Suchttherapie 2005; 6(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2005-858060
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Themenheft „Jugend”

Special Issue „Adolescence”M. Klein1
  • 1Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Forschungsschwerpunkt Sucht, Köln
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Publication Date:
18 March 2005 (online)

Das vorliegende Heft der Suchttherapie beschäftigt sich mit dem Schwerpunkt Jugend. Die Lebensphase Jugend, im 19. Jahrhundert noch kaum bekannt, hat sich im Leben der Menschen inflationär breit gemacht. Die menschlichen Lebensphasen strukturieren und differenzieren sich seit Beginn der industriellen Revolution immer mehr. Manche Autoren sprechen von der Ausdehnung der Jugendphase vom zwölften bis zum 27. Lebensjahr. Die Jugend hat sich erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als die Phase der Vorbereitung auf das Erwachsenenalter (Bildung, Probehandeln) etabliert.

Heute ist von einer deutlich verlängerten Jugendphase auszugehen. Die Varianz der möglichen Lebens- und Verhaltensformen hat deutlich zugenommen. Damit einher geht eine wesentlich größere Heterogenität der jugendlichen Lebensstile.

Der Anteil der unter 20-Jährigen an der Gesamtbevölkerung sinkt von 30 % im Jahr 1980 auf 17 % im Jahr 2020 und halbiert sich damit fast. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass der Gesellschaft - fern ab des merkantil genutzten Jugendkults - das Schicksal der Jugend immer weniger wichtig ist und damit ein großes Stück Zukunft verspielt wird.

Als eines der wichtigsten Themen der Jugendgesundheit und der Entwicklungspsychologie im Jugendalter ist der Umgang mit psychotropen Substanzen anzusehen. Gelingt es in dieser Phase nicht, einen sozial integrierten und gesundheitlich unbedenklichen Umgang mit Substanzen zu entwickeln, drohen kurzfristig psychosoziale, langfristig medizinische Probleme. Besonders wichtig ist es, in dieser Phase das Experimentier- und Neugierverhalten vieler, insbesondere männlicher, Jugendlicher, zu integrieren und nicht ausschließlich mit Sanktionen und Ausgrenzung zu beantworten. Die positive Modellwirkung von Peers mit gelingendem Umgang mit Substanzen, aber auch eine positive Modellwirkung von Erwachsenen (Eltern, Lehrern) kann für Heranwachsende durchaus wichtig und hilfreich sein. Dass Jugendliche Grenzen austesten und erfahren müssen, für Erwachsene oft unangenehme Fragen stellen und ungewohnte Verhaltensweisen zeigen, kann auch als eine Bereicherung einer ansonsten an Authentizität armen Gesellschaft angesehen werden. Viele Jugendliche brauchen aber auch Hilfe- und Weichenstellungen. Dies mag zum einen im Zurückdämmen der rein kommerziellen Interessen der entsprechenden Industrie liegen. Wo ist die Notwendigkeit begründet, dass es in Deutschland mehr als 700 000 Zigarettenautomaten geben muss? Oder wieso kann die Schnaps- und Alkoholindustrie mit fadenscheiniger Naivität immer neue alkoholhaltige Mixgetränke auf den Markt werfen, die angeblich nur für Erwachsene gedacht sind? Zum anderen müssen aber auch verstärkt Angebote der Risikoreduktion für bereits konsumierende Jugendliche entwickelt werden. Ein mit 14 Jahren bereits tabakabhängiger Jugendlicher ist noch lange nicht für Interventionen und Prävention verloren. Die Konzepte der selektiven und indikativen Prävention müssen sich in Deutschland endlich auf breiter Front in der Praxis durchsetzen und vor allem müssen entsprechende Angebote auch gesichert finanziert werden. Wenn dies nicht umfassend geschieht, wird bei dem hohen derzeitigen Tabak- und Alkoholkonsum der immer weniger werdenden Jugendlichen bald von einer „lost generation” die Rede sein können. Und wer soll dann noch die Renten- und Sozialkassen füllen? Jugendliche brauchen also stärker als in der Vergangenheit gesellschaftliche Unterstützung für ein gelingendes Leben, z. B. in der Schule und in den vielen nicht mehr funktionierenden Familien. Die Jugendhilfe arbeitet noch immer weitgehend losgelöst von anderen Hilfesystemen, insbesondere der Suchthilfe und der medizinischen Versorgung. Dies muss sich dringend ändern! Die vorhandenen Hilfesektoren müssen aufeinander zugehen, offen für die Konzepte und Methoden der anderen sein und Vorurteile abbauen. Strukturell und politisch betrachtet, sind die vorhandenen Schnittstellen-, Kompatibilitäts- und Kommunikationsprobleme endlich dauerhaft zu lösen. Die Erfahrungen mit Frühinterventionen und Case-Management bei anderen Problemlagen können hier durchaus Zuversicht und Hoffnung wecken.

Im vorliegenden Heft werden die zahlreichen Fragestellungen im Kontext Jugend und Substanzkonsum in verschiedenen Beiträgen aufgegriffen:

Zunächst berichten Anja Leppin und Kollegen (Universität Bielefeld) über den aktuellen Tabak-, Alkohol- und Cannabiskonsum Jugendlicher. Berichtet werden die Ergebnisse einer umfassenden Untersuchung mit Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen elf und 15 Jahren im Rahmen der internationalen HBSC-Studie (Health Behavior in School-aged Children).

Im zweiten Beitrag berichtet Michael Klein (Forschungsschwerpunkt Sucht FSS, Katholische Fachhochschule NRW), ebenfalls im Rahmen einer großen repräsentativen Schülerstudie, der NRW-Studie, über die Zusammenhänge im Gebrauch mehrerer Substanzen. Der hochfrequente Parallelgebrauch mehrerer Substanzen - bezogen auf die heutigen „Alltagsdrogen” Tabak, Alkohol und Cannabis - erweist sich dabei als häufiges Konsummuster, insbesondere bei männlichen Jugendlichen. Dies ist eine Herausforderung für die Suchtprävention, die bisher kaum erkannt, geschweige denn in umfassende, evidenzbasierte Handlungsprogramme umgesetzt worden ist.

Die dritte Originalarbeit stammt von Jens Kalke und Kollegen (Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung ZIS, Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf). Die Autoren gehen der Frage nach, inwieweit Jugendliche bereits Klienten der Suchthilfe sind. Die ausführliche Analyse der Daten von 54 ambulanten Suchthilfeeinrichtungen in Schleswig-Holstein zeigt, dass Jugendliche bis etwa 18 Jahren vornehmlich wegen Cannabisproblemen in den Beratungsstellen erscheinen. Junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 27 Jahren suchen vermehrt Hilfen wegen Problemen mit Opiaten (Heroin). Wie die Arbeit der Suchtberatungsstellen vor dem Hintergrund der einschlägigen Regelungen des SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG) einzuordnen sind und welche Optionen hier noch bestehen, wird in dem Beitrag ausführlich dargelegt.

Im Praxisteil berichten Christian Schoor und Christoph Möller (Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover) über einen innovativen Behandlungsansatz für Jugendliche. Nach ihren Erfahrungen erleben gerade früh traumatisierte Jugendliche in ihren Behandlungskarrieren wiederholte Beziehungsbrüche, wie sie dies aus ihrer Lebensgeschichte kennen. Auf der Therapiestation „Teen Spirit Island” wurde ein spezielles Konzept mit maximaler Konstanz der therapeutischen Beziehungen von der Aufnahmephase (Entzug und Motivation) über die therapeutische Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Probleme und Störungen bis hin zur Jugendhilfe mit integrierter Nachsorge entwickelt. Dieses Behandlungsmodell verfolgt das Ziel, dass der drogenabhängige Jugendliche in den Versorgungsstrukturen besser aufgehoben ist.

Michael Klein

Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Forschungsschwerpunkt Sucht

Wörthstraße 10

50668 Köln

Email: Mikle@kfhnw.de

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