Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73(4): 185-186
DOI: 10.1055/s-2004-830237
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kosten chronischer Krankheit aus gesellschaftlicher Perspektive

Costs of Chronic Illness - A Socioeconomic PerspectiveC.-W.  Wallesch
Further Information

Publication History

Publication Date:
04 April 2005 (online)

Ärztliches Handeln dient dem Individuum und der Gesellschaft. Hier kann sich ein Spannungsfeld auftun, z. B. in der Richtung, dass bestimmte als wirksam nachgewiesene Behandlungsformen wegen ungünstiger Kosten-Nutzen-Relationen hinterfragt werden, so geschehen bei der Bewertung von Donepezil bei M. Alzheimer [1] [2] oder bei der Interferonbehandlung der sekundär-progressiven Multiplen Sklerose [3]. Es erscheint legitim, dass angesichts der Explosion medizinischer Technologie und pharmakotherapeutischer Innovationen zu klären versucht wird, wie sich Kosten und Nutzen zueinander verhalten, wenn akzeptiert wird, dass nicht unbegrenzte finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Angesichts der Globalisierung der Wirtschaft und der Diskussion um „Lohnnebenkosten” wird sich die Debatte verschärfen. Eine zunehmend wichtige Frage ist, ob die Lebensqualität chronisch Kranker ein Element von „Lohnnebenkosten” oder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Die Gesellschaft kann dabei die Lebensqualität über ein umfassendes Solidarsystem absichern, wie in der deutschen Sozialgesetzgebung über „Lohnnebenkosten” bisher realisiert und im Projekt einer „Bürgerversicherung” weiterentwickelt, oder es kann der Versuch unternommen werden, die Solidarität für chronisch Kranke zu dezentralisieren [4].

Prof. Dr. med. C.-W. Wallesch

In jedem Fall muss für die gesundheitspolitische Diskussion geklärt werden, welche Kosten aus gesellschaftlicher Perspektive durch chronische Krankheiten entstehen. Dabei ist die gesamtgesellschaftliche Perspektive nicht die einzig denkbare, alternativ können Kosten-Nutzenbewertungen aus Sicht des Individuums, der Familie, der Kranken- oder Rentenversicherung, des medizinisch-industriellen Komplexes oder der Arbeitgeberverbände vorgenommen werden. Die aktuelle Debatte über die Zukunft der Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens verdeutlicht unterschiedliche Perspektiven mit daraus folgend unterschiedlichen Schlussfolgerungen.

Barth u. Mitarb. [5] haben einen ersten Versuch unternommen, die indirekten Kosten des idiopathischen Parkinson-Syndroms zu schätzen. Indirekte Kosten sind alle Ressourcenverbräuche, die zusätzlich zu Behandlungskosten (direkte medizinische Kosten) und Behandlungsnebenkosten (z. B. Vorhaltekosten, Verwaltungsaufwand) mittelbar durch eine Erkrankung verursacht werden (zu Details siehe [5]), also die der Volkswirtschaft über die medizinische Versorgung hinaus entstehenden Kosten. Bei anderen chronischen mit deutlicher Behinderung einhergehenden neurologischen Erkrankungen übersteigen die indirekten Kosten die direkten Kosten erheblich (M. Alzheimer [6], Multiple Sklerose [7]). Bei geringerem Ausmaß der Alltagsbehinderung dominieren hingegen die direkten Kosten [8].

Barth u. Mitarb. [5] schätzen für den idiopathischen M. Parkinson auch bei höheren Hoehn&Yahr-Graden (24 Patienten in H&Y III, 10 in IV) überraschend niedrige indirekte Kosten. Methodik und Diskussion verdeutlichen die Schwierigkeit der Kostenerhebung aus gesellschaftlicher Perspektive. Zentrales Problem ist die Bewertung von Pflege und Unterstützung, die entsprechend den finanziellen Leistungen der Pflegeversicherung kalkuliert wurden. Der Aufwand unterstützender Angehöriger dominiert z. B. bei M. Alzheimer die Kosten der Versorgung, wenn „replacement costs” kalkuliert werden [8], und dürfte zumindest bei fortgeschrittenem M. Parkinson eine erhebliche Rolle spielen. Immerhin war 4 von 24 Patienten H&Y III und 5 von 10 H&Y IV eine Pflegestufe nach SGB XI zuerkannt worden.

Es kann den Autoren, die einen ersten Schritt in eine wichtige Richtung wagen, nicht vorgehalten werden, dass sie zu konservativ schätzen. Die Arbeit stellt einen ersten Bericht aus einer vielversprechenden prospektiven Studie dar. Bereits die erste, vorsichtige Schätzung ergibt ein Kostenvolumen von minimal 1,5 Mrd. € jährlich für indirekte Kosten des idiopathischen M. Parkinson in Deutschland. Ich bin mir sicher, dass die von der Studie zukünftig zu erwartende differenziertere Betrachtung ein weit höheres Volumen identifizieren wird. Die jetzt publizierte Arbeit [5] stellt einen „Werkstattbericht”, „work in progress”, dar, dessen kritische Lektüre und Nachdenken über den Blickwinkel der Autoren jedem Leser empfohlen werden muss, auch für die Reflektion und Außendarstellung eigenen nervenärztlichen Handelns.

Literatur

  • 1 Kaduszkiewicz H, Beck-Bornholdt H-P, van den Bussche H, Zimmermann T. Fragliche Evidenz für den Einsatz des Cholinesterasehemmers Donepezil bei demenziellen Erkrankungen - eine systematische Übersichtsarbeit.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 557-563
  • 2 Wallesch C W, Ebert A D. Effektivität, Effizienz und Evidenz - Studien zu Donepezil.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 553-554
  • 3 National Institute for Clinical Excellence .Beta interferon and glatiramer actetate for the treatment of multiple sclerosis. Technology appraisal guidance. www.nice.org.uk. 2002
  • 4 Dörner K. Die Gesundheitsfalle. Berlin: Econ 2003
  • 5 Barth F, Baum B, Bremen D, Meuser T, Jost W H. Die indirekten Kosten des idiopathischen Parkinson-Syndroms.  Fortschr Neurol Psychiat. 2005;  4 187-191
  • 6 Hallauer J F, Schons M, Smala A, Berger K. Untersuchung von Krankheitskosten bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung in Deutschland.  Gesundh ökon Qual managm. 2000;  5 73-79
  • 7 Amato M P, Battaglia M A, Caputo D, Fattore G, Gerzeli S, Pitaro M, Reggio A, Trojano M. The costs of multiple sclerosis: a cross-sectional, multicenter cost-of-illness study in Italy.  J Neurol. 2002;  249 152-163
  • 8 Henriksson F, Fredrikson S, Masterman T, Jonsson B. Costs, quality of life and disease severity in multiple sclerosis: a cross-sectional study in Sweden.  Eur J Neurol. 2001;  8 27-35
  • 9 Cavallo M C, Fattore G. The economic and social burden of Alzheimer disease on families in the Lombardy region of Italy.  Alzheimer Dis Assoc Disord. 1997;  11 184-190

Prof. Dr. med. C.-W. Wallesch

Klinik und Poliklinik für Neurologie · Otto-von-Guericke-Universität

Leipziger Str. 44

39120 Magdeburg

Email: wallesch@medizin.uni-magdeburg.de