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DOI: 10.1055/s-2004-818819
Die Situation im Jahre 1902
The Situation in the Year 1902 Redemanuskript eines Vortrages gehalten anlässlich des Symposiums „Von der Atmosphäre in die Zelle” im September 2002 in Berlin.Publication History
Publication Date:
10 October 2005 (online)
Der Sauerstoff als Therapeutikum
Die Entdeckung des Sauerstoffs im 18. Jahrhundert als der Beginn der chemischen Revolution ist ohne Zweifel eine wissenschaftliche Leistung, welche den Nobelpreis verdient hat.
Es gibt dabei nur zwei kleine Probleme:
Erstens
Der erste Nobelpreis für Chemie wurde - wie die anderen auch - erstmals im 20. Jahrhundert, genauer im Jahr 1901 vergeben.
Und zweitens
Wenn es den Nobelpreis bereits gegeben hätte, wer hätte ihn dann erhalten sollen, d. h. wer hat eigentlich den Sauerstoff entdeckt?
Abb. 1 Carl Wilhelm Scheele (1742 - 1786).
War es Carl Wilhelm Scheele, Apotheker im damals schwedischen Stralsund in Pommern? (Abb. [1])
Er gewann das Gas zum ersten Mal im Jahr 1771 und gab ihm den Namen „Feuerluft”, machte jedoch zunächst der wissenschaftlichen Welt keine schriftliche Mitteilung darüber. Erst am 30. September 1774 schrieb er einen Brief an Antoine Laurent Lavoisier in Paris, den berühmtesten Chemiker jener Zeit, und teilte ihm seine Entdeckung mit.
Der Brief kam nie bei Lavoisier an. Erst mehr als 100 Jahre später, 1890, wurde er gefunden, versteckt in Lavoisiers wissenschaftlichem Nachlass. Eine Intrige? Wurde der Brief vielleicht durch die sechzehn Jahre junge Marie Anne Pierrette Paulze Lavoisier unterschlagen? Das Mädchen war seine Ehefrau, seine Assistentin im Labor und seine Sekretärin.
Scheele wollte sein Leben lang eigentlich nur eine eigene Apotheke besitzen. Dieser Wunsch ging aber erst kurz vor seinem Tod im 45. Lebensjahr in der schwedischen Provinzstadt Köping in Erfüllung.
Abb. 2 Joseph Prietsley (1733 - 1804).
Wurde der Sauerstoff durch Joseph Priestley entdeckt, englischer Geistlicher, politischer Aktivist und begeisterter Chemiker? (Abb. [2])
Er isolierte den Sauerstoff am 1. August 1774 und publizierte seine Erfindung sofort in den „Philosophischen Transaktionen”, dem führenden Wissenschaftsjournal jener Zeit. Auch reiste er noch im Oktober des gleichen Jahres nach Paris und führte Lavoisier seine Entdeckung vor.
Priestley, der übrigens auch das Lachgas und das Kohlenmonoxyd entdeckte, nannte das neue Gas „dephlogistiziertes Gas”; er war sein Leben lang Anhänger der so genannten „Phlogiston”-Theorie” von Georg Ernst Stahl aus Halle, die besagte, dass bei einem Verbrennungsvorgang ein Stoff den brennenden Gegenstand verließe, eben Phlogiston, die Essenz des Feuers.
Joseph Priestley war ein politischer Heißsporn. Er musste England verlassen und siedelte in die USA über, wo er mit der Unterstützung von Benjamin Franklin wieder Fuß fassen konnte. Er starb im Alter von 71 Jahren.
Abb. 3 Antoine Laurent Lavoisier (1743 - 1794).
Oder war es doch Antoine Laurent Lavoisier (Abb. [3]), genialer Chemiker, Steuerbeamter und Wirtschaftsfachmann, der den Sauerstoff entdeckte, weil er erkannte, dass während des Verbrennungsprozesses etwas aus der Luft entnommen und nicht aus dem brennenden Stoff freigesetzt wird?
Dieses Etwas identifizierte er im Jahr 1775 als Scheeles Feuerluft bzw. Priestleys dephlogistiziertes Gas und nannte es „Oxygène”.
Lavoisier fiel dem Mob der französischen Revolution zum Opfer. Im Jahr 1794 beendete die Guillotine sein Leben. Er wurde 51 Jahre alt.
Ein Stoff, geeignet für ein Bühnenstück.
Abb. 4 Carl Djerassi.
Abb. 5 Roald Hoffmann.
Dieser Meinung waren offenbar auch Carl Djerassi (Abb. [4]), Professor für Chemie an der Stanford-Universität, der Vater der Pille, und Roald Hoffmann (Abb. [5]), Professor für Chemie an der Cornell-Universität und Nobelpreisträger für Chemie.
Abb. 6 Titelblatt der englischen (links) und der deutschen Taschenbuchausgabe von „Oxygen”.
Beide zusammen schrieben im Jahr 2001 ein Stück mit dem Titel „Oxygen”, in welchem sich ein Komitee mit der Frage befassen muss, wem von den Dreien denn nun der „posthume”, zum hundertjährigen Jubiläum vergebene Nobelpreis zusteht. Das Stück erschien zunächst als Textband und erlebte am 23. September 2001 im Würzburger Stadttheater seine Uraufführung.
Aber kommen wir wieder zu dem Stoff, welcher dem Stück seinen Namen gab.
Dass die Luft kein homogenes Gas sei und dass sie etwas enthielte, was essentiell ist für das tierische und menschliche Leben, war bereits ziemlich exakt 100 Jahre vor Scheele, Priestley und Lavoisier vermutet worden.
Abb. 7 John Mayow (1641/1645 - 1679).
Im England des 17. Jahrhunderts lebte John Mayow (Abb. [7]). Er wurde wahrscheinlich nur 34 Jahre alt - sein Geburtsdatum wird in der Literatur unterschiedlich mit 1641 oder 1645 angegeben, genügend Zeit jedoch, unsterblichen Ruhm zu erlangen.
John Mayow gilt neben Rene Descartes und Robert Boyle als einer der größten Physiologen des 17. Jahrhunderts. Im Jahr 1674 verfasste er eine Schrift mit dem Titel „De sale nitro et spiritu nitro-aereo”.
Darin spricht er bereits seine Überzeugung aus, dass in der atmosphärischen Luft ein Bestandteil enthalten sei, den sie mit dem Salpeter, HNO3, gemein habe, eben der „spiritus nitro-aereus”. Dieser spiele im Körper die gleiche Rolle wie bei der Verbrennung. Er gelange durch die Atmung in die Lungen und aus diesen in das Blut, welchem er seine hellrote Farbe gebe.
Abb. 8 Titel der deutschen Übersetzung von John Mayows gesammelten chemisch-physiologischen Schriften und Textpassage zur Erklärung der Übersetzung von „Spiritus nitro-aereus”.
Es war nur konsequent, dass der Übersetzer der Mayowschen Schrift am Ende des 18. Jahrhunderts schrieb (s. Abb. [8]):
„So übersetzte ich z. B. „Spiritus nitro-aereus” mit „Sauerstoff”, weil das luftartige Prinzip, welches Mayow durch die Verbrennung erhielt, nichts anderes als der jetzt so benannte Stoff, nach allen seinen ihm eigentümlichen Merkmalen und Gesetzen ist”.
Wann und auf welchem Weg kam denn nun der Sauerstoff als therapeutisches Gas in die Medizin?
Wir bleiben im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Das Zeitalter der Aufklärung neigte sich dem Ende entgegen, jene Ära, in welcher man dem Menschen sowohl als Individuum wie als Teil der Gemeinschaft einen bis dahin nicht gekannten Wert beimaß.
Dies war der Boden, auf dem die Saat der Notfallmedizin aufgehen konnte. Die Erhaltung des in Gefahr geratenen menschlichen Lebens rückte in den Mittelpunkt des medizinischen Interesses.
Nachdem im Jahr 1740 der französische König Ludwig XV. in seinem „Avis, wie man denjenigen, welche man ertrunken zu sein glaubt, zu Hilfe kommen solle” die juristischen Grundlagen zur Erste-Hilfe-Leistung geschaffen hatte und sich mehr oder weniger alle europäischen Regierenden dieser Anordnung anschlossen - vorher war es bei Strafe verboten, einem Verunglückten Hilfe zu leisten, ehe die Obrigkeit zur Stelle war -, erlebte die Notfallmedizin ihren ersten Höhepunkt.
Abb. 9 John Hunter (1728 - 1793).
John Hunter (Abb. [9]) war einer der bedeutendsten englischen Chirurgen. Wie viele seiner Zeitgenossen widmete auch er sich dem Thema der Ersten Hilfe. Im März des Jahres 1776 erschien in den „Philosophischen Transaktionen” ein Artikel von ihm zum Thema: „Vorschläge zur Wiederbelebung scheinbar Ertrunkener”.
Obwohl Priestley erst vor gerade 18 Monaten seine Entdeckung publiziert hatte, empfahl Hunter nun bereits: „Vielleicht könnte sich die von Dr. Priestley beschriebene dephlogistizierte Luft als effizienter erweisen als normale Luft. Sie ist leicht zu beschaffen und kann in Flaschen oder Beuteln aufbewahrt werden.”
Sowohl Scheele wie auch Priestley hatten in ihren Arbeiten darauf hingewiesen, dass Tiere, welche dem neuen Gas ausgesetzt waren, wesentlich länger überlebten als diejenigen, die gewöhnliche Luft atmeten.
Die Empfehlung machte schnell die Runde.
Abb. 10 Titelblatt der Scherffschen Monographie aus dem Jahre 1780.
Johann Christian Friedrich Scherff aus Ilmenau, nach heutiger Nomenklatur Hygieniker und Arzt für das öffentliche Gesundheitswesen, griff in seiner im Jahr 1780 erschienenen „Anzeige der Rettungsmittel bei Leblosen und in plötzliche Lebensgefahr Geratenen” (Abb. [10]) die Huntersche Empfehlung fast wörtlich auf und schrieb:
„Vielleicht würde die Luft, welche von Doktor Priestley mit dem Namen der dephlogistizierten belegt wird, mit mehr Nutzen als die gewöhnliche Luft eingeblasen werden; doch sind mir noch keine Erfahrungen darüber bekannt worden; ohngeachtet der Rath eines Hunter’s immer viel Obacht verdienet, und, nach Priestley’s Erfahrungen, die Thiere in einer solchen Luft nicht nur viel länger leben, sondern sie sich auch bey vielen Prüfungen wohl sechsmal besser, als die gemeine Luft, bewiesen hat.”
Abb. 11 Titelblatt der deutschen Übersetzung von Fothergills Monographie aus dem Jahr 1796 (die englische Ausgabe erschien bereits 1795).
Die erste größere wissenschaftliche Untersuchung zur Anwendung von Sauerstoff bei künstlicher Atmung stammt von Antony Fothergill - er nannte ihn „Lebensluft”. Die englische Originalschrift erschien 1795, die in Abb. [11] abgebildete deutsche Übersetzung im Jahr 1796. Er schreibt darin:
„Man hat nämlich vollen Grund, anzunehmen: Dass man gefunden hat, wie die Lebensluft, welche vom Verfasser bereits seit geraumer Zeit empfohlen wurde, der atmosphärischen oder aus der Lunge eines Dritten ausgehauchten Luft zum Behuf des künstlichen Athemholens vorzuziehen sei.”
Abb. 12 (a) Thomas Beddoes (1760 - 1808)(b) Titelblatt der deutschen Übersetzung von Beddoes' und Watts „Betrachtungen über den medicinischen Gebrauch künstlicher Luftarten” aus dem Jahr 1796.
Im gleichen Jahr erschien die deutsche Übersetzung der „Betrachtungen über den medicinischen Gebrauch künstlicher Luftarten und die Methode, sie in großen Quantitäten zu bereiten” (Abb. [12]) von Thomas Beddoes und James Watt, dem Erfinder der Dampfmaschine.
Thomas Beddoes hatte bereits im Jahr 1793 in Clifton, Bristol, ein so genanntes „Pneumatisches Institut” zur Erforschung von Gasen für medizinische Zwecke gegründet. Sein berühmtester Schüler wurde Humphry Davy, der Entdecker der analgetischen Wirkung des Lachgases.
Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass der Sauerstoff bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts, ein viertel Jahrhundert nach seiner Entdeckung, zur Therapie in der Medizin verwendet wurde, zunächst allerdings ohne gezielte Indikation. Wohl jedoch hatte man sehr bald erkannt, dass es der Sauerstoff als Bestandteil der Luft sei, der zum Überleben notwendig war.
Prof. Dr. med. L. Brandt
HELIOS-Klinikum Wuppertal, Zentrum für Anästhesie
Heusnerstraße 40
42283 Wuppertal