DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2003; 1(03): 4-5
DOI: 10.1055/s-2004-831053
Life
Life
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co.KG Stuttgart

Viola Frymann

Verbunden mit der Quelle ewiger Kraft
Roger Seider
Further Information

Publication History

Publication Date:
29 July 2004 (online)

Wie stellt man Viola M. Frymann vor, die kleine, “große” alte Dame der Osteopathie? Das Kapitel “Palpation and beyond” aus ihren “Collected Papers” enthält zahlreiche Anekdoten aus ihrem Leben, ihrem beruflichen Werdegang und ihrer Lebensphilosophie: Der Haus-Osteopath ihrer Kindheit in Nottingham, England, ihre Ausbildung zur Balletttänzerin, die Sprunggelenksdistorsion am Tag vor der Abschlussprüfung, deren osteopathische Behandlung, ihr Medizinstudium, das Auswandern nach Kalifornien, um richtige Osteopathie zu erlernen, die Enttäuschung über den Zustand der Osteopathie dort, und vieles mehr.

Das alles ist entweder bekannt oder nachzulesen. Deshalb sollte es diesmal ein Interview werden, das uns am großen Erfahrungsschatz der alten Dame teilnehmen lässt und vielleicht in unserem diagnostischen und therapeutischen Streben voranbringt.

Das (hier gekürzte) Gespräch fand am 22. März 2003 statt, während der Convocation der AAO in Ottawa.

Zoom Image

Die Bedeutung der Symmetrie

DO: Häufig wird gelehrt und diskutiert, wo und wie man eine osteopathische Behandlung beginnt. Eher unklar ist aber, wann man eine Behandlung beendet.

VF: Hier denke ich, muss man einen Plan aufstellen. Ein großes Problem bei Studenten besteht darin, dass sie so voller Enthusiasmus für die Osteopathie sind und glauben, einen Patienten mit einem Jahre alten Problem heute behandeln zu können und dass damit alles erledigt ist. Leider ist das nicht die Realität! Es ist wichtig, einen Patienten nicht über zu behandeln. Die Menge an Behandlung in jeder einzelnen Sitzung hängt z.B. von der Schwere des Problems ab. Liegt eine akut entzündliche Reaktion vor, wird man wahrscheinlich sehr wenig tun, gerade so viel, um die akute Situation zu entschärfen. Haben wir es mit einem lang bestehenden Problem ohne akute Komponente zu tun, dann ist es aus meiner Erfahrung das Beste, es wie die Schalen einer Zwiebel von außen nach innen anzugehen. So gehen wir zunächst vom Gesamtkonzept, der globalen Gesundheit, der allgemeinen Vitalität aus. Dann gehen wir hinunter auf die Ebene der spezifischen Probleme wie z.B. das Os temporale im Bezug zum Ohr oder die Orbita bei Augenproblemen und schließlich den Gesichtsmechanismus im Bezug zum kieferorthopädischen Problem. Aber dort soll man nicht anfangen! Selbst wenn sich hier ein altes Problem manifestiert. Heute behandeln wir beispielsweise das Temporale - aber nicht nur eines! Weil, wenn wir das tun, wird der Patient mit Schwindel oder Hörproblemen wieder kommen. Man muss sicher sein, dass man den Körper in einem Zustand freier, symmetrischer Bewegung verlässt. Wenn wir ihn nämlich nicht symmetrisch verlassen, werden wir Probleme bekommen.

Zoom Image
Ein Leben für die Osteopathie: Viola Frymann unterrichtet rund um die Welt, widmet sich vor allem den Kindern und gründete 1982 das Osteopathic Center for Children in San Diego, Californien, dass sie seitdem leitet.

#

Spirituelle Nahrung

DO: Allgemein scheint man das spirituelle Konzept wieder zu entdecken, das A.T. Still in all seinen Werken betont hat. Was bedeutet dieses Konzept für Sie?

VF: In den meisten Kursen haben wir einen Abend, den wir anderen Heilungskonzepten widmen. Das ist absichtlich unpräzise formuliert - eigentlich nur um die Leute anzulocken. Denn wir wollen an diesem Abend ganz offen sein für all die Dinge, die die Leute erfahren haben oder mit denen sie konfrontiert wurden und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. So mag dann auch die Erschöpfung von Therapeuten zur Sprache kommen. Das ist ein großes Problem - besonders bei denen, die manuell arbeiten. Fragt man: “Wer ist am Ende eines Behandlungstages müde und ausgebrannt?”, heben sicher 95% der Anwesenden die Hand. So stark liefern sich Therapeuten der osteopathischen Arbeit aus. Um mit ihrer Erschöpfung zurecht zu kommen, neigen sie dazu, Alkohol oder Drogen zu nehmen. Deshalb ist die Frage des Ausgebrannt Seins von höchster Bedeutung.

Warum sind wir erschöpft? Oberflächlich gesehen, wollen wir unseren Patienten so sehr helfen, dass wir uns dabei verausgaben. Deshalb erzähle ich ihnen Folgendes: “Angenommen Sie hätten einen Kassettenrecorder, der mit Batterien läuft - selbst wenn Sie die besten Batterien benutzen - irgendwann sind sie leer. Wenn man den Kassettenrecorder aber über die Steckdose betreibt, wird er ewig weiter laufen. Wie steht es mit Ihnen, laufen Sie mit Batterien oder sind Sie an der Quelle der ewigen Kraft angeschlossen?” Denn das ist der Unterschied zwischen Erschöpfung und Nicht-Erschöpfung. Wenn ich einmal, etwa bei einer Erkältung, nicht so leistungsfähig bin, so fühle ich mich am Abend besser als noch morgens. Und das, weil ich von dem Überfluss profitiere, den der Patient bekommt. Wenn man also direkt an der Quelle der Energie angeschlossen ist, profitiert auch der Behandler davon. Das ist der eine Gesichtspunkt.

Der andere ist: kann ein Patient uns aufregen? Gelegentlich erscheinen Patienten, die aus irgendeinem Grund verärgert sind. Wenn wir noch neu in der Praxis sind, neigen wir dazu, die Verärgerung der Patienten anzunehmen: Die Behandlung sei zu teuer, sie dauerte zu lange usw. Man steht nur da, während sie all ihren emotionalen Müll abwerfen. Doch diese Vorwürfe gelten nicht wirklich uns. Wir sind in dem Augenblick nur die passende Gelegenheit für den Patienten, all diese Dinge loszuwerden. Seien wir uns dessen bewusst. Denn erst dann können wir zu den wirklich tiefliegenden Dingen gelangen. Etwa die Frage nach dem Glauben. Diese Frage stelle ich regelmäßig meinen Patienten. Nicht sofort, aber im Laufe der Zeit. Wurde dieses Thema angegangen, eröffnen sich ganz neue Dimensionen im Leben der Patienten.

Es gibt ja Patienten, die glauben an gar nichts. Dann benutze ich häufig einen Vergleich aus der Ernährung. Heutzutage versteht jeder, dass eine völlig proteinfreie Diät ungesund ist, weil Proteine für unseren Körper unerlässlich sind. Übertragen wir dies auf uns: Wir sind physische, emotionale, mentale und spirituelle Geschöpfe. Wenn eine dieser Ebenen keine Nahrung erhält, entsteht ein Defizit im Leben. Wird ihnen dieses bewusst, kann man ihnen Seiten ihres Lebens aufzeigen, an denen sie anfangen können, die spirituelle Leere zu füllen. Ärzte, die die gleichen Defizite haben wie ihre Patienten, können hier nicht helfen.

DO: Sie konfrontieren jeden Patienten mit seinem Glauben?

VF: Früher oder später - wenn hier ein offensichtlicher Mangel besteht. Falls nicht - gut, dann geht das Gespräch weiter.


#

Politik wider Willen

DO: Sie haben sich für die Osteopathie immer politisch engagiert. Wie würden Sie die internationale Lage kommentieren?

VF: Zunächst - ich war nicht immer politisch interessiert. Ich habe mich dagegen gewehrt. Anfangs dachte ich, es sei meine Aufgabe, Patienten zu behandeln. Um den Berufsstand sollten sich andere kümmern. Dann hatten wir diese Krise in Kalifornien. Damals riefen sie mich und sagten: “Wenn du nicht kommst und mitmachst, gibt es bald keinen Berufsstand mehr.” Sehr widerwillig habe ich damals angefangen.

Nun, 1964 fing ich an, in Frankreich zu lehren. Einen Kurs - das war ein Ereignis! Mein Ziel dabei war nicht, selbst zu lehren, sondern Dozenten auszubilden, die dann die Arbeit weiter tragen können. So unterrichtete ich in Frankreich etliche Jahre, bis ich feststellte, dass es hier ca. 23 Gruppen gab, von denen jede für sich in Anspruch nahm, die wahre Osteopathie zu lehren. Das konnte nicht gut gehen, weil sie so keine Anerkennung finden konnten. Deshalb lautete die Botschaft “Vereinigt euch, dann reden wir wieder.”

Im Jahr 1981, nach zweijähriger Vorbereitung, kam es zu einem Treffen der Vertreter dieser einzelnen Gruppen. Jeder kam herein und schaute erst einmal kritisch, wer sonst da war, aber immerhin, sie blieben. Zwei Jahre später gab es ein erneutes Treffen. Jetzt gab es nur noch 7 wichtige Gruppen, die zusammenkamen, denn nun hatte man erkannt, dass die Osteopathie nur in einer gemeinsamen Front Erfolg haben kann.

Betrachtet man die internationale Geschichte der Osteopathie, so sieht man: Ist der Samen in ein Land gebracht, sind - bevor man sich nur umdreht - sofort drei Gruppen da, die nicht miteinander reden.

Ich denke, dass die Vereinigung von höchster Wichtigkeit ist. Denn die restliche Welt da draußen kann nicht wissen, wer ihr seid, wenn ihr euch selbst nicht darauf verständigen könnt.

Zoom Image

#