Psychother Psychosom Med Psychol 2005; 55(7): 321-323
DOI: 10.1055/s-2005-866922
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Kampf um die Besten: Das neue Zulassungsverfahren zum Medizinstudium

Fighting for the Best: The New Procedure for the Selection of Medical StudentsBernhard  Strauß1 , Elmar  Brähler2
  • 1Institut für Medizinische Psychologie, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena
  • 2Selbstständige Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinik Leipzig
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Publication Date:
28 June 2005 (online)

Zum Wintersemester 2004/2005 bewarben sich insgesamt 33 921 Personen um 8444 verfügbare Studienplätze im Fach Humanmedizin (vgl. www.zvs.de). Pro Studienplatz gab es also ziemlich genau 4 Bewerber(innen). Die Zahl der Bewerber pro Platz schwankt von Hochschule zu Hochschule beträchtlich (führend im vergangenen Wintersemester: Münster mit 10 Bewerbern pro Studienplatz; Schlusslicht: Marburg: 1,5). Die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) hat den Hochschulen in der Vergangenheit die mühselige Auswahlarbeit weitgehend abgenommen. Für 80 % aller Hochschulen erfolgte die Studienplatzvergabe ausschließlich über die ZVS. Obwohl die Universitäten bisher schon theoretisch die Möglichkeit hatten, bis zu 24 % der verfügbaren Studienplätze nach eigenen Maßstäben zu vergeben, machten die meisten Medizinischen Fakultäten von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch. Die verfügbaren Studienplätze sind jene, die nach dem Vorwegabzug einer Sonderquote von 15 % für Ausländer, Bundeswehrstudenten, Härtefälle, Zweitstudierende und Personen mit besonderer Hochschulzugangsberechtigung verbleiben. Nur in wenigen Universitäten erfreuten sich vor allem Auswahlgespräche größerer Beliebtheit unter den Professoren, konnten sie doch nachdrücklich ihrer Vorstellung von einem guten Medizinstudenten durch ihre Auswahl Ausdruck verleihen.

Nach einer Änderung des Hochschulrahmengesetzes im August 2004 und nachfolgenden - der Länderhoheit in Bildungsangelegenheiten entsprechend: unterschiedlichen - Änderungen der Landesgesetze wird nun ab dem kommenden Wintersemester ein neuer Zulassungsmodus praktiziert: Die Hochschulen müssen spätestens innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der o. a. Hochschulrahmengesetzänderung 60 % der verfügbaren Plätze in den Numerus-clausus-Fächern über ein eigenes Auswahlverfahren vergeben und haben dadurch die Möglichkeit, das für die Hochschule spezifische Anforderungsprofil künftiger Studierender deutlich zu machen. Über die ZVS werden nur noch 20 % der Plätze an die Abiturbesten vergeben, weitere 20 % nach der Wartezeit.

Ähnlich wie die Umsetzung der Approbationsordnung für Ärzte aus dem Jahr 2002 setzte die Gesetzesänderung die Hochschulen unter einen enormen Zeitdruck im Hinblick auf die Realisierung der neuen Regelungen und stellt sie vor nicht zu unterschätzende Probleme: Woran sind denn nun die Besten zu erkennen? Kann man die Qualität an Prüfungsergebnissen messen, sind die Besten also wirklich diejenigen, die das Physikum mit den besten Noten absolvieren? Werden diese Studierenden die besten Wissenschaftler? Werden sie „gute Ärzte”? Woran erkennt man die begabten Chirurgen, die einfühlsamen Psychotherapeuten?

Das geänderte Hochschulrahmengesetz betont nach wie vor die Abiturnote als zentrales Kriterium für die Zulassung. Dies geschieht zu Recht, da die Abiturnote zumindest im Hinblick auf die Prüfungsleistungen der empirisch am besten gesicherte Indikator für den Studienerfolg darstellt (vgl. [1] [2] [3]). Nähme man beispielsweise das Ergebnis von Vorprüfungen (Physikum, Vordiplom) als Kriterium, wäre die Abiturnote der beste Prädiktor. Korrelationen zwischen Abitur- und Vorprüfungsnote beispielsweise betragen ca. r = 0,40 und sind damit deutlich höher als die Korrelationen zwischen Intelligenztests und Prüfungsergebnis.

Der Gesetzgeber hat nun aber vorgeschrieben, dass neben der Abiturnote weitere Kriterien zu berücksichtigen sind, über deren Ausgestaltung den Hochschulen - je nach Bundesland - mehr oder weniger viel Spielraum gelassen wurde. In der Regel sollen mindestens zwei Kriterien benutzt werden, von denen eines wohl vielerorts eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem der Medizin nahe stehenden Berufszweig (von der Krankenschwester bis zum Entbindungspfleger) sein wird. Was aber kann noch dazu kommen? Hierüber wird in den Medizinischen Fakultäten kontrovers zu diskutieren sein.

Innerhalb der akademischen Psychologie (vgl. z. B. das entsprechende Schwerpunktheft der „Psychologischen Rundschau”, 2/2005) ist bereits eine rege Debatte über die Qualität von Auswahlkriterien entbrannt (nicht zuletzt deshalb, weil die Psychologie, neben der Pharmazie, Biologie, Tier-, Human- und Zahnmedizin auch von der Gesetzesänderung betroffen ist), an der sich die Medizinischen Fakultäten durchaus orientieren sollten. Die Psychologie sieht sich begründet als Vorreiterdisziplin in der laufenden Diskussion („Auswahlentscheidungen sind genuiner Gegenstand der Psychologie”, [4]).

Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie hat als Reaktion auf die Gesetzesänderung relativ rasch eine Stellungsnahme veröffentlicht [5], in der sie empfiehlt, kurzfristig primär die Durchschnittsnote der Hochschulzugangsberechtigung und/oder gewichtete Einzelnoten zugrunde zu legen. Mittel- und langfristig wird empfohlen, Studierfähigkeitstests zu verwenden, deren Ergebnisse mit den Schulnoten kombiniert werden sollten. Diese beiden Kriterien weisen die beste prognostische Validität für den Studienerfolg auf (interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Auswahl einzelner als relevant erachteter Schulnoten gegenüber der Abiturdurchschnittsnote keine Vorteile in der Prognose aufweist). Darüber hinaus empfiehlt die Fachgesellschaft, die Auswahl der Studierenden durch Verfahren des „Self-Assessments” zu ergänzen, um die persönliche Entscheidung für ein Fach rechtzeitig, fundiert und ggf. noch vor einer offiziellen Bewerbung überprüfen zu können.

Es ist schwer abzuschätzen, welche Strategien zur Auswahl innerhalb der Medizin diskutiert und letztlich gewählt werden. Bislang sind die Kriterien sehr unterschiedlich und aus der (Zeit-)Not der Umsetzung des Hochschulrahmengesetzes geboren. Beispielsweise wenden vier benachbarte Fakultäten in den neuen Bundesländern gänzlich unterschiedliche „Zusatzkriterien” an (Magdeburg: kein zusätzliches Kriterium; Leipzig: Berufsausbildung und Auswahltest; Dresden: Fragebogen und Gespräch; Jena: Berufsausbildung und Motivationsschreiben).

Erfahrungsgemäß tendieren Mediziner dazu, Auswahlgespräche zu präferieren in der Annahme, dass der persönliche Kontakt die beste Basis für die Einschätzung der Eignung für den Medizinerberuf böte. Die Empirie spricht eindeutig dagegen [6]! Tatsächlich gab es schon in der Vergangenheit Indizien dafür, dass die per Auswahlgespräche ausgewählten Studenten schlechter waren als jene, die mit den sehr guten Abiturnoten durch die ZVS zugewiesen worden waren.

Tab. [1] stellt die Bewertung der potenziell infrage kommenden Auswahlkriterien in Anlehnung an eine Zusammenfassung von Trost [7] kompakt dar. Aus dieser Darstellung geht hervor, dass die Entwicklung - allgemeiner und fachspezifischer - Studierfähigkeitstests wahrscheinlich die sinnvollste Möglichkeit darstellen wird, eine prognostisch valide Auswahl zu treffen. In der Medizin waren derartige Tests über eine gewisse Zeit bereits üblich. Lange Jahre gab es die Dreiteilung der Zulassung über ZVS, Zulassungsgespräche und den Test für medizinische Studiengänge. Der Test für medizinische Studiengänge wurde dann abgeschafft, weil man fälschlicherweise davon ausging, dass der Andrang zum Medizinstudium auf Dauer nachlassen würde.

Tab. 1 Bewertung „in Betracht kommender” Auswahlverfahren (nach 7) Abiturdurchschnitt bester Einzelprädiktor (ökonomisch, Problem der Vergleichbarkeit zw. Schulen/Bundesländern) Fachnoten im Abitur geringe prognostische Validität; mäßige Ökonomie; Problem: Leistungs- vs. Grundkursnoten Studierfähigkeitstests hohe prognostische Validität (inkrementell zu Abitur), Objektivität, Reliabilität, geringe Trainierbarkeit, Fairness; hoher Entwicklungsaufwand Essays mittlere Validität, Objektivität, Reliabilität; Aufwand; Erfassung v. Merkmalen, die sonst nicht geprüft werden Auswahlgespräch mäßige Validität, Objektivität, Reliabilität; hoher Aufwand: nur anwendbar bei kleineren Gruppen v. Bewerbern situative Elemente (Assessment-Center; Referate, Gruppendiskussion) gute Validität, befriedigende Objektivität, hoher Aufwand berufsbezogene Vorerfahrungen mäßige prognostische Validität, Objektivität; Schwierigkeit der Festlegung; mäßige Ökonomie (Nachweise!)

Wenn sich die Medizinischen Fakultäten auf die Empfehlungen der Psychologie einlassen, wird es also wieder notwendig werden, „Medizinertests”, eine Art PISA für Ärzte und Ärztinnen einzuführen und zu entwickeln. Hierbei, aber auch bei der allgemeinen Diskussion um die Auswahlkriterien sollten sich die psychosozialen Fächer, allen voran die psychodiagnostisch kompetente Medizinische Psychologie rege beteiligen!

Allgemein wirft die Reform der Zulassung grundsätzliche Fragen auf: Welche Ärzte wollen wir überhaupt? Benötigen wir - bei inzwischen 64 % weiblichen Medizinstudierenden - künftig eine Männerquote? Wollen wir eher handwerklich begabte Chirurgen? Wollen wir einfühlsame Ärzte, die dem Patienten zuhören können? Wollen wir die großen Wissenschaftler, die vielleicht einmal nach dem Nobelpreis greifen? Wie würde der ideale Medizinstudent für die psychosozialen Fächer aussehen? Möglichst gute Noten in Deutsch, Religion oder Ethik? Vielleicht einen Leistungskurs in Psychologie in der Oberstufe? Vielleicht schon ein bisschen Selbsterfahrung? Vielleicht ein freiwilliges soziales Jahr?

Im kommenden Wintersemester werden wir bei den Studienanfängern erstmals die neuen Besten erleben können. Im Hinblick auf die zunehmende Konkurrenz zwischen den Fakultäten in Richtung Profilbildung und spezieller Förderung darf man gespannt sein, ob und wie sich die Studierenden in der Medizin tatsächlich verändern werden.

Vom Gesetzgeber ist eine deutlichere Profilbildung der Hochschulen durch die Entwicklung spezifischer Auswahlkriterien intendiert. Die Hoffnung darauf, dass diese Rechnung aufgehen wird, wird durch vorliegende empirische Befunde geschmälert: Der größte Teil der Varianz der Bewerberzahl pro Studienort wird offensichtlich nicht durch Kennwerte der Leistungen einer Universität erklärt, sondern durch ein viel profaneres Kriterium (vgl. [8]): Die Einwohnerzahl der Universitätsstadt.

Literatur

  • 1 Steyer R, Yousfi S, Würfel L. Prädiktion von Studienerfolg: Der Zusammenhang zwischen Schul- und Studiennoten im Diplomstudiengang Psychologie.  Psychol Rundschau. 2005;  56 129-131
  • 2 Schmidt-Atzert L. Prädiktion von Studienerfolg bei Psychologiestudierenden.  Psychol Rundschau. 2005;  56 131-134
  • 3 Baron-Boldt J. Die Validität von Schulabschlussnoten für die Prognose des Ausbildungs- und Studienerfolgs. Frankfurt/Main; Peter Lang 1989
  • 4 Westmeyer H. Einige Grundsätze zum Vorgehen bei der Auswahl von Studierenden.  Psychol Rundschau. 2005;  56 142-144
  • 5 Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) . Stellungnahme zur Auswahl von Studierenden durch die Hochschulen.  Psychol Rundschau. 2005;  56 153-154
  • 6 Schmitt M. Auswahl von Studierenden.  Psychol Rundschau. 2005;  56 123-124
  • 7 Trost G. Studierendenauswahl durch die Hochschulen: Welche Verfahren kommen in Betracht, welche nicht?.  Psychol Rundschau. 2005;  56 138-140
  • 8 Stemmler G. Studierendenauswahl durch die Hochschulen: Ungewisser Nutzen.  Psychol Rundschau. 2005;  56 125-127

Prof. Dr. Bernhard Strauß

Institut für Medizinische Psychologie · Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität

Stoystraße 3

07740 Jena

Email: bernhard.strauss@med.uni-jena.de

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