Suchttherapie 2005; 6(4): 153-154
DOI: 10.1055/s-2005-858808
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Themenheft „Arbeitslosigkeit und Suchtrehabilitation”

Special Issue “Unemployment and Addiction Therapy”D. Henkel1 , U. Zemlin2
  • 1Fachhochschule Frankfurt a. M., University of Applied Sciences, Fachbereich 4, Soziale Arbeit und Gesundheit, Institut für Suchtforschung ISFF
  • 2Fachklinik Wilhelmsheim, Oppenweiler
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Publication Date:
09 December 2005 (online)

Arbeitslosigkeit zieht stets einschneidende finanzielle Einbußen nach sich, die bei einem großen Teil der Arbeitslosen so weit gehen, dass sie unterhalb der Armutsgrenze leben. In Deutschland lag die Armutsquote der Arbeitslosen im Jahr 2003, also noch vor „Hartz IV”, bereits bei 41 % [1]. Ebenso kann unfreiwillige, länger anhaltende und hinsichtlich ihrer Beendigung ungewiss verlaufende Arbeitslosigkeit zahlreiche negative psychosoziale Effekte hervorrufen, die körperliche Gesundheit schädigen und das Mortalitätsrisiko erhöhen, wie dies die internationale Forschung inzwischen hinreichend dokumentiert hat. Unter Abwägung der von der Arbeitslosigkeit ausgehenden Belastungseffekte im Bereich der psychischen und physischen Gesundheit hat die WHO [2] die seit Mitte der 1970er-Jahre expandierende Massenarbeitslosigkeit in den Ländern der OECD als „große epidemiologische Katastrophe” bezeichnet.

Innerhalb dieser Gesamtproblematik nimmt der Zusammenhang von Sucht und Arbeitslosigkeit einen gewichtigen Stellenwert ein. Insbesondere angloamerikanische und skandinavische Studien haben schon lange belegt, dass die Arbeitslosigkeit Risikopotenziale impliziert, die eine Suchtentstehung und eine Intensivierung bereits bestehender Suchtprobleme deutlich begünstigen können [3] [4]. So zeigten z. B. schwedische Längsschnittuntersuchungen an einer großen Stichprobe Jugendlicher, dass das Risiko mit dem Rauchen zu beginnen für arbeitslose Mädchen 2-mal und für arbeitslose Jungen 1,5-mal höher war als für berufstätige gleichen Alters [5]. Catalano (1997) [6] kam auf der Grundlage von Daten der für die Bevölkerung der USA repräsentativen „Epidemiologic Catchment Area Study” zu dem Ergebnis, dass die Zahl derer, die Symptome einer Alkoholabhängigkeit aufwiesen, in der Gruppe der Arbeitslosen nach einjähriger Arbeitslosigkeit signifikant stärker angewachsen war als bei Personen mit gleich langer ununterbrochener Erwerbstätigkeit. Diese Differenz blieb stabil bei Kontrolle des Alters, der ethnischen Zugehörigkeit, des sozioökonomischen Status und Familienstands. Anhand der nationalen Mortalitätsstatistik Finnlands konnte nachgewiesen werden, dass die alkoholbedingte Sterblichkeitsrate in der Gruppe der Männer, die in den Jahren 1981 bis 1985 für längere Zeit arbeitslos waren, in diesem Zeitraum um das Fünffache stärker angestiegen war als in der nach Alter, Sozialschicht und Familienstand parallelisierten Kontrollgruppe der Berufstätigen [7]. Auch die umgekehrte Wirkungsrichtung, dass ausgeprägte Alkoholprobleme das Risiko deutlich erhöhen, arbeitslos zu werden und relativ lange Zeit zu bleiben, ist vielfach empirisch belegt. Aktuelle Studien haben beide Wirkungszusammenhänge erneut bestätigt. Das dokumentierte die internationale ICOH-Expertenkonferenz „Unemployment and Health”, die im September 2004 an der Universität Bremen stattfand [8].

Besonders gravierende Probleme bestehen im Bereich der Suchtrehabilitation bzw. Suchtbehandlung. Damit befasst sich das vorliegende Heft. Wie Dieter Henkel und Peter Grünbeck zeigen, hat sich die Arbeitslosenquote unter den alkoholabhängigen Rehabilitanden von 1975, dem Beginn der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland, von 7 % auf 37 % im Jahr 2003 erhöht und damit erheblich stärker als die allgemeine Arbeitslosenquote. Mit dieser Entwicklung hat die Effektivität der Suchtrehabilitation kaum Schritt halten können. Das gilt für beide Hauptziele suchtrehabilitativer Maßnahmen: Wiedereingliederung in Arbeit und Abstinenz bzw. Reduktion von Rückfallrisiken. In der Gruppe derer, die als Arbeitslose in die Behandlung kamen, betrug die Quote der beruflich Reintegrierten 2 Jahre nach der Rehabilitation lediglich 20 %. Das Alkoholrückfallrisiko der Arbeitslosen ist 2-mal höher als das der Erwerbstätigen, sogar 3,5-mal höher für eine Rückkehr in die frühere Alkoholabhängigkeit (s. den Beitrag von Dieter Henkel, Peer Dornbusch, Uwe Zemlin).

Damit ist im Zuge der Massenarbeitslosigkeit folgende Problemlage entstanden: Dort, wo die Nachfrage nach suchtrehabilitativen Maßnahmen am stärksten angewachsen ist, nämlich in der Gruppe der arbeitslosen Alkoholabhängigen, ist die Effektivität der Rehabilitation am geringsten.

Die Arbeitslosigkeit hat sich zu einer der größten Herausforderungen entwickelt, mit denen sich die Suchtrehabilitation gegenwärtig konfrontiert sieht. Notwendig sind erhebliche Anstrengungen für weitere Intensivierungen und Systematisierungen von Maßnahmen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben (s. dazu die Artikel von Uwe Zemlin und Volker Weissinger) und ebenso die Entwicklung gezielter rückfallpräventiver Programme für die Arbeitslosen. Die dazu erforderlichen empirischen Grundlagen und Orientierungspunkte für die Praxis sind dem Beitrag von Dieter Henkel, Peer Dornbusch und Uwe Zemlin zu entnehmen.

Doch man muss hier klar sehen, dass signifikante Erhöhungen der Effektivität der Suchtrehabilitation nur dann zu erreichen sind, wenn es gelingt, die Massenarbeitslosigkeit substanziell zu verringern. Nach den vorliegenden Arbeitsmarktprognosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit ist bis zum Jahr 2015 nur ein langsamer und moderater Zuwachs des Arbeitskräftebedarfs zu erwarten und dies auch nur in Westdeutschland [9]. Dabei kommt es aber selbstverständlich darauf an, welchen Handlungsspielraum sich die Politik, die Gewerkschaften u. a. m. verschaffen, um auf die ökonomischen Prozesse im Sinne von mehr Beschäftigung Einfluss zu nehmen.

Literatur

  • 1 Bundesregierung .2. Armuts- und Reichtumsbericht. Bundestagsdrucksache 15/5015. 2005 6
  • 2 Weltgesundheitsorganisation (WHO) .Bericht über die WHO-Tagung: Krankheitsanfälligkeit unter Langzeitarbeitslosen. Längsschnittansätze. Ljublijana; WHO Oktober 1985
  • 3 Henkel D. Arbeitslosigkeit, Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit: Nationale und internationale Forschungsergebnisse. Henkel D Sucht und Armut. Alkohol, Tabak, illegale Drogen Opladen; Leske & Budrich 1998: 101-136
  • 4 Henkel D. Arbeitslosigkeit, Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit: Forschungsergebnisse, Forschungsdefizite und Hypothesen.  Abhängigkeiten. 1998;  6 9-29
  • 5 Hammarström A. Health consequences of youth unemployment.  Public Health. 1994;  6 403-412
  • 6 Catalano R. An emerging theory of the effect of economic contraction on alcohol abuse in the United States.  Social Justice Research. 1997;  6 191-202
  • 7 Martikainen P T. Unemployment and mortality among finnish men 1981 - 1985.  British Medical Journal. 1990;  6 407-411
  • 8 www.ipg.uni-bremen.de. 
  • 9 Almendinger J, Eichhorst W, Walwei U. IAB Handbuch Arbeitsmarkt. Analysen, Daten, Fakten. Frankfurt/Main; Campus 2005: 51ff

Prof. Dr. Dieter Henkel

FH Frankfurt a. M., FB 4

Nibelungenplatz 1

60318 Frankfurt a. M.

Email: henk@fb4.fh-frankfurt.de

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