Zeitschrift für Palliativmedizin 2005; 6(2): 70-73
DOI: 10.1055/s-2005-866936
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Leid Tragen

About SufferingMatthias  Volkenandt1
  • 1Dermatologische Klinik der Universität München
Der Artikel entstand auf der Grundlage eines Plenarvortrages auf dem 5. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), Aachen, April 2005
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Publication Date:
14 July 2005 (online)

In kaum einem Bereich der Gesellschaft sind Menschen auf so tiefe und so dauerhafte Weise konfrontiert mit menschlichem Leid, mit schwerer Krankheit und auch mit Sterben und mit dem Tod, wie im Bereich der Palliativmedizin mit allen ihren beteiligten Berufsgruppen. Und kaum etwas betrifft den Menschen tiefer, existenzieller, als die Erfahrung von schwerster Krankheit und von Leid: das der Mitmenschen - und das eigene.

Nun ist ohne Zweifel unser beruflicher Alltag zunächst ganz überwiegend geprägt durch fachliche, medizinische, pflegerische Tätigkeiten, die notwendig und wichtig sind. Dennoch aber ist es so, dass in der ständigen Begegnung mit Leid in aller Geschäftigkeit auch eine Konfrontation mit den grundsätzlichen Lebensfragen geschieht: die des Patienten und ganz unausweichlich auch die eigenen: „Woraufhin ist eigentlich mein eigenes Leben hin ausgerichtet?” Und auch geschieht es, dass uns Patienten oder Angehörige in ein Gespräch nehmen wollen über mehr als die Diskussion der medizinischen Befunde und der nächsten Schritte im Alltag - und ausgesprochen oder unausgesprochen Fragen stellen wie: Warum habe gerade ich diese furchtbare Krankheit?, Warum gerade mein Mann, meine Frau, mein Kind? - und: Wie kann ich in all' diesem Leid überhaupt noch irgendwie sinnvoll leben? - und Leidende erwarten, dass wir hier nicht ganz ausweichen - und obwohl wir keine Antworten haben, kann Sprachlosigkeit dennoch nicht das letzte Wort sein.

Diese Fragen nach dem Leid, nach seinem Grund und Sinn, nach Möglichkeiten der Annahme und Bewältigung, sie sind die tiefsten und ältesten Fragen des Menschen und seiner Geschichte von Anbeginn an - und schon dies zeigt, dass es hier keine allumfassenden und unsere Fragen lösende Antworten gibt. Aber die Geschichte ist voll der Versuche der Annäherung an diese Fragen, Annäherung, die unser Denken und das der Patienten bestimmen.

Leid begegnet dem Menschen in vielfältiger Form und Ausprägung. Will man Unterscheidungen versuchen, so ist zunächst die Überfülle des Leids durch eigenes Verschulden und fremdes Verschulden zu nennen - Leid durch eigenes Tun gegen mich selbst (etwa in der Folge verfehlter Lebensführung) und Leid in der Folge der Bosheit der anderen gegen mich, im Kleinen, wie im Großen - die vielen Ungeheuerlichkeiten im eigenen Leben und in der Menschheitsgeschichte, denken wir an Kriege und Terror.

Die Frage nach dem Grund des Leides lässt angesichts dieses Leides in der Folge der Sünde noch am ehesten eine Antwort erahnen: Es ist die Freiheit des Menschen, der in Freiheit Gutes, aber eben auch Böses tun kann - gegen sich selbst und gegen andere. Doch bei näherem Hinsehen beginnt schon hier große Ratlosigkeit, gibt es doch immer ein unentflechtbares Ineinander tatsächlicher Freiheitsgeschichte und schuldloser Verstrickungen. War etwa der Raucher und Trinker, der sich und seine Gesundheit ruinierte, wirklich immer ganz frei in allen seinen Entscheidungen? Und sind alle, die an großen menschengemachten Katastrophen mitwirken, in allem wirklich individuell immer ganz frei? Nie wird dies auflösbar sein.

Ganz sicher jedoch verstummt jede einfache Erklärung vor dem geheimnisvollsten, bedrohlichsten und unerklärlichsten Leid, jenes Leid, das uns so häufig in unseren Berufen begegnet. Jenes Leid, das durch keines Menschen Schuld geschieht, das bereits mit dem Menschsein (oder theologisch: mit dem Geschöpfsein) in dieser Welt gegeben ist, das kreatürliche Leid:

eine zerstörerische Krankheit, die Symptome dieser Krankheit, wie körperliche Schmerzen, doch häufig noch viel schmerzhafter: das Leiden an der eigenen Endlichkeit, das Leiden am Verlust und Tod eines geliebten Menschen, etwa in einer glücklichen Ehe, wenn einer vor dem anderen geht.

Alles zerbricht, größtes Leid geschieht - und keines Menschen Schuld ist gegeben:

es ist die Unmöglichkeit, sich in dieser Welt bleibend und sicher einzurichten, diese immerwährende Abschiedlichkeit, die Bewusstwerdung, in dieser Welt nie ganz zu Hause zu sein.

Was bleibt hier zu sagen? Zunächst: eine Reflexion dieser Frage und die Bereitschaft, dieser Wirklichkeit von Leid ins Auge zu sehen, sie ist nicht selbstverständlich und innerhalb der Medizin sehr neu. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt es geradezu als unethisch, einen Patienten etwa über eine schwere progrediente Erkrankung und bevorstehendes Leid überhaupt aufzuklären. Niemand könne eine solche Wirklichkeit ertragen! Man müsse den Kranken solange irgend möglich in Unkenntnis halten! In unserem professionellen Umfeld haben wir gelernt, dass es zu einer Konfrontation mit dieser Wirklichkeit und zu einem Sprechen in Wahrhaftigkeit keine Alternative gibt - aus vielen Gründen, die wir alle kennen.

Doch gesellschaftlich ist weithin das Gegenteil der Fall:

wenn heute außerhalb unserer Berufsgruppen viele 40- ja 50-Jährige noch nie einen Schwerstkranken gesehen oder gar in seinem Sterben begleitet haben (und deshalb gefühlsmäßig wirklich meinen, dass es Krankheit und Tod und gar Tote gar nicht gibt), wenn in den USA in manchen Städten tagsüber keine Leichenwagen fahren dürfen, um die Menschen nur nicht zu erinnern und zu beunruhigen, wenn auch in unseren Todesanzeigen von über 80-Jährigen so häufig steht: „Plötzlich und vollkommen unerwartet verstarb …”, so ist alles dies ein Ausdruck der Totalverdrängung der Wirklichkeit von Endlichkeit, von Krankheit, Sterben und Tod.

Die Werbeindustrie generiert in allen Facetten die Suggestion der Möglichkeit eines leidfreien und unbegrenzten Lebens - und auch die großen Erfolge der Medizin, so gut sie sind, sie schüren diese Illusion. Wir alle leben im Bewusstsein, unendlich zu leben. Eigene Endlichkeit ist zwar irgendwie ge-wusst, aber doch kaum be-wusst. Und oft ist es so, dass sich in der Konfrontation mit einer schweren Krankheit erstmals die Bewusstwerdung eigener Sterblichkeit und Endlichkeit ereignet. Er-eignis kommt sprachgeschichtlich von Er-äugnis: etwas gerät plötzlich sichtbar vor Augen. Und hier nun entsteht angesichts der bisherigen Lebensgeschichte häufig größte Ratlosigkeit, Trotz und Verzweiflung: die Medizin, die soviel kann, sie muss doch auch jetzt etwas machen können - da muss es doch etwas geben! Und dennoch bleibt und wächst die Unausweichlichkeit der Wirklichkeit von Krankheit und Leid - und unausweichlich stellen sich jene so lang vermiedenen Grundfragen, die weit über das hinausreichen, was uns normalerweise beschäftigt.

Es sind dann nicht mehr Fragen wie: Was tue ich heute Nachmittag? Wie sind die Blutwerte? Wann ist das nächste Computertomogramm? - sondern Grundfragen wie: Was wird mit mir überhaupt? Wie kann ich trotz schweren und unheilbaren Leids einen Weg sinnvoller Lebensgestaltung finden? Was ist, wenn ich ernst machen muss mit der Bewusstwerdung eigener Endlichkeit, die sich in schwerer Krankheit ankündigt? - und wenn vieles Erhoffte tatsächlich und schlimmer noch: endgültig unerfüllt bleibt?

Und immer stellt sich hier, am Leid, im Leid, unausweichlich, wollend oder nicht wollend, gläubig oder ungläubig die Frage nach der Religion, Re-ligio, das Zurückgebundensein an etwas anderes oder an jemand anderen - und alle großen Religionen haben hier Antworten versucht, die hier nicht alle entfaltet werden können. Hier in unserem Kulturkreis und dem der meisten unserer Patienten geraten wir häufig mitten hinein in das Denken der christlich-abendländischen Tradition. Unabhängig davon, ob Antworten christlicher Tradition für mich selbst annehmbar und erfahrbar geworden sind, sind sie doch im Denken und Bewusstsein vieler unserer Patienten und ihrer Familien präsent - bewusst oder unbewusst, im Guten, wie im Verzerrten, befreiend wie bedrohend.

Kaum eine Frage ist über Jahrhunderte hinweg drängender gestellt und diskutiert worden, als jene nach dem Grund des Leides und nach der Beziehung Gottes zum Leidenselend des Menschen.

Wie kann es sein, dass es so viel und so furchtbares Leid gibt, wo doch Gott gut und zugleich allmächtig ist?

Entweder ist er nicht gut - und will das Leid nicht beendigen.

Oder er ist nicht allmächtig - und kann das Leid nicht beendigen.

Zahlreiche Erklärungen sind versucht worden. Ein erster Versuch geht in folgende Richtung:

Könnte es nicht sein, dass das Leid Zeichen einer besonderen Zuwendung und Nähe Gottes ist? Leid als ein Mittel der Prüfung und Läuterung. Dies mag überraschen, doch in manchen frommen Schriften für Kranke und Leidende findet man dies. Da wird das Leid verglichen mit dem Messer des Chirurgen, das auch Schmerzen zufügt, aber dennoch heilt. Da ist die Rede vom „Segen der Krankheit” oder es heißt gar: „Gott lässt Sie jetzt Erfahrungen machen, um die wir Sie später beneiden!” Auch außerhalb jeder Religiosität gibt es ganz ähnliche Gedanken: „Da müssen Sie jetzt durch: wer weiß wozu das gut ist!” „Das ist nicht umsonst!” Und es gibt Sprichwörter wie: „Leiden müssen sein, sonst geht man nicht in den Himmel ein.” Die Klage gegen Leid ist fast schon Gotteslästerung. So heißt es in älteren Katechismen: „Woll' im Leiden niemals klagen, sondern immer still nur sagen: Jesus hat noch mehr getragen.”

Paradoxerweise erscheint in denselben Schriften für Kranke und Leidende oft ein genau entgegen gesetzter Gedanke: Leid nicht als Zeichen der Zuwendung und Nähe Gottes, sondern als Strafe für begangene Verfehlungen: Leid als Folge der Sünde. Auch außerhalb jeder Religiosität gibt es noch sehr viel häufiger ganz ähnliche Gedanken: „Womit habe ich das verdient? Was habe ich nur falsch gemacht?” Das alt-deutsche Wort Pein (etwas peinigt mich) und das englische Wort Pain (Schmerz) sind sprachgeschichtlich verwandt mit lateinisch Poena (die Strafe) - somit Schmerz und Pein ganz unmittelbar verstanden als Strafe für begangene Verfehlungen.

Alle diese einfachen und vorschnellen Antworten (Leid als Chance, Leid als Strafe) sind in höchstem Maße kritikwürdig und haben zu viel Unheil geführt. Was etwa ist mit dem unermesslich vielen Leid, das gar nicht aufbaut, prüft und läutert, sondern nur grausam zerstört? Und was vor allem ist mit dem Leid der vielen Unschuldigen, wie etwa der Kinder - wo alle diese einfachen Antworten, wenn sie dem Leidenden vorgetragen werden, so viel mehr peinlich schmerzen als hilfreich aufbauen?

Das heißt nun aber nicht, dass diese Antwortversuche ganz und immer falsch sind, dass sie keine Berechtigung haben. Es gibt die persönliche Erfahrung eines Leidenden, der sein Leid genau in diesem Horizont versteht und erfährt. Das ist auch wahr! Wenn Menschen, wenn Patienten, sagen:

Ja, erst durch dieses Leid bin ich zur Besinnung gekommen, ich lebe mein Leben ganz neu, Ja, Leid war für mich tatsächlich ein Mittel der Prüfung und Läuterung, Ja, erst durch die Krankheit habe ich gelernt, dankbar und im Frieden mit meinen Mitmenschen zu leben, wenn Menschen in ihrem Leid eine tiefe religiöse Dimension erfahren und etwa der vor kurzem verstorbene Papst gerade sein Leiden in größter Nähe zu Christus erfährt, wenn der Heilige Franziskus in seinem berühmten Sonnengesang gerade Krankheit und Tod als seine willkommensten Brüder preist -

so sind all dies bewegende Zeugnisse dafür, wie ein Mensch sein Leid besteht und deutet, aber eben sein Leid - und das heißt vor allem, dass diese Deutung, die ein Mensch seinem Leid gibt, eine relative Deutung ist, die eben nur gilt in Relation, in Beziehung zur ganzen Lebens- und Erfahrungsgeschichte dieses Menschen - und dass aus dieser Deutung eben kein System entworfen werden darf, das nun für jedes Leid Gültigkeit behauptet und jedem Leidenden klug vorgepredigt werden darf. Das ist falsch und verletzend und gibt, wie Hans Küng einmal sagte, einem Leidenden soviel wie einem Verhungernden eine Vorlesung über Lebensmittelchemie - wo es egal ist, ob Richtiges vorkommt, denn all' dies hat keinen Bezug zur Lebenswirklichkeit dieses Menschen.

Genau dies ist auch der Kern des biblischen Hiob-Buches: Hiob, der Prototyp des Leidenden, dessen Frau und alle Kinder erschlagen wurden und dessen Besitz verbrannte - erhält Besuch seiner Freunde, die ihm den Sinn seiner Leiden wortreich erklären. Und er jagt sie fort und ruft: „Ich kann euer Geschwätz nicht ertragen! - Fromme Quacksalber und Schwindelärzte seid ihr allesamt!” „Eure Sprüche sind Sprüche aus Staub!”

Erklärende Antworten können verletzen und haben darüber hinaus zu viel Unheil geführt: Wo alles Leid verstanden und mit Sinn versehen ist, da ist es nämlich auch folgerichtig, dass die Überwindung von Leid gar nicht mehr vorrangig interessiert. Ein in einer Ordnung verstandenes Leid ist in Ordnung! Religion als Opium für das Volk!

Auch führen vorschnelle Sinnantworten nur selten zu einer wirklichen Begegnung mit Gott, auch für den religiösen Menschen - Not lehrt eben nicht automatisch beten. Dorothee Sölle spricht vom sadistischen Gott. Nietzsche sagt: Die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass es ihn nicht gibt. Camus meint: Es ist besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt. Wolfgang Borchert spricht vom altersschwachen Gott und in der Erzählung „Draußen vor der Tür” sagt der nach dem Krieg heimkehrende Vater: „Lieber Gott, wann warst Du eigentlich mal lieb? Etwa, als mein Sohn von einer Bombe zerrissen wurde? … Ach ja, du hast es ja nur zugelassen. … Geh weg alter Mann, du hast auch Theologie studiert, du hast zuviel dünne Theologentinte im Blut - geh weg!” Die Philosophie spricht vom Leid als dem Fels des Atheismus. Und in der Tat, das Leid ist das ernsthafteste Argument des Atheismus.

Doch wenn Gott abgesetzt ist, ist dadurch ja weder irgendein Leid behoben, noch irgendeine Frage beantwortet. Ja, eigentlich sogar entsteht noch größere Ratlosigkeit: Ist der Protest gegen Leid nicht eigentlich nur dort sinnvoll und berechtigt, wo Leid als etwas erfahren wird, das nicht sein soll? Doch woher eigentlich nimmt aller Protest gegen Leid seine unbedingte Berechtigung, wenn nicht von Gott? Warum, aus welchem letzten Grund eigentlich sollte das Leid, vor allem das kreatürliche Leid, nicht sein? Levinas fragt: Warum eigentlich suchen wir unter einem leeren Himmel immer noch eine gute Welt? Also auch hier, auch in diesem Denken, kann Verzweiflung entstehen! Das Absetzen von Gott, oder sagen wir es allgemeiner: der Verzicht auf jede transzendentale und spirituelle Dimension, führt in der Leidfrage, führt angesichts unüberwindbaren Leids, nicht ein Stück weiter.

Blicken wir also noch einmal und in anderer Weise auf jene Dimension. Wenn beispielsweise Dietrich Bonhoeffer eben nicht in glücklichen Tagen, sondern gerade in größter Not schreibt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag - Gott ist mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag”, und wenn Kranke und Leidende heute mit ihm dies sprechen - so ist hier unzweifelhaft eine wirkmächtige Wirklichkeit gegeben.

Was aber ist es? Was können wir sagen?

Gerade um diese Dimension zu ermöglichen ist eine erste und wichtige Voraussetzung der tatsächliche Verzicht auf jede so häufig geübte theoretisch, spekulative Erklärung des Leids gegenüber dem Leidenden. Auch biblisch ist das ja so: So wären beispielsweise alle Erklärungen des Leids im Munde Jesu undenkbar. Nie hat er einem Leidenden gesagt: „Sie machen jetzt Erfahrungen, um die wir Sie später alle beneiden! Wer weiß, wozu das gut ist”. Nein, er hat sich dem Leidenden zugewendet und Leid behoben, sofort, sogar am Sabbat. Als die Jünger ihn vor einem Blindgeborenen fragten: Rabbi, wer hat eigentlich gesündigt: er oder seine Eltern? - da hat er die Frage schroff zurückgewiesen. Die Frage nach dem Grund des individuellen Leids, insbesondere des kreatürlichen Leids, bleibt unbeantwortet. Romano Guardini, der große Theologe der Nachkriegszeit, sagte einmal: wenn er einst vor Gottes Richterstuhl trete, und nach seinem Leben gefragt werde, dann werde auch er zunächst einmal eine Frage stellen: nämlich: „warum das Leid?” - und man kann hinzufügen: warum vor allem dieses kreatürliche Leid?

Doch es scheint, dass diese unbeantwortete Frage vielleicht doch nicht die tiefste Frage des Menschen ist. Was letztlich würde eine erklärende Antwort nützen? Vielmehr geht es doch darum, im Leid, trotz Leid, einen Weg zu ertasten: nicht Leid zu ver-stehen, sondern Leid zu be-stehen. Genau dies meint auch sprachlich das Wort vom ,Sinn‘ des Leides, besser vom Sinn im Leid trotz Leid. Sinn kommt sprachlich von „sentire”: etwas ertasten, mit den Sinnen erspüren, und meint nicht die Erklärung eines Leidenszweckes, sondern das Ertasten, Erschnüffeln, Erspüren eines Weges im Leid - trotz Leid. (idg. sent: eine Richtung suchen, einen Weg ertasten.)

Biblische Texte sagen folgendes:

Jesus selbst hat sein eigenes Leiden nie gepriesen oder gar gesucht. Vielmehr war sein Leben ein Kampf gegen Leid, der ihn jedoch in Leid brachte. Sein Leiden war ein Leiden aus dem Kampf gegen Leiden. Leid soll nicht sein. Wo immer er einem Leidenden begegnete, wandte er sich ihm helfend zu und machte das Ende des äußeren Leids zum Zeichen eines umfassenden Heilswillens Gottes. Wir denken uns einen Gott, der über allem thront, der verursacht und zulässt, straft und lobt und herrschet in alle Ewigkeit. Das hat jedoch nur wenig mit dem biblisch-christlichen Gott zu tun, der im Leidenden präsent ist, der in einer Krippe geboren wurde - wie Eli Wiesel in einem seiner Werke im Anblick eines Leidenden fragt: Wo eigentlich ist Gott? - und als Antwort erhält: Dort liegt er - präsent im Leidenden!

Die Grundfrage, die sich jedoch stellt, ist wie die Nähe Gottes, oder sagen wir es allgemeiner, wie die Erfahrung von Heil, im Leid geschehen kann. Martin Buber spricht von der Gottesfinsternis - wie die Sonne bei einer Sonnenfinsternis - präsent und dennoch gänzlich verstellt. Wie aber kann diese Gottesfinsternis, oder nennen wir es Heilsfinsternis, im Leid durchbrochen werden?

Ein erster Schritt kann dort geschehen, wo der Leidende sich und sein Leid ausspricht und Sprachlosigkeit überwindet. Im religiösen Kontext gibt es hier die Sprachform der Klage: die Klage gegen Gott an Gott. Jesus selbst hat am Kreuz nicht gerufen: Was Gott tut, das ist wohlgetan! - sondern: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? - der Beginn des großen Klagepsalms. Und es gibt bewegende Zeugnisse dafür, wie in der Klage des Leids Momente der Erinnerung und der Erfahrung von Nähe und Heil durchbrechen. So heißt es wenige Zeilen weiter in diesem Klagepsalm: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen - du aber hast mich geformt vom Mutterleibe an!

An einer Wand im Warschauer Getto, in dem Tausende ermordet wurden, fand man folgenden Text geschrieben: „Gott und Gott meiner Väter - Du hast alles getan, damit ich nicht an dich glaube - doch ich sage Dir: es wird dir nicht gelingen! Du kannst mich schlagen und mir das Beste und Teuerste nehmen, was ich auf Erden habe. Du kannst mich zu Tode peinigen - ich werde immer an Dich glauben - Dir selbst zum Trotz!” - wie anders ist dieser Text als jede fromme Erklärung des Leids! Einer meiner Lehrer verlor seine jüngste Tochter durch einen Unfalltod und drei Jahre später auch seinen Sohn. Und in der Todesanzeige schreibt er: „Drei Jahre nach dem Unfalltod unserer Tochter müssen wir auch unseren Sohn beerdigen.” Und über diese Sätze stellt er in der Todesanzeige die Worte aus dem Warschauer Getto: „Gott und Gott meiner Väter - Du hast alles getan, damit ich nicht an dich glaube - doch ich sage Dir: es wird dir nicht gelingen! Du kannst mich schlagen und mir das Beste und Teuerste nehmen, was ich auf Erden habe. Du kannst mich zu Tode peinigen - ich werde immer an Dich glauben - Dir selbst zum Trotz!” - wie anders ist dieser Text als jede fromme Erklärung des Leids!

Und ein zweiter Gedanke, der sehr nah in unseren Alltag hineinreicht, betrifft die hoffnungsstiftende, symbolmächtige Kraft jeder einzelnen leidüberwindenden Tat - und sei sie noch so bruchstückhaft, begrenzt und vorläufig. Hoffnung, das wissen wir in der Palliativmedizin, hat nur wenig zu tun mit der Dauer oder Verlängerung der Zeitachse der zu erwartenden Lebenszeit. Hoffnung hat vor allem und zutiefst zu tun mit der Überwindung der Angst, letztlich jener tiefsten Angst des Menschen, die immer Angst ist vor Beziehungsverlust. Angst ist sprachlich verwandt mit idg. ang - eng - Angina, das sich Zusammenschnüren, hier: das sich Zusammenziehen des Beziehungsfeldes. Letztlich ist unsere Grundangst die Angst vor dem radikalsten und unwiderrufbarsten Beziehungsverlust, welcher der Tod ist. In jeder Leidüberwindung, und sei sie noch so bruchstückhaft, kann eine Hoffnung auf Überwindung dieser Beziehungslosigkeit erwachsen, zunächst und vor allem im Leben, wie Cicely Sanders es formulierte: dass wir alles tun, dass du lebst, wirklich lebst, bis du stirbst: that you live, until you die! In allen Momenten der Leidüberwindung, ja ganz konkret hier in der Palliativmedizin in aller Zuwendung und Symptomkontrolle, kann diese Hoffnung wachsen. Auch im Bild vom Weltgericht am Ende des Matthäus-Evangeliums wird nirgends gefragt nach der oft unmöglichen Heilung der Kranken und Befreiung der Gefangenen, sondern „nur” nach dem immer möglichen Besuchen der Kranken und Gefangenen: „Wann habt ihr mich besucht?”

Und in der Erfahrung, dass Leid im Tun von Menschen zumindest zu enden beginnt, kann eine noch größere Hoffnung wachsen, eine Hoffnung über unsere irdische Jetzt-Zeit hinaus, eine Hoffnung, dass Zuwendung selbst dort nicht endet, wo der Mensch endet. Dies ist die mögliche spirituelle Dimension all unseres Tuns: mit Entschiedenheit das heute Mögliche tun, um in allem Pro-visorischen die Überwindung allen Leids wirklich voraus-zusehen, voraus-zuhoffen (pro-visorisch - voraus-sehend), oder, wie Simone Weil sagte: das Mögliche tun, um das Unmögliche zu berühren. Für den Leid-Tragenden ist ein Gehen in der Nacht der Dunkelheit vom Gehen in der Nacht der Blindheit innerlich wirklich verschieden, trotz gleicher Lichtlosigkeit - weiß doch der im Dunkeln Gehende, dass er zum Sehen bestimmt ist, und dass es das Licht gibt. Doch nur, wenn er auf Strahlen des Lichtes trifft, weiß er dies, dass er zum Sehen bestimmt ist und dass es das Licht gibt, ja in diesen Strahlen kann eine leidüberwindende Hoffnung beginnen, eine Hoffnung auf jenes ganze Heil, in dem „abgewischt wird jede Träne - und Nacht nicht mehr sein wird” (Offb 21).

Prof. Dr. med. Dipl.-Theol. Matthias VolkenandtVorstandsmitglied des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin der Universität München 

Dermatologische Klinik der Universität München

Frauenlobstraße 9

80337 München

Email: matthias.volkenandt@med.uni-muenchen.de

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