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DOI: 10.1055/s-2004-814413
Echter Fortschritt in der Intensivmedizin muss auch in Zukunft noch finanzierbar sein - Plädoyer für einen öffentlichen Diskurs
Genuine Progress in Intensive Care Medicine Must be Payable also in Future - a Plea for a Public Debate Die Fa. Lilly Deutschland GmbH hat die Durchführung der nationalen Prävalenzstudie des Kompetenznetzwerkes im Strukturaufbau Sepsis (SepNet), dessen Sprecher der Autor ist, finanziell unterstützt. Unabhängig hiervon hat der Autor Honorare im Rahmen von Vortragstätigkeiten von dieser Firma erhalten.Publication History
Publication Date:
19 April 2004 (online)
Mit seinem Artikel „Können wir uns die Fortschritte der Intensivmedizin noch leisten” [1] hat Herr Boldt eine Debatte öffentlich gemacht, die spätestens mit der Marktzulassung von aktiviertem Protein C (Drotrecogin alfa, aktiviert; DAA) vor nun gut zwei Jahren unter Intensivmedizinern geführt wird.
Doch zunächst eine Klarstellung: Medizinischer Fortschritt in der Intensivmedizin ist nicht zwangsläufig an höhere Kosten gebunden, wie eine Reihe von Studien der letzten Jahre zeigten, die eine hochsignifikante Mortalitätsreduktion zwischen 10 und 15 % durch einfache und kostengünstige Maßnahmen wie die Optimierung der Beatmung [2], die Einführung von Sedierungsprotokollen [3] [4], die frühe zielgerichtete Kreislauftherapie [5], der Einsatz von niedrig dosiertem Hydrocortison [6], die Blutzuckernormalisierung mittels Insulin [7] belegen. Festzuhalten ist hierbei, dass diese Studien entweder ausschließlich öffentlich gefördert waren, wie die ARDS/NET-Studie, oder auf der Initiative von individuellen klinischen Forschern bzw. Forschergruppen beruhten.
Wie interessant eine offene Diskussion zu diesem Thema auch für die Öffentlichkeit ist, zeigt die Reaktion zu dem Artikel von Herrn Boldt auch in der Laienpresse. Dabei ist die Diskussion nicht auf Deutschland beschränkt; selbst das „Wall Street Journal” hat sich in zwei Artikeln kritisch mit der Frage befasst, ob der hohe Preis von DAA zu einer Rationierung dieser potenziell lebensrettenden Substanz in den USA geführt hat, die ethisch zu hinterfragen wäre oder ob das Aufwerfen der Ethikfrage in diesem Zusammenhang lediglich eine besonders geschickte Marketingstrategie der Firma E. Lilly sei.
Die Society of Critical Care Medicine (SCCM) hat in den USA aktuell eine Umfrage durchgeführt, die zu dem Ergebnis kam, dass von 620 befragten Intensivmedizinern 27 % DAA aus finanziellen Gründen nicht gegeben haben, während weitere 43 % sich vorstellen könnten, die Substanz wegen der hohen Kosten nicht zu verabreichen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bisher nur 3 % der befragten Intensivmediziner aus den angeführten Gründen nicht auf GPIIb-IIIa-Inhibitoren - eine vergleichsweise teure Substanz in der Behandlung des akuten Myokardinfarktes - verzichtet haben, und 10 % dieses auch in Zukunft nicht tun würden [8].
Wie Herr Boldt in seinem Beitrag aufzeigt, ist DAA nicht die einzige neue teure Substanz, die die Budgets von Intensivstationen potenziell belastet. Wer medizinische und wirtschaftliche Verantwortung für eine Intensivstation trägt und den Anspruch hat, das Bestmögliche für seine Patienten zu tun und mit diesem Ziel die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin ernst nimmt, befindet sich zweifellos spätestens jetzt in einem Dilemma. Ich unterstelle, dass eine vergleichbare Umfrage auf deutschen Intensivstationen zu einem ähnlichen Ergebnis führen würde, und ich gestehe gleichzeitig, dass erstmals in meinem beruflichen Leben finanzielle Erwägungen bei der Indikationsstellung für eine bestimmte Therapieform eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Als klinischer Forscher und Arzt sehe ich eine klare Indikationsstellung für DAA bei bestimmten Patienten mit schwerer Sepsis, als Budgetverantwortlicher, dessen Intensivbudget ins Minus abzugleiten droht, was Investitions- und Stellenstopp bedeutet, stehe ich vor dem Problem der Finanzierbarkeit.
Die Intensivmediziner bewegt die Markteinführung von Substanzen wie DAA besonders, weil wir im Bereich der Intensivmedizin erstmals mit einem teuren Produkt mit einer relativ eindeutigen Indikationsstellung konfrontiert sind. Aufgrund der Studienlage, d. h. Vorliegen einer großen Studie mit positivem Ergebnis, empfehlen nationale und internationale Fachgesellschaften mit einem Evidenzgrad B den Einsatz [9] [10]. Die Kollegen aus der Kardiologie, Onkologie, Nephrologie, Rheumatologie, Gastroenterologie, deren Kosten für verschiedene innovative Produkte pro gewonnenem Lebensjahr für bestimmte Patienten in der gleichen Größenordnung wie für DAA liegen, haben im Interesse ihrer Patienten nicht auf den Einsatz dieser Produkte verzichtet. Hätten sich die Kardiologen dem medizinischen Fortschritt verschlossen, wäre es ihnen nicht gelungen, z. B. die Sterblichkeit des akuten Herzinfarkts im Zeitraum von den 60er-Jahren bis heute von 25 - 30 % auf 2,7 - 9 % zu senken. Der Preis dafür ist immens, er wurde aber von der Gesellschaft und den Kostenträgern akzeptiert. Erythropoetin, eines der Medikamente mit den höchsten Kosten weltweit, ist aus der Behandlung bestimmter Patienten nicht mehr wegzudenken; auch der Preis hierfür war und ist immer noch sehr hoch. Wenn wir als Intensivmediziner unsere Profession im Sinne eines Anwalts für die uns anvertrauten Patienten sehen, dann dürfen wir uns dem medizinischen Fortschritt auch dann nicht verschließen, wenn er relativ viel Geld kostet, ohne uns dabei zum unkritischen Handlanger der Pharmaindustrie zu machen. Ich vermag nicht einzusehen, warum ein Patient mit Sepsis nicht den gleichen Anspruch auf eine optimale Behandlung haben sollte wie ein Patient mit AIDS, Herzinfarkt oder einem Karzinom. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass in Deutschland über 80-Jährige mit neuen Herzklappen versehen werden, auch nur kurze Zeit trockene Alkoholiker bei Bedarf eine Lebertransplantation erhalten, für die alleine die Akutkosten bei ca. 120 000 EUR liegen, von den Folgekosten ganz zu schweigen. Ob das in Zukunft so bleiben wird bzw. bleiben sollte, wird sich zeigen. Die Internationale Surviving Sepsis Campaign und die Deutsche Sepsis-Gesellschaft haben sich das Ziel gesetzt dazu beizutragen, die Sepsissterblichkeit in den nächsten fünf Jahren um 25 % zu senken; dies bedarf vielfältiger Anstrengungen und wird nicht ohne zusätzliche Mittel möglich sein.
Wir können diese wichtige Diskussion nicht nur im eigenen Kreis führen, sondern müssen die Kollegen der anderen Fachbereiche mit einbeziehen, erstens um mit diesen gemeinsam eine öffentliche Debatte mit der Gesellschaft und ihren Repräsentanten darüber zu führen, wieviel medizinischen Fortschritt sich diese Gesellschaft für welche Patienten in Zukunft leisten kann und leisten möchte. Wie wir alle wissen, sind die Kosten für die Intensivmedizin deshalb am Steigen, weil immer öfter ältere Menschen mit entsprechenden Begleiterkrankungen immer größeren operativen Eingriffen und anderen aggressiven Therapieformen unterworfen werden, die zwangsläufig mit höheren Komplikationsraten und damit höherem intensivmedizinischen Aufwand einhergehen. Der medizinische Fortschritt ist in einer ganzen Reihe von Bereichen ohne einen gesteigerten intensivmedizinischen Aufwand nicht denkbar. Auch aus diesen Gründen muss der Dialog mit den Vertretern der entsprechenden Fachgebiete geführt werden. Dabei muss sowohl uns Medizinern als auch der Gesellschaft bzw. jedem einzelnen bewusst sein, dass wir inzwischen in vielen Bereichen und auch in der Intensivmedizin eine Situation erreicht haben, in der die Kosten für ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr immer höher werden. Die Kosten für ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr durch den Einsatz von DAA wurden mit 10 215 EUR berechnet, im Vergleich hierzu liegen die Kosten für ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr durch den Einsatz von Pravastatin in der Prävention der KHK bei Patienten mit normalem Cholesterinspiegel bei 22 497 EUR. Um den gleichen Effekt durch Frühdiagnose von Brustkrebs mittels Mammographie-Screening im 2-Jahresrhythmus bei Frauen im Alter zwischen 50 und 69 Jahren zu erzielen, müssten zwischen 7 669 - 10 226 EUR abhängig von der Screeningmethode ausgegeben werden [11].
Die Art der Organisation des Gesundheitswesens in Deutschland erleichtert den Umgang mit neuen kostenintensiven Therapiemethoden nicht, denn die Verantwortung bzw. finanzielle Last liegt primär beim Budgetverantwortlichen, leitenden Arzt bzw. dem Krankenhausträger, d. h. das Problem wird zunächst auf den Arzt vor Ort abgewälzt; dieser sieht sich nicht nur in einem ethischen Dilemma, sondern auch in einem potenziell juristischen. Nach meinem Kenntnisstand (pers. Mitteilung von Prof. Ulsenheimer) können wir zwar einem Patienten eine teure Therapie vorenthalten, wenn wir glauben, sie nicht finanzieren zu können, müssen den Patienten dann aber darüber aufklären, damit er entscheiden kann, gegebenenfalls selbst für die Kosten aufzukommen.
Herr Boldt hält zu Recht den Ansatz, die Patienten selbst zahlen zu lassen, mit dem deutschen System für unvereinbar; ich bin nicht sicher, ob wir in Deutschland in 10 Jahren nicht anders als bisher und viel offener über Selbstbeteiligungsmodelle denken werden als noch heute. Wer mit Hilfe der modernen Medizin einschließlich der Intensivmedizin 90 Jahre und älter werden möchte, muss bereits in der Jugend darüber nachdenken, wieviel Geld er für Urlaub, Luxusgüter etc. ausgibt und wieviel für Vorsorge im Krankheitsfall. Wenn Herr Boldt sich in diesem Zusammenhang freut: „Wir sind (glücklicherweise) nicht in den USA!”, so ist hier der Hinweis zu machen, dass dort per Gesetz eine Regelung für neue teure Therapien geschaffen wurde, die für bedürftige Patienten eine 50%ige Übernahme der Kosten durch eine staatliche Versicherung garantiert. Interessanterweise ist DAA das erste Medikament, für das diese Regelung Anwendung findet. In Ländern wie Belgien und England entscheiden staatliche Einrichtungen mit Hilfe von Expertengremien über die Finanzierung der zusätzlichen Kosten, die im Einzelfall durch neue teure Produkte entstehen, d. h. hier wird das Problem nicht auf den individuellen Arzt abgewälzt. Ziel für Deutschland muss es sein, auch im Rahmen der DRGs Innovationen, die einen wirklichen Nutzen für den Patienten bringen, zu vergüten. Aufgabe unserer Fachgesellschaften muss es sein, diesen Prozess zu ermöglichen bzw. zu beschleunigen. Dieses wird jedoch nur finanzierbar sein, wenn gleichzeitig dort gespart wird, wo die Evidenz für die Effektivität bestimmter Therapiemaßnahmen nicht erbracht werden kann; dieses gilt für die Medizin insgesamt - aber auch für die Intensivmedizin. Wer das Arzneimittelbudget von Intensivstationen kritisch durchforstet, wird in vielen Fällen feststellen, dass nicht selten hunderttausende Euro pro Jahr für Blutprodukte wie z. B. Humanalbumin ausgegeben wurden bzw. immer noch ausgegeben werden, deren Effektivität nicht belegt ist.
Herr Boldt hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Intensivstationen, die bereits in der Vergangenheit auf den Einsatz von teilweise sehr teuren Substanzen mit unzureichendem Wirksamkeitsnachweis verzichtet haben, jetzt weniger Spielraum zur Umverteilung zugunsten der Kosten für evidenzbasierte Produkte haben, deren Wirksamkeit eindeutiger belegt ist. Die kontinuierliche Überprüfung unserer Arzneimittelbudgets entlang der Kriterien der evidenzbasierten Medizin wird angesichts der DRG-Problematik unerlässlich sein. Dies fällt nicht in jedem Fall leicht, weil, wie von Herrn Boldt richtig zitiert, wird, „das Fehlen eines Wirksamkeitsnachweises nicht gleichbedeutend ist mit dem Nachweis der Wirkungslosigkeit”. Ob wir in Zukunft aber noch rechtfertigen können, Millionen Euros für Substanzen auszugeben, deren Einsatz von nationalen und internationalen Expertengremien bzw. -gesellschaften abgelehnt wird, wage ich zu bezweifeln. Dies gilt um so mehr für den, der glaubt aus Kostengründen neue Substanzen nicht einsetzen zu können, deren Wirksamkeit für bestimmte Patientengruppen eindeutig belegt ist.
Die Bewertung des medizinischen Nutzens und der potenziellen Kosten für DAA durch Herrn Boldt erfordert einige Klarstellungen. Wenn eine Berechnung von Herrn Forst zitiert wird, nach der beim flächendeckenden Einsatz dieser Substanz in Deutschland zusätzliche Kosten von jährlich 2,2 Milliarden EUR anstehen, so trägt dies nicht zu einer sachlichen Diskussion bei. Selbst die Firma Lilly, die sicherlich das größte Interesse am breiten Einsatz dieser Substanz hat, und die Analysten der Wallstreet gingen weltweit nur von einem Umsatz von 1 Milliarde Dollar aus; bekanntlich lag der Umsatz im vergangenen Jahr unter 150 Millionen Dollar weltweit. Wer wie Herr Boldt für eine Intensivstation mit ca. 1000 Patienten pro Jahr, von denen maximal 10 % (100 Patienten) eine schwere Sepsis erleiden, Zusatzkosten durch DAA von 800 000 EUR pro Jahr errechnet, unterstellt, dass jeder Patient mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock eine Indikation für DAA hat. Auf operativen Intensivstationen gibt es bei Berücksichtigung der Kontraindikationen schätzungsweise lediglich für 5 - 15 %, also für 5 - 15 Patienten mit schwerer Sepsis eine Indikation; dies bedeutet immer noch jährliche Zusatzkosten von 40 000 - 120 000 EUR pro Jahr. Damit liegen die Kosten für eine indikationsgerechte Behandlung mit DAA bei insgesamt 15 Patienten nicht höher als die Kosten für eine Lebertransplantation bei einem Patienten.
Es liegen Zahlen aus verschiedenen deutschen Universitätskliniken vor, die eindeutig belegen, dass mit einem Wechsel in der Leitungsstruktur von Intensivstationen im Sinne der Stärkung der intensivmedizinischen Expertise eine Senkung der Medikamentenkosten vor allem im Blutproduktebereich realisiert wurde, die mehrere hunderttausend Euro pro Jahr betrugen. Wo dieser Prozess in den vergangenen Jahren konsequent vollzogen wurde, ist leider jetzt der finanzielle Spielraum am geringsten.
Wir sind jedoch gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber den Kostenträgern nur glaubwürdig, wenn wir mit realen Zusatzkosten argumentieren, die beim überlegten, indizierten Einsatz von innovativen Produkten zustande kommen und gleichzeitig belegen, dass wir bereit sind, auf teure Produkte, deren Wirksamkeit in Rede steht, zu verzichten. Hier möchte ich den Intensivmediziner Kilo zitieren, der in einer Publikation der American Society of Critical Care Medicine (SCCM) Folgendes ausführt: „Die starke Variation der therapeutischen Praxis und der Behandlungsergebnisse, die in der Intensivmedizin zu beobachten sind, lassen wenig Raum für eloquente Erklärungen. Aus der Sicht eines Patienten oder der Kostenträger provoziert diese Variation zurecht schwere Zweifel an der Professionalität und Qualität der Versorgung.” Die normative Kraft des Faktischen, die durch die DRGs in geballter Form auf uns zukommt, wird den Rechtfertigungsdruck über Benchmark-Vergleiche immens erhöhen. Wir werden diesen Druck nur durch Qualität unter Bezugnahme auf die Kriterien der evidenzbasierten Medizin so parieren können, dass die Versorgung der uns anvertrauten Intensivpatienten nicht Schaden nimmt. Zur Professionalität gehört hier auch, dass wir die Diskussion um Substanzen wie DAA so sachlich wie möglich führen. Wir haben in der Vergangenheit zu Recht bedauert, dass im vergangenen Jahrzehnt im Bereich der Intensivmedizin ca. 60 - 70 groß angelegte, von der Pharmaindustrie mit Milliardenbeträgen finanzierte Studien bzw. Produktentwicklungen gescheitert sind und nicht zur Markteinführung von Produkten geführt haben, weil der Wirksamkeitsbeleg gefehlt hat. Wir stehen gleichzeitig vor einer Sterblichkeitsrate für die Sepsis, die nach wie vor um 40 % liegt. Mit DAA haben wir sicherlich keine „magic bullet” und ich kenne keinen ernst zu nehmenden Intensivmediziner, der diese Substanz als solche bezeichnet hätte, selbst Lilly bezeichnet sie als einen Baustein. Ob diese Firma mit ihrer Marketingstrategie in allen Phasen gut beraten war, kann man vielleicht bezweifeln. Ob der Preis so hoch sein muss, wie er ist, vielleicht auch. Dass DAA bei richtiger Indikationsstellung Leben retten kann, kann nicht bestritten werden. Die Zahl der Patienten, die wir behandeln müssen, um ein Leben zu retten liegt mit 8 - beim Einsatz bei Patienten mit einem APACHE-Score > 24 - in einer Größenordnung, die im Vergleich mit anderen innovativen Produkten in anderen Bereichen als sehr effektiv zu bewerten ist. In diesem Zusammenhang ist die Aussage eines Vertreters der FDA interessant, dass die PROWESS-Studie eine der beeindruckendsten Nachweise für die Senkung der Sterblichkeit in der Geschichte klinischer Studien sei [1]. Die europäischen wie auch die nordamerikanischen Zulassungsbehörden haben bei der Zulassung bzw. Indikationsstellung, die auf Patienten mit mindestens zwei Organversagen bzw. einem APACHE-II-Score > 24 beschränkt ist, verantwortlich gehandelt, als sie eine weitere Studie für Patienten mit geringerem Sterberisiko gefordert haben. Diese so genannte ADDRESS-Studie, die auf 11 000 Patienten angelegt war, musste kürzlich nach einer Interimsanalyse, nachdem über 1000 Patienten eingeschlossen worden waren, abgebrochen werden, weil bei diesen Patienten kein Effekt zu erwarten war und in dieser Indikationsstellung lediglich die Nebenwirkungen der Substanz in Kauf genommen werden würden.
Herr Boldt wirft in seiner Stellungnahme verständlicherweise mehrmals die „exorbitant hohen Substanzkosten” auf und vermutet, dass die weit unter den Erwartungen gebliebenen Umsatzzahlen dazu führen werden, dass „den Gesetzen des Marktes folgen(d)” in Zukunft die Kosten eine „realistischere Größenordnung annehmen” werden. Ob dies der Fall sein wird, ist schwer vorherzusagen. Jedoch bekannt ist die Tatsache, dass sich bereits in der Vergangenheit große und auch kleinere Pharmafirmen aus der Forschung im Sepsis- bzw. Intensivbereich verabschiedet haben, weil nahezu alle Studien negativ waren. Jetzt ist festzustellen, dass sich Firmen, die vergleichbare Produkte wie aktiviertes Protein C in der Pipeline haben, entschieden haben, nicht weitere hunderte Millionen Euro bzw. Dollar in die Weiterentwicklung dieser Substanzen zu investieren, weil die Marketingabteilungen angesichts der derzeitigen Umsatzzahlen für DAA abwinken. Was es bedeutet, wenn die forschende Pharmaindustrie die intensivmedizinisch führenden Krankheitsbilder, zu denen sicherlich Sepsis und Organversagen gehören, aus ihren Forschungsagenden streicht, muss in seinen Auswirkungen für die Patienten, aber auch für diejenigen, die sich wissenschaftlich mit intensivmedizinischen Fragestellungen befassen, nicht breit erläutert werden. Leider besagen die Gesetze des Marktes, die Herr Boldt beschwört, auch, dass die Pharmaindustrie dort nichts investiert, wo sie nichts verdienen kann.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Fortschritte in der Medizin waren und sind in vielen Bereichen nicht nur in der operativen Medizin eng mit der Weiterentwicklung und Fortschritten im Bereich der Intensivmedizin verknüpft. Dies bedeutet, dass der Dialog, wie medizinischer Fortschritt in diesem Bereich auch in Zukunft noch zu finanzieren ist bzw. erzielt werden kann, nach innen und außen interdisziplinär zu führen ist. Ein Abkoppeln der Intensivmedizin vom medizinischen Fortschritt wäre fatal. Wir müssen in der Zukunft noch besser zu differenzieren lernen, welche Innovationen wirklich mit einem objektivierbaren Nutzen für den einzelnen Patienten einhergehen; dabei sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass wir bei der gegebenen Endlichkeit der finanziellen Ressourcen, die eine Gesellschaft willens und in der Lage ist für Medizin insgesamt auszugeben, der Intensivmediziner in Konkurrenz zu anderen medizinischen Disziplinen einschließlich der Ausgaben für Gesundheitsprävention steht. Kosteneffektivitätsberechnungen im Sinne, wie viel eine Therapie für die Verlängerung des Lebens um ein Jahr kostet, werden in diesem Verteilungskampf ebenso eine Rolle spielen wie das Bewusstsein bzw. Interesse, das die Öffentlichkeit und die Politik für eine spezielle Krankheit hat. Was die Effektivität des Lobbyings in dieser Frage betrifft, können die Intensivmediziner von Kardiologen, Onkologen oder AIDS-Spezialisten eine ganze Menge lernen.
Die Gesellschaft und vor allem die für das Gesundheitswesen und für den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland Verantwortlichen sollten besser verstehen lernen, wo medizinischer Fortschritt herkommt, nämlich nicht nur aus neuen teueren Substanzen, sondern auch durch „Investigator initiated trials”, die meist billige, kosteneffektive Maßnahmen betreffen. Deshalb ist der Weg, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung (bmbf) mit der Einrichtung bzw. Förderung von Kompetenznetzwerken für bestimmte wichtige Krankheitsbilder beschritten hat, richtig und sollte weiter ausgebaut werden. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive zahlt sich jeder Euro, der hier investiert wird, vielfach aus. Die eingangs erwähnten Beispiele aus dem Sepsisbereich belegen eindeutig, dass medizinischer Fortschritt nicht in jedem Fall mit höheren Kosten einhergehen muss. Als Sprecher des Kompetenznetzwerkes Sepsis (SepNet) kann ich zusätzlich bestätigen, dass diese Netze auch die Kooperation zwischen der forschenden Pharmaindustrie und der universitären Versorgungsforschung verstärken können. Vielleicht kann diese Kooperation in Zukunft auch dazu dienen, die immensen Kosten, die es für die Pharmaindustrie gilt zu investieren, um ein neues Produkt auf den Markt bzw. zur Zulassung zu bringen, so zu senken, dass dies Einfluss auf die Preisgestaltung hat. Aus meiner Sicht ist jeder Euro, den die forschende Industrie aus dem Budgettopf Marketing in dem oben genannten Sinne umwidmet, ebenfalls gut investiertes Geld. Ich bin fest überzeugt, dass in Zukunft der Erfolg eines Produktes nicht mehr entscheidend durch die Qualität der Marketingstrategie, sondern durch die Qualität und den Gewinn eines Produktes für den Patienten bestimmt werden wird. Mit guten klinischen Daten sind alle Ärzte sehr einfach zu überzeugen, umso mehr wenn das Preis-Leistungsverhältnis stimmt. Herrn Boldt ist für seinen Beitrag zu danken, da er eine wichtige Diskussion fördert, auch wenn ihm nicht in allen Schlussfolgerungen zugestimmt werden kann.
Literatur
- 1 Boldt J. Können wir uns Fortschritte in der Intensivmedizin noch leisten?. Dtsch Med Wochenschr. 2004; 129 (1 - 2) 36-40
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- 11 Schneider H. Gesundheitsökonomie in der Intensivmedizin. Medizin im Dialog. 2002; 4 16-18
Prof. Dr. med. K. Reinhart
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität
Bachstraße 18 · 07743 Jena
Email: Konrad.Reinhart@med.uni-jena.de