erfahrensten Kinderrheumatologen, macht die gesellschaftlichen Entwicklungen der westlichen Welt für diesen Trend mitverantwortlich (persönliche Mitteilung). Eine frühzeitige Diagnosestellung und eine sofort eingeleitete multidisziplinäre Therapie sind dringlich, will man die weitere Chronifizierung der Schmerzen aufhalten.

Ebenso wie D. Sherry - ausgehend von den insgesamt enttäuschenden pharmakotherapeutischen Möglichkeiten bei der Behandlung chronischer Schmerzen bei Kindern - stellen Prof. B. Mangold et al., Universitätskinderklinik Innsbruck, einen systemisch-familiendynamischen Ansatz vor, der sich ihnen in zehnjähriger Erfahrung auch bei chronischen Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparats bewährt hat, vor allem, wenn sie als Somatisierungsstörungen vorliegen. Dabei wird die Perspektivenerweiterung von der individuumorientierten Behandlung des Patienten auf eine familiendynamische Ebene wichtig. Die bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen fast regelmäßig anzutreffende sehr enge, gegebenenfalls einengende Beziehung zur Mutter („unbalancierte Triangulation”) erfordert eine verstärkte Einbeziehung des Vaters bzw. eines Dritten („balancierte Triangulation”).

Frau Dipl. Psych. H. Seemann, Universitätsklinik Heidelberg/Abteilung Medizinische Psychologie, die langjährige Erfahrungen in der psychotherapeutisch-psychologisch orientierten Schmerzbehandlung bei Kindern hat und Autorin einschlägiger Bücher ist, fragt: „Kannst du Schmerzen einfach vergessen?” Das Vergessen von Schmerzen hängt u. a. vom emotionalen Kontext, in dem sie erfahren werden, ab. Negative Begleiterscheinungen beim Wahrnehmen des Schmerzes, z. B. persönlich herabsetzende Äußerungen eines nahe stehenden Menschen oder eine pessimistische Lebensauffassung, begünstigen eine Chronifizierung, während Ermunterung oder ein optimistischer Lebensstil das „Vergessen” erleichtern. Frau Seemann gibt zahlreiche praxisorientierte Beispiele, wie sich die Waagschale in Richtung „Vergessen” beeinflussen lässt. Dazu gehören aktivierbare „Schutzfaktoren”, etwa die positive Verstärkung durch relevante Bezugspersonen, und Imaginationstechniken, z. B. sich an einen schönen, sicheren Ort denken.

Frau Dr. G. Meier, Rheumazentrum Oberammergau, die als Leiterin der Klinik für Anästhesie und interventionelle Schmerztherapie am Rheumazentrum Oberammergau über große Erfahrungen in der Schmerztherapie verfügt und Verfasserin einschlägiger Artikel und Bücher ist, berichtet über das „Komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS I)”. Dabei werden Nomenklatur, Klinik und die Diagnosestellung dargestellt und die verschiedenen Behandlungsmethoden in ihrer Differenzialindikation verglichen. Sehr praxisorientiert geht Frau Dr. Meier auf das Spektrum der interventionellen Maßnahmen ein. Die Therapie des CRPS ist vor allem dann erfolgreich, wenn sie frühzeitig nach einem multimodalen und interdisziplinären Konzept erfolgt.

„Das Garmischer Modell für die Behandlung von Schmerzpatienten in der Kinder- und Jugendrheumatologie”, wie es sich innerhalb eines Dreivierteljahres seit der Gründung einer speziellen Schmerzstation (April 2003) in der Rheumaklinik für Kinder und Jugendliche Garmisch-Partenkirchen entwickelt hat, wird von Dr. Matthias Richter et al. dargestellt. Herr Dr. Richter und Frau Oberärztin Häfner beschreiben die ärztlich-medizinischen Ansatzpunkte einschließlich der insgesamt bislang enttäuschenden pharmakotherapeutischen Möglichkeiten, während die übrigen Mitglieder des „multiprofessionellen Schmerzteams” weitere Behandlungsaspekte darstellen. Frau Dipl. Psychologin A. Schurer stellt das psychologische Angebot dar. Dabei schildert sie die vielfältigen Möglichkeiten der Einzel- und der Gruppenbehandlung und schließt auch die Elterngespräche mit ein. Frau M. Spamer, leitende Physiotherapeutin der Garmischer Klinik, erläutert den physiotherapeutischen Behandlungsansatz. Beginnend mit der sorgfältigen Befunderhebung wird ein stufenweises, systematisches, aber individuell abgestimmtes Vorgehen verfolgt, das unter anderem ein Wiedererlangen der inneren Balance und ein Wecken des kreativen Ausdrucks einschließt und Wert auf ein Trainingsprogramm für zu Hause legt. Methodisch werden dabei auch „ganzheitliche Verfahren” eingesetzt wie die kraniosakrale Therapie, die Reflexzonentherapie oder die Akupunktmassage. Über die Stellung der Ergotherapie innerhalb des Garmischer Behandlungskonzeptes berichtet Frau K. Fischer, Ergotherapeutin. Dabei geht es insbesondere um die Bereiche Körperwahrnehmung, funktionelles Training und kreatives Gestalten. Die chronischen Schmerzen führen daheim nur zu oft zu einem Rückzug der Kinder und Jugendlichen aus dem normalen Alltagsleben. Hier setzt die Therapie mit „aktivierenden Einheiten” an. Herr Diakon B. Fauser, Leiter des Sozialdienstes der Garmischer Rheumaklinik für Kinder und Jugendliche, schildert die Möglichkeiten dieser Therapiekomponente im Gesamtbehandlungsplan.

Die mittlerweile gut einjährigen Erfahrungen in der Behandlung der Kinder und Jugendlichen mit Schmerzverstärkungssyndromen nach dem „Garmischer Modell” sind außerordentlich ermutigend. So hoffen wir, dass die hier vorliegende umfassende Darstellung der vielfältigen Aspekte der Pathophysiologie, der Diagnostik und Behandlung dazu beiträgt, die oft verzweifelte Situation dieser Patienten und ihrer Familien zu verbessern und eine weiterführende Diskussion anzuregen. Darüber hinaus erwarten wir von einer erfolgreicheren Therapie erhebliche finanzielle Einsparungen, denn die durch Chronifizierung der Erkrankung, durch Fehlbehandlungen, durch abgebrochene Schul- und Berufsausbildung entstehenden Kosten sind immens.

Literatur

  • 1 Bowyer S, Roettcher P. Pediatric rheumatology clinic populations in the United States: results of a 3 year survey.  J Rheumatol. 1996;  23 (11) 1968-1974

Dr. Hartmut Michels

Rheumaklinik für Kinder und Jugendliche

Gehfeldstr. 24

82467 Garmisch-Partenkirchen

Phone: 0 88 21/70 11 17

Fax: 0 88 21/70 12 01

Email: michels.hartmut@rummelsberger.net

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