Psychother Psychosom Med Psychol 2005; 55 - S_040
DOI: 10.1055/s-2005-863386

Prädiktion der Dekompensation und des Behandlungsbedarfs beim chronifizierten Tinnitus – 2-Jahres-Katamnese der Hannover-Tinnitus-Verlaufsstudie

B Jäger 1, P Malewski 1, B Schwab 2, F Lamprecht 1
  • 1Abt. Psychosomatik und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover
  • 2Abteilung HNO, Medizinische Hochschule Hannover

Der chronische Tinnitus ist weniger durch primäre Krankheitssymptome, als durch z.T. erhebliche Sekundär- und Folgesymptome gekennzeichnet. Es fehlen verlässliche Zahlen zu der wirklichen Rate der dekompensierten Patienten und zu den Gründen der Dekompensation. Ausgehend von einem adaptierten Diathese-Stress-Modell sollte die Prädizierbarkeit der Dekompensation und die sozialmedizinische Bedürftigkeit dieser Patientengruppe überprüft werden. Methode: 211 Patienten mit einem akuten Tinnitus wurden 4 mal innerhalb von 2 Jahren befragt. Erfasst wurden audiometrische Parameter, tinnitusspezifische Belastungen (TF, TBF), psychische Belastungen (BSI, DS), Coping (Cope), chronischer Stress (TICS) und Persönlichkeitsdimensionen (FPI-Leistungsorientierung, EDI-Ineffectiveness). Ergebnisse: Aufgrund des Kriteriums eines Dekompensations-Scores (Cronbachs-Alpha=0,71) identifizierten wir zum Krankheitsbeginn 34%, nach drei Monaten 18% und nach einem Jahr 17% dekompensierte Patienten. In einem Prädiktionsmodell zeigte sich, dass die Schwere der Symptomatik und die 'konkurrierenden Belastungen' einen signifikanten Einfluss auf die Dekompensation nach einem Jahr hatten (R2=0,14, p<=0,001). Für 17% der PatientInnen nach einem Jahr und für 14% nach 2 Jahren konnte ein Unterstützungsbedarf festgestellt werden. Die Patienten selbst sehen eine Behandlungsbedürftigkeit insgesamt in 32,8% der Fälle; 6,0% haben bereits eine entsprechende stationäre Behandlung hinter sich. Der von uns festgestellte Behandlungsbedarf und der Behandlungswunsch der Patienten stimmten nur zu 13,1% überein. Diskussion: Die Rate dekompensierter Patienten ist kleiner als bislang geschätzt, wenn man adäquate (unausgelesene) Stichproben untersucht. Die Modellvorstellung des Diathese-Stress-Modells ist zur Prognose der Dekompensation geeignet. Im Gesamt-Kollektiv der Betroffenen ist von einer geringeren Rehabedürftigkeit auszugehen, als bisher angenommen.