Psychiatr Prax 2004; 31(8): 429-430
DOI: 10.1055/s-2004-836956
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Zur Frühentlassung schizophren Kranker

On the Early Discharve of Schizophrenic Patients
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Publication Date:
23 November 2004 (online)

 

Eine Arbeit von Eugen Bleuler "Frühe Entlassungen" (1904/1905), die psychiatriehistorisch wenig beachtet wurde, liest man heute, nach 100 Jahren, mit Erstaunen; denn dieses Thema ist aktuell geblieben. Bleuler meinte hauptsächlich die schizophren Kranken, ohne dass er aber schon dieses Wort benutzt hätte (das taucht erst in einer Publikation von 1908 auf und dann wieder in Bleulers epochemachendem Schizophrenie-Buch von 1911). Hier benutzt Bleuler noch die Kraepelinsche Formulierung "Dementia praecox", nicht ohne deren sprachliche Umständlichkeit anzumerken.

Diese Veröffentlichung hat eine persönliche Vorgeschichte, die in Bleulers Arbeitszeit in der Pflegeanstalt Rheinau (1886-1898) beginnt. Er hatte dort bald die nur scheinbar paradox klingende Feststellung gemacht: "je mehr und je besser man für die Irren sorgt, um so mehr Versorgungsbedürftige giebt es". Längst war die Erfahrung bekannt, dass da, wo man eine Heilanstalt baue, bald auch eine Pflegeanstalt notwendig werde. In Rheinau versuchte Bleuler der Überfüllung Herr zu werden, indem er Entlassungen forcierte, aber man nahm ihm die Kranken nicht ab (S. 441). Um sich Nachdruck zu verschaffen, wollte er sich von der Aufsichtskommission die Zustimmung zur Entlassung von 20 Kranken einholen, was ihm jedoch verweigert wurde. Da er keine Entlassungen erreichte, sah er sich gezwungen, die Anstalt durch einen Neubau zu erweitern, er resignierte also.

Aber nicht auf lange Zeit. Als er 1898 in die kantonale Heilanstalt Burghölzli in Zürich (zugleich Universitätsklinik) kam, fand er sie "mit Unheilbaren vollgepfropft" (441). Wie ungünstig sich die Überfüllung auswirkte, merkte er, als es ihm gelang, 60 Kranke in den Neubau der Rheinau zu verlegen. Die verbliebenen Kranken wurden ruhiger und "spürten die Repression nicht mehr so stark " (442). Von da an nahm er sich vor, jeden schizophrenen Kranken "so früh zu entlassen, als man ihn uns abnimmt" (442). Die Folge war, dass es nun freie Plätze (für neue Aufgaben) gab, erstmals in der 34-jährigen Geschichte des Burghölzli. Das gelang übrigens bei den Männern besser als bei den Frauen, wohl aus sozialen Gründen.

Dabei handelte Bleuler nicht allein aus organisatorischen Gründen (Überfüllung), sondern gemäß einem therapeutischen Konzept: Für die Schizophrenen sei "die Anstaltsbehandlung ein Übel" (442). Hierfür bringt er ein eindrucksvolles Beispiel: "Eine Kranke z.B. war seit langem in der Zelle gehalten, die wegen Lebensgefährlichkeit nie von einer Wärterin allein betreten werden durfte; wir nahmen sie einmal aus der Zellenabteilung direkt in eine Anstaltsfeier. Ein paar Tage später sang sie bei ähnlichem Anlass Lieder zur Unterhaltung der Kranken; nach kurzem erhielt sie freien Ausgang" (442). Seit der bald darauf erfolgenden Entlassung sei sie sechs Jahre lang arbeitsfähig geblieben. Bleuler resümiert: "Aus all diesen Gründen fort mit den Katatonikern aus den Anstalten, sobald jemand die Mühe der Besorgung und eventuell die Verantwortlichkeit übernehmen will " (443).

Der Autor versäumt nicht, auf die zu frühen Entlassungen einzugehen, also auf baldige Rückfälle und Wiederaufnahmen. Diese seien ausgesprochen selten, zumindest seien Unglücksfälle unter diesen Umständen nicht häufiger als bei der größten Vorsicht und Zurückhaltung.

Wiederholt versah Bleuler seine Forderung nach früher Entlassung mit dem Hinweis: "Wenn man die Kranken abnimmt, wenn jemand die Versorgung übernimmt" (siehe oben). Dabei dachte er nicht nur an die Angehörigen, sondern auch an die Familienpflege (in "fremden" Familien), die in anderen Ländern seit langem üblich und bewährt war, sich aber in der Schweiz auch noch zu Bleulers Zeit kaum durchsetzte. Es gab zwar einen Beschluss der schweizerischen Irrenärzte von 1868, die Familiempflege zu fördern, und es gab eine entsprechende gesetzliche Regelung, diese erwies sich aber eher als hinderlich, denn sie forderte eine "geordnete Aufsicht über die privat Verpflegten", ohne dass hierfür Geld zur Verfügung gestellt wurde (443).

Heute sind die Versorgungsverhältnisse anders als zu Bleulers Zeit, unvergleichbar großzügiger und differenzierter. Aber Bleulers Grundfrage ist bisher nicht beantwortet. Wir verfügen zwar baulich und personell, in der Milieutherapie und in flankierenden Maßnahmen, pharmakotherapeutisch und psychotherapeutisch über sehr weit reichende Möglichkeiten der Schizophreniebehandlung. Was aber ist aus der Frage geworden: Wann ist ein schizophren Kranker zu entlassen? Von welchen Faktoren ist die Entlassungsfähigkeit abhängig, welche Pa rameter sind anzulegen? Hierzu gibt es bis heute keine empirischen Untersuchungen. Einige wenige Arbeiten, die zur "Entlassungsplanung" veröffentlicht wurden, handeln mehr von den äußeren, also institutionellen Voraussetzungen als von den Voraussetzungen auf Seiten des Patienten selbst.

Immer noch geht die Psychiatrie wie selbstverständlich von der stationären Behandlung Schizophrener aus. Bleuler hingegen nannte sie schon vor 100 Jahren ein "notwendiges Übel" (443). In letzter Konsequenz sagt Bleuler, "für viele Kranke sei die Anstalt der empfindlichste Restraint, ich verlange nichts als Ausdehnung des Norestraint auch auf dieses Zwangsmittel" (442). Auch heute bedeutet jede stationäre Behandlung einen empfindlichen Verlust der persönlichen Freiheit, jede Hospitalisierung geht mit Einschränkungen und Zwängen einher. Ist die Gegenwartspsychiatrie dem Ziel, das Bleuler abgesteckt hat, so weit gehend näher gekommen, wie es die genannten therapeutischen Fortschritte ermöglicht hätten? Oder sehen wir immer noch die stationäre Behandlung als die Normalbehandlung des Schizophrenen an, sind die "Betten" weiterhin bevorzugtes Maß der Versorgung? Diese Frage stellt sich bei der Lektüre der Bleulerschen Arbeit.

Abschließend zu einer Randbemerkung Bleulers: es sei üblich, die Qualität einer Anstalt anhand der Zahlen geheilt Entlassener zu beurteilen. Demgegenüber sei einzuwenden, dass die "akuten Fälle" (nämlich manisch-depressive und auch manche katatone Psychosen) in guten wie in schlechten Anstalten ungefähr gleicher Weise heilen würden. Vielmehr komme es auf die so genannten "Unheilbaren" an, also auf die Frage, wie weit sie gebessert werden können. "Vielleicht wird einmal die Zahl der Besserungen ein brauchbares Mass für die Leistungsfähigkeit der Anstalt" (443). Soweit Bleuler zu den chronisch psychisch Kranken.

Literatur

  • 6 Bleuler Eugen  . Mack JE . Frühe Entlassungen.  Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. 1904/1905;  6 441-444

Prof. Dr. Rainer Tölle 

Ärztin für Neurologie und Psychiatrie

Albert-Schweitzer-Straße 11

48149 Münster

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