B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2004; 20(2): 68-69
DOI: 10.1055/s-2004-820261
Qualitätsmanagement

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Prävention von Erkrankungen des Bewegungsapparats - Evidenzbasierung

K. Pfeifer1
  • 1Otto-von-Guericke Universität Magdeburg·Institut für Sportwissenschaft
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Publication Date:
22 July 2004 (online)

Die veränderten Lebensbedingungen in unserer modernen technisierten Gesellschaft haben zu einem drastischen Abfall von Umfang, Häufigkeit und Intensität körperlicher Aktivität geführt. Die möglichen Zusammenhänge zwischen dem Bewegungsmangel und dem Auftreten der weit verbreiteten chronischen Erkrankungen sind in den letzten Jahrzehnten Motivation für umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen gewesen. Eine Vielzahl epidemiologischer Untersuchungen und Interventionsstudien hat den hohen präventiven Wert von regelmäßiger körperlicher Aktivität für die Entstehung und Progredienz chronischer Erkrankungen deutlich gemacht. Dies gilt insbesondere für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus, Stoffwechselerkrankungen und maligne Tumorerkrankungen sowie für psychische Erkrankungen (Depression, Angst) und die Aufrechterhaltung der Lebensqualität im Alter (vgl. Pandolf 2001, Samitz & Baron 2002). Im Vergleich zu den genannten Erkrankungen war die Stärke der wissenschaftlichen Evidenz für den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Erkrankungen des Bewegungsapparates weniger offensichtlich. Die Gründe dafür liegen einerseits in der weniger günstigen Messbarkeit gesundheitsförderlicher Effekte von bewegungsbezogenen Interventionen am Bewegungsapparat und weiterhin in einer im Vergleich zu den anderen Erkrankungen geringeren Anzahl qualitativ hochwertiger Studien. Die fehlenden Wirksamkeitsnachweise für die im Rahmen von präventiven Bewegungsangeboten meist fokussierten klassischen Rückenschulkonzepte (Lühmann ethairspal. 1997, Nentwig 1999 u. a.), die inkonsistenten Befunde hinsichtlich der Wirksamkeit von weiteren nationalen Bewegungsprogrammen (z. B. Miltner 2001) sowie die insgesamt geringe Zahl nationaler Evaluationen hat insgesamt zu einer berechtigten Kritik an der Förderung von Bewegungsangeboten beigetragen. Betrachtet man jedoch die internationalen Untersuchungen zu dem Themenbereich und insbesondere die in jüngerer Zeit erschienen Übersichtsarbeiten (Vuori 2001, Linton & van Tulder 2001), ergibt sich ein völlig anderes Bild.

Vuori (2001) bewertet in seinem Review eine Vielzahl von Studien im Hinblick auf ihre methodische Qualität (randomisierte kontrollierte Studien, nicht randomisierte kontrollierte Studien und die aus ihren Ergebnissen ableitbare Aussagekraft. Beispielhaft genannt seien hier einzelne Studien zum Zusammenhang des körperlichen Aktivitätsniveaus und dem Auftreten von Rückenschmerzen (z. B. Leino 1993, Croft et al. 1999) sowie hoher körperlicher Belastungen und dem Rückenschmerzrisiko (Mundt et al. 1993, Riihimäki et al. 1994, Picavet et al. 1996). Bezüglich der Inzidenz von Rückenerkrankungen ergibt sich daraus eine starke Evidenz für einen präventiven Effekt körperlicher Aktivität sowie keine Nachweise für eine Erhöhung des Risikos durch die meisten Formen körperlicher Aktivität. Lediglich über lange Zeiträume ausgeübte schwere körperliche Beanspruchungen durch Arbeit oder Sport scheinen das Risiko zu erhöhen (unklare Rolle von Verletzungen).

Beim Blick auf die Erkenntnisse zur Wirksamkeit körperlicher Aktivität zur sekundären Prävention von chronischen oder rezidivierenden Rückenschmerzen ergibt sich ein ebenso deutliches Bild. Die Ergebnisse der verschiedenen vorliegenden Untersuchungen (z. B. Kankaanpää et al. 1999, Mannion et al. 1999, Chok et al. 1999 u. a.) zeigen insgesamt eine starke Evidenz für sekundärpräventive Effekte körperlicher Aktivität, die zur Linderung der Symptomatik und zur Verbesserung von Funktionseinschränkungen beiträgt. Linton & van Tulder (2001) konstatieren in ihrem Review ebenfalls eine starke Evidenz für die präventive Wirksamkeit von körperlichem Training.

Für einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit und Intensität körperlicher Aktivität und einem häufig vermuteten erhöhten Risiko für die Entwicklung chronisch degenerativer Gelenkerkrankungen (Arthrose) an den Extremitätengelenken ergeben sich keine Anhaltspunkte. Vuori (2001) schlussfolgert, dass moderate körperliche Aktivität auch in großem Umfang nicht zu einem erhöhten Arthroserisiko führt. Lediglich bei schweren körperlichen Belastungen über längere Zeiträume (3 - 4Stunden/Tag) ergab sich ein erhöhtes Risiko. Für die Wirksamkeit sekundärpräventiver bewegungsbezogener Interventionen bei Gonarthrose existiert gute Evidenz, für Coxarthrosen ist die Evidenzbasierung bislang schwächer.

Vuori (2001) beschreibt weiterhin eine starke Evidenz für eine Erhöhung der Knochenmasse durch körperliche Aktivität in der Jugend sowie eine starke Evidenz für positive Wirkungen körperlicher Aktivität auf den Verlust der Knochenmasse vor und nach der Menopause, so dass insgesamt von einem positiven Einfluss auf die Entstehung und Progredienz der Osteoporose ausgegangen werden kann.

Zusammenfassend betrachtet ergibt der Blick in die internationale Literatur ein sehr positives Bild für die Wirksamkeit regelmäßiger körperlicher Aktivität, so dass eine gute Evidenzbasierung für Angebot und Förderung von Bewegungsprogrammen i. S. des § 20, SGB V gegeben ist. Bewegungsangebote bieten also vielfältige Möglichkeiten zur Verbesserung der gesundheitsbezogenen Fitness. Die Wirkungen bleiben dabei nicht auf einzelne Körperbereiche beschränkt, sondern es kann insgesamt von einer positiven Breitbandwirkung auf Inzidenz, Prävalenz und Progredienz weiterer chronischer Erkrankungen ausgegangen werden. Über die Beeinflussung physischer Komponenten hinaus bieten gerade Bewegungsaktivitäten ein Potenzial für die Förderung psychosozialer Gesundheitsressourcen. Die Entwicklung und Evaluation von entsprechenden zielorientierten und zielgruppenbezogenen Programmen sollte zukünftig eine wesentliche Aufgabe für Leistungserbringer, Kostenträger und Wissenschaft sein, um die vorhandenen Lücken im nationalen Raum zu schließen und weiterhin Antworten auf noch offene Fragen nach den Dosis-Wirkungs-Beziehungen gesundheitsbezogener körperlicher Aktivität zu geben.

Literatur

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  • 8 Miltner O, Wirtz D C, Siebert C H. Die Kräftigung der Lumbalextensoren (MedX) - die Therapie bei chronischen Rückenschmerzen - eine Übersicht und Metaanalyse.  Z Orthop.. 2001;  139 287-293
  • 9 Mundt D J, Kelsey J L, Golden A L. An epidemiologoc study of sports and weight lifting as possible risk factors for herniated lumbarand cervical discs.  Am J Sports Med.. 1993;  21 854-860
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  • 13 Riihimäki H E, Viikari-Juntura G, Moneta G, Kuha J, Videman T, Tola S. Incidence of sciatic pain among men in machine operating, dynamic physical work, and sedentary work. A three year follow-up.  Spine.. 1994;  19 138-142
  • 14 Samitz G, Baron R. Epidemiologie der körperlichen Aktivität. In: Samitz G, Mensink G (Hrsg.): Körperliche Aktivität in Prävention und Therapie. München; 2002
  • 15 Vuori I. Dose-response of physical activity and low back pain, osteoarthritis, and osteoporosis.  Med Sci Sports Exerc.. 2001;  33 551-586

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Prof. Dr. K Pfeifer

Otto-von-Guericke Universität Magdeburg

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