PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(2): 230-231
DOI: 10.1055/s-2005-866843
Resümee
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für eine Landschaft ohne Schlagbäume …

Steffen  Fliegel1 , Arist  von Schlippe
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Publication Date:
23 May 2005 (online)

Länder, Provinzen, Regionen, mit und ohne, mit niedergerissenem oder umgefallenem Zaun. Starre Grenzen, überwindbare Grenzen, offene oder geschlossene Übergänge …

Wir haben im Editorial versucht, dieses Landschaftsmodell metaphorisch auf die Psychotherapie zu übertragen. Welche engen Grenzen, welche offenen Übergänge helfen Menschen, die unter psychischen Problemen leiden? Wie ist die Versorgung? Was sagt die Wissenschaft?

Zwei Ergebnisse scheinen uns nach Sichtung der Artikel und Interviews gesichert:

Grenzziehungen. Grenzziehungen und „geschlossene Übergänge” sind dort hilfreich und notwendig, wo sie Patientinnen und Patienten zum Beispiel vor Machtmissbrauch, Gurutum, Missionarismus, Funktionalisierung und Übergriffen schützen. Es ist dabei wichtig, dass Therapeutinnen und Therapeuten ihre eigenen Grenzen erkennen und ihr Handeln danach ausrichten (siehe z. B. die Artikel von Wirth, Schmidt-Lellek, Wunderlich, Revenstorf und Riedler-Singer sowie das Interview mit Bosch). Vieles ist aber nicht einfach mit dem erhobenen Zeigefinger oder sogar mit dem Strafgesetzbuch abzutun. Für die Einhaltung von Grenzen bedarf es vor allem therapeutischer und persönlicher Haltungen. Therapeutinnen und Therapeuten sind Menschen und keine Maschinen. Sie arbeiten zum Teil unter sehr harten und herausfordernden Bedingungen und sind oft gezwungen, das zu vernachlässigen, was sie mit ihren Patienten erarbeiten: Selbstachtsamkeit, Selbstfürsorge, Psychohygiene, Ausgeglichenheit. Dabei ist Zeit notwendig, um immer wieder die helfende Rolle und ihre Einbettung in den persönlichen Lebensalltag zu überprüfen.

Grenzübergänge. Besonders eindrücklich wird zum zweiten in zahlreichen Artikeln und Interviews der Anspruch unserer Zeitschrift unterstrichen, dass nämlich die „Grenzübergänge” zwischen den therapeutischen Konzepten (Grawe), zwischen verschiedenen Modellen der psychotherapeutischen Versorgung (Keupp, Großmaß, Sturm u. a., Shay) und psychotherapeutischen Settings (Teglas, Stienen, Conen, Tschuschke) zahlreicher und fließender geworden sind. Starre Grenzziehungen zwischen den Schulen oder sogar deren Ausgrenzungen werden weniger, auch wenn die Verantwortlichen in den politischen Ausschüssen und in den Krankenkassen dies noch nicht wahrhaben wollen. Viele Therapeutinnen und Therapeuten haben sich bereits therapieschulenübergreifende Konzepte angeeignet, durch Fortbildung und aus der Erfahrung mit Patientinnen und Patienten, und in die eigene praktische Tätigkeit integriert. Sie setzen sich über die Grenzen hinweg und verzahnen Beratung mit Therapie, Stationäres mit Ambulantem, Gruppen- mit Paar- mit Einzeltherapie, Verhaltens- mit tiefenpsychologischer, humanistischer, neuropsycho- oder systemischer Therapie: „Learning from many masters” nannte Orlinsky einst dieses Phänomen.

Was hindert uns eigentlich jetzt noch daran, die Grenzübergänge zwischen den ehemals hilfreichen nun aber eher künstlich aufrechterhaltenen Provinzaufteilungen abzuschaffen? Vielleicht brauchen wir in der Psychotherapie auch so etwas wie ein „Schengener Abkommen”, in dem freier Grenzverkehr gewährleistet ist? Wir handeln doch, so zeigt auch dieses Heft, bereits in einer „gemeinsamen Währung”. Die Einzigartigkeit der Länder bleibt dabei erhalten, die Grenzlinien sind und bleiben erkennbar - und doch ist freier Reiseverkehr möglich!

Dazu brauchen wir noch mehr praxisorientierte Forschung. Und wir brauchen moderne psychotherapeutische Aus-, Weiter- und Fortbildung, die sich an den Wirkfaktoren psychotherapeutischen Handelns orientiert und damit auf die Metaebene der Therapieschulen und der Versorgungskonzepte hin ausgerichtet ist. Alle seriösen Therapieverfahren haben, und da können wir uns Klaus Grawe anschließen, ihre Berechtigung in der psychotherapeutischen Versorgung. Jetzt gilt es, die wesentlichen und wirkungsvollen Aspekte zusammenzuführen (vieles ist vorhanden und muss nicht neu erfunden werden) und mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunkten für die Bevölkerung präventiv, kurativ oder rehabilitativ nutzbar zu machen.

Auch wir werden in der „Psychotherapie im Dialog” weiterhin versuchen, Zeichen zu setzen. Durch die Aufnahme der humanistischen Therapieverfahren haben wir dieses Jahr einen wichtigen konzeptuellen Schritt in diese Richtung getan. Das inhaltliche Ziel werden wir erst erreicht haben, wenn wir guten Gewissens den Untertitel unter „Psychotherapie im Dialog” fallen lassen können.

Ein Thema haben wir in der Sammlung der Herausforderungen bei Grenzziehungen und dem Schaffen von Übergängen noch unberücksichtigt gelassen: das möglicherweise noch ungenutzte Potenzial der Internet-Psychotherapie. Dabei stellt sich natürlich die Frage nach der Notwendigkeit einer persönlichen therapeutischen Beziehung, um Menschen mit psychischen Problemen ausreichend und effektiv helfen zu können. Wir tragen diesem Thema in PiD dadurch Rechnung, dass wir zunächst einmal themenspezifisch die Internet-Repräsentanz auflisten und kritisch reflektiert darstellen (vgl. die Artikel von Christiane Eichenberg in den PiD-Heften). Die Entwicklung dieses Themas hat eine so atemberaubende Geschwindigkeit, dass die nachhängende Forschung mit Vorrang vorangetrieben werden sollte, zur Erarbeitung der Vorzüge aber auch zum Aufzeigen der Gefahren und Grenzen.

Und auch noch Erfreuliches zum Schluss: Das Interview mit der Bundesgesundheitsministerin hat noch einmal verdeutlicht, dass aus Sicht der Politik Psychotherapie auch in Zukunft zur regulären Kassenversorgung gehören wird und eine Abschiebung in die Wahlleistungen nicht zu befürchten ist.

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