Suchttherapie 2005; 6(3): 108-115
DOI: 10.1055/s-2005-858614
Schwerpunktthema

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Seuche Cannabis? Kritische Bemerkungen zu neueren epidemiologischen Studien

Is Cannabis an Epidemic? Critical Remarks to Recent Epidemiological StudiesJ. Kalke, U. Verthein, H. Stöver
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 September 2005 (online)

Zusammenfassung

In der öffentlichen Berichterstattung wurde in der letzten Zeit auf eine dramatische Zunahme problematischen Cannabis-Konsums unter jungen Menschen hingewiesen. Lässt sich dies aber tatsächlich mit empirischen Zahlen belegen? In diesem Beitrag werden aktuelle epidemiologische Untersuchungen unter die „kritische Lupe” genommen und in empirischer sowie methodischer Hinsicht auf ihre Aussagekraft hin überprüft. Dazu gehören u. a. die Untersuchung zur Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland der BZgA, die Repräsentativerhebung zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen und die Deutsche Suchthilfestatistik. Darüber hinaus werden auch Ergebnisse aus regionalen Erhebungen präsentiert. Werden die Ergebnisse aller hier analysierten Untersuchungen zusammen betrachtet, lässt sich zumindest der empirisch gesicherte Schluss ziehen, dass es in den letzten 10 Jahren zu keinem Rückgang des Cannabis-Konsums in Deutschland gekommen ist. Ob er hingegen zugenommen hat, und wenn ja in welchem Ausmaß, kann aufgrund der teilweise widersprüchlichen Ergebnisse und der teilweise kritikwürdigen Erhebungsinstrumente der Untersuchungen nicht eindeutig festgestellt werden. Nach den ermittelten Prävalenzen der letzten BZgA-Studie ist der Cannabis-Konsum bei den jungen Erwachsenen seit 1997 stabil, nach den Ergebnissen der aktuellen Repräsentativerhebung hat er seitdem in dieser Altersgruppe zugenommen. Auch die Ergebnisse von regionalen Erhebungen lassen keinen eindeutigen Trend erkennen. Das Gleiche gilt für vorliegende Zahlen aus anderen europäischen Staaten.

Abstract

Dramatic increases of problematic cannabis use among young people have recently been reported by the media. Is this really based on empirical data? The present article critically examines recent epidemiological studies in terms of their empirical and methodological meaningfulness. The evaluation includes e. g. the investigation of drug affinity among young people in the Federal Republic of Germany by the BZgA, the epidemiological survey of substance abuse among adults in Germany and the German statistical report on outpatient treatment. In addition, results of regional surveys will be presented. When summarising the results of all analysed investigations, we come at least to the empirically-based conclusion that cannabis use did not decrease in Germany in the last ten years. However, the partly controversial results and the survey methods that partly justify critique do not allow to draw any conclusions as to whether cannabis use has increased and, if so, to what extent. According to the prevalence found by the BzgA study, cannabis use among young adults did not change since 1997; the epidemiological survey found that it did increase. Results of regional surveys do not show a clear trend either, nor do results from other European countries.

Literatur

  • 1 Themenschwerpunkt: Cannabis - Neue Erkenntnisse zu Grundlagen, Klinik und Therapie. Sucht.  Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis. 2004;  6 (5)
  • 2 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung .„Jugendkult” Cannabis - Risiken werden oft verharmlost. Hilfen für riskante Konsumenten erforderlich. Pressemitteilung 2004
  • 3 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) .Cannabis bei Jugendlichen hoch im Kurs. Pressemitteilung 2004
  • 4 CDU und SPD .In Verantwortung für Schleswig-Holstein: Arbeit, Bildung, Zukunft. Koalitionsvertrag für die 16. Legislaturperiode 2005 bis 2010. Kiel; 2005
  • 5 Gaßmann R. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen. Cannabis. Neue Beiträge zu einer alten Diskussion. Freiburg i.B; Lambertus 2004
  • 6 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) .Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland. Wiederholungsbefragung 2004. Köln; BZgA 2004
  • 7 Kraus L, Augustin R. Repräsentativerhebung zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Deutschland. Epidemiologischer Suchtsurvey 2003.  Sucht. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis. 2005;  (51) Sonderheft 1
  • 8 Kaye S, Darke S. Determing a diagnostic cut-off on the Severity of Dependence Scale (SDS) for cocaine dependence.  Addiction. 2002;  97 727-731
  • 9 Sonntag D, Welsch K. Deutsche Suchthilfestatistik 2003.  Sucht. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis. 2004;  (50) Sonderheft 1
  • 10 Unveröffentlichter Forschungsbericht von Infratest dimap für das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein. Kiel; 2005
  • 11 Kraus L, Bauernfeind R, Bühringer G. Epidemiologie des Drogenkonsums in Deutschland. Ergebnisse aus Bevölkerungssurveys 1990 bis 1996. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit. Baden-Baden; Nomos 1998 Band 107
  • 12 Kraus L, Augustin R, Orth B. Repräsentativerhebung zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Hamburg. Epidemiologischer Suchtsurvey 2003. München; 2005 IFT-Berichte (Band Nr. 146)
  • 13 Baumgärtner T. Rauschmittelkonsumerfahrungen der Hamburger Jugendlichen und jungen Erwachsenen 2004. Zusammenfassender Basisbericht der Schüler- und Lehrerbefragung zum Umgang mit Suchtmitteln. Forschungsbericht. Hamburg; 2004
  • 14 Kemmesies U E, Werse B, Müller O. et al .MoSyD-Jahresberichte 2003 und 2004 (im Druck). Drogentrends in Frankfurt am Main. Forschungsberichte. 2004 und 2005
  • 15 Simon R, Sonntag D. Cannabisbezogene Störungen: Umfang, Behandlungsbedarf und Behandlungsangebot in Deutschland. Studie für das Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung.  München; Forschungsbericht 2004
  • 16 Dilling H, Mombour W, Schmidt M H. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Bern/Göttingen/Toronto/Seattle; Verlag Hans Huber 2005 ICD-10 Kapitel V (F)
  • 17 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg .Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft. Ausstiegsorientierte Reform der Suchtkrankenhilfe in Hamburg. Hamburg; 2005 Drucksache 18/2202 vom 3.5.2005
  • 18 Schütze C, Kalke J, Buth S. et al .Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Analysen zur Struktur des ambulanten Suchthilfesystems. Kiel; Eigenverlag 2004 Band V
  • 19 Jugendliche und junge Erwachsene in der ambulanten Suchthilfe. Empirische Befunde vor dem Hintergrund des Kinder- und Jugendhilfegesetzes.  Suchttherapie 2005 . (6) 1 20-27
  • 20 Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCCDA) .Stand der Drogenproblematik in der Europäischen Union und in Norwegen. Jahresbericht 2004. Lissabon; Eigenverlag 2004
  • 21 Van Laar M, van Gageldonk K, Ketelaars T. et al .The Netherlands. Report on the drug situation 2003. Utrecht; Forschungsbericht 2003
  • 22 Reuband K H. Drug use in Germany and the Netherlands. Waal H Patterns on the European drug scene. An exploration of differences Oslo; National Institute for Alcohol and Drug Research 1998
  • 23 Reuband K H. Drogenkonsum und Drogenpolitik. Deutschland und die Niederlande im Vergleich. Opladen; Leske u. Budrich 1992
  • 24 Ambros Uchtenhagen A. Geleitwort. Heudtlass JH, Stöver H Risiko mindern Frankfurt; Fachhochschulverlag 2005
  • 25 Schneider W, Stöver H. Die Bedeutung des Konzeptes „Gesundheitsförderung” für die Drogenhilfe - Einbezug von Betroffenenkompetenz und die Entwicklung von Drogenberatung. Heudtlass JH, Stöver H Risiko mindern Frankfurt; Fachhochschulverlag 2005

1 Aus redaktionellen Gründen wird im Folgenden immer nur die männliche Ausdruckweise gewählt (Experten etc.). Das schließt natürlich immer auch die weiblichen Personen (Expertinnen) mit ein.

2 Die HBSC-Studie und ihre nationalen oder sogar bundesländerspezifischen Auswertungen wurden außer Acht gelassen, weil sie keine Trendzahlen enthalten. HBSC: Health Behaviour in School-aged Children Study (www.hbsc.org).

3 Trendzahlen für die Gesamtgruppe der Befragten (18 bis 59 Jahre) werden nicht angegeben. Auch Trendangaben für die 30-Tages-Prävalenz werden nicht genannt.

4 In der Drogenaffinitätsstudie der BZgA wurden folgende Cannabis-Prävalenzen (12 Monate) für die Altersgruppe „20 bis 25 Jahre” ermittelt: 15 % (1997), 14 % (2001), 15 % (2004) [6]. In den verschiedenen Prävalenzerhebungen wird fast immer mit unterschiedlichen Altersgruppierungen gearbeitet. Ein direkter Vergleich ist deshalb nur eingeschränkt möglich. Generelle Vergleichsbewertungen und Trendaussagen können jedoch auf einer solchen Basis getroffen werden.

5 Da diese geringere Cannabis-Prävalenz für Schleswig-Holstein mit dem empirischen Befund bei der Vergleichsauswertung der Jugendlichen übereinstimmt, kann davon ausgegangen werden, dass Verzerrungen durch den telefonischen Erhebungsmodus - ältere methodische Vergleichsstudien haben ergeben, dass es bei Telefoninterviews zu einer Unterschätzung der Cannabis-Prävalenz kommt [11] - eher geringer sind. Ferner wird dieser Prävalenzwert auch in einer Teilstichprobe für Schleswig-Holstein aus der bundesweiten Repräsentativerhebung mit 4,4 % bestätigt.

6 In dem Prävalenzwert für 1997 sind sogar die 15- bis 17-Jährigen mit enthalten.

7 Der Wert für die 12-Monats-Prävalenz findet sich nicht in dem Bericht; er wurde aber auf der Jahrestagung des Fachausschusses „Suchtprävention” (September 2004) in einer Präsentation vom Autor der Untersuchung, Theo Baumgärtner, genannt. Ferner hat er dankenswerterweise für diesen Beitrag die Zahlen für die Altersgruppe der 15- bis 18-jährigen Schüler berechnet, damit eine Vergleichbarkeit mit den Prävalenzen aus Frankfurt a. M. hergestellt werden kann.

8 Die Zahlen basieren auf den Angaben zu den Betreuungszugängen innerhalb eines Jahres.

9 In der nationalen Suchthilfestatistik werden die Betreuungsfälle mit einer Diagnose „Abhängigkeitssyndrom” oder einer Diagnose „schädlicher Gebrauch” zur Hauptdiagnosegruppe „Cannabis” zusammengefasst.

10 So sollte ein Abhängigkeitssyndrom festgestellt werden, wenn während des letzten Jahres bei einem Klienten drei oder mehr von acht Kriterien gleichzeitig vorhanden waren. In Wirklichkeit werden in den ICD-Handbüchern seit vielen Jahren nur sechs Kriterien genannt - zwei wurden als eigenständige Kategorien abgeschafft, weil sie eine starke inhaltliche Nähe zu anderen aufwiesen. Die Anwendung der alten, längst überholten Leitlinie erhöht damit prinzipiell die Wahrscheinlichkeit, eine Diagnose „Abhängigkeitssyndrom” zu erhalten.

11 So heißt es in einer Mitteilung des Hamburger Senats: „Einrichtungen der Drogenhilfe lehnen eine generelle Einführung des ICD-10 ab und weisen auf den hohen Qualifizierungsbedarf hin. Eine flächendeckende Anwendung sei nicht erforderlich” [17].

12 Eigene Berechungen auf der Grundlage der Tabellenbände der nationalen Suchthilfestatistik (www.suchthilfestatistik.de).

13 Die Hauptdiagnosen-Anteile in der nationalen Suchthilfestatistik 2003 betragen:15- bis 17-Jährige: 12 % Alkohol und 64 % Cannabis.18- bis 19-Jährige: 16 % Alkohol und 47 % Cannabis.Eigene Berechungen auf der Grundlage der Tabellenbände der nationalen Suchthilfestatistik (www.suchthilfestatistik.de).

14 Siehe hierzu die entsprechenden Informationen unter www.espad.org (ESPAD: The European School Survey Project on Alcohol and Other Drugs).

Dr. Jens Kalke

Auf dem Heinrichshof 9 b

21502 Geesthacht

Email: kalkej@aol.com

    >