PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(3): 334-336
DOI: 10.1055/s-2005-866981
Im Dialog
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Wir brauchen die Psychiater!

Ein Plädoyer für eine verstärkte Zusammenarbeit in der niedergelassenen PraxisMichael  Broda
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Publication Date:
08 September 2005 (online)

Wenn man die (neuen?) Diskussionen zwischen PsychotherapeutInnen und Psychiatern auf der Ebene der berufspolitischen Auseinandersetzung betrachtet, so könnte man glauben, dass die Psych-Fächer seit Jahren einer Tradition der Selbstbeschädigung verpflichtet zu sein scheinen: Nach dem endlosen und z. T. fruchtlosen Streit um das PTG seit Mitte der 70er-Jahre, den polemischen Auseinandersetzungen therapeutischer Grundorientierungen in den Folgejahren, dem Auseinanderdriften von ambulanter und stationärer psychotherapeutischer Versorgung und den Kämpfen zwischen Krankenhauspsychosomatik und psychosomatischer Rehabilitation werden neue Grabenkämpfe gemeldet: Psychiatrie vs. Psychotherapie oder die sprechende Medizin vs. die biologistische Psychiatrie. Psychotherapie sei überflüssig - unterstellen die Psychotherapeuten den Psychiatern als Grundauffassung, eine Ignoranz biochemischer Vorgänge und der Forschung der Neurobiologie unterstellen Psychiater den Psychotherapeuten. Der in zunehmender Schärfe ausgetragene Disput wiederholt die Charakteristika der früheren Auseinandersetzungen unter den Psych-Fächern: Es gibt nur eine Wahrheit und die ist aufseiten der sich jeweils artikulierenden Gruppe (siehe auch dazu das Gespräch mit Klaus Grawe in PiD 2/2005).

Jedoch ist auch bei Berücksichtigung ökonomischer Verteilungskämpfe in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen der Kostenträger der Streit aus Sicht eines niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten nur peripher interessant: Es mag sein, dass manche Psychosomatik-Lehrstühle inzwischen den Begehrlichkeiten der Psychiater ausgesetzt sind - eine Entwicklung, die jedoch auch ein Licht auf die Politik der Psychosomatik-Abteilungen der letzten Jahrzehnte werfen könnte. In der Versorgung vor Ort spielt diese Kontroverse nicht nur keine Rolle, es soll vielmehr hier ein Plädoyer vertreten werden, das eine an den Bedürfnissen unseres Klientels orientierte Versorgung durch eine reibungslose und von gegenseitigem Respekt geprägte Kooperation der beiden Berufsgruppen fordert.

These 1: Wir brauchen bei den von uns psychotherapeutisch behandelten Störungsbildern auch eine gute pharmakologische Betreuung.

Im Gegensatz zur reichlich polemischen und standespolitisch motivierten Forderung eines psychologischen Berufsverbandes vor einigen Jahren („Psychotherapie statt Pillen”) kann es bei vielen Störungsbildern ein Kunstfehler sein, eine medikamentöse Therapie auszuschließen oder sie alternativ und nicht als ergänzend zu konzipieren. Nicht nur Erkrankungen aus dem Bereich der Psychosen, sondern auch schwere und schwerste depressive Erkrankungen, Zwangserkrankungen oder Angsterkrankungen sind ohne eine zumindest anfängliche pharmakologische Mitbehandlung psychotherapeutisch häufig kaum veränderbar. Dabei muss es uns Psychotherapeuten jedoch darauf ankommen, eine möglichst präzise und differenzierte pharmakologische Hilfestellung zu bekommen - die Hausärzte, die den Löwenanteil der Psychopharmaka verschreiben, sind hierbei oftmals überfordert. Wir brauchen pharmakologisch gut ausgebildete und weitergebildete Psychiater, die in Kenntnis unseres psychotherapeutischen Prozesses parallel die medikamentöse Behandlung übernehmen und überwachen.

Und wir brauchen die Bereitschaft von Psychotherapeuten, präzise nachzufragen, sich zu informieren und die Medikation nicht als Bedrohung oder als Alternative zu ihren eigenen Bemühungen zu verstehen.

These 2: Wir brauchen in vielen Fällen die ergänzende und/oder korrigierende diagnostische Einschätzung unserer psychiatrischen Kollegen.

Auch als langjährig in der psychotherapeutischen Versorgung Tätiger sind mir die diagnostischen Beurteilungen meiner psychiatrischen Fachkollegen oft eine nicht hoch genug einzuschätzende Hilfestellung. Psychiater blicken mit einem anderen Auge auf PatientInnen, ihnen fallen andere Merkmale auf und sie sehen Verhalten auf einem anderen wissenschaftlich-theoretischen und Erfahrungshintergrund. Auch bei allen PatientInnen, bei denen ich eine schizophrene Entwicklung nicht ausschließe und ich Bedenken bezüglich einer möglichen Begünstigung eines psychotischen Schubes durch eine psychotherapeutische Übungssituation habe, brauche ich die Einschätzung unserer psychiatrischen Kollegen für meine eigene Arbeit, aber auch zur Absicherung und zum Schutz der Hilfe suchenden PatientInnen.

These 3: Bei allen suizidalen Krisen ist die enge Kooperation mit Psychiatern unerlässlich.

Ich habe es zum Glück noch nicht erleben müssen, dass sich ein von mir betreuter Patient suizidiert. Auch bei aller klinischen Erfahrung bleibt die Unsicherheit, ob ich bei PatientInnen in Krisensituationen auch wirklich alle Hinweise auf- und ernst genommen habe. Wie oft war und bin ich mir in meiner Beurteilung bei Krisen von PatientInnen mit Persönlichkeitsakzentuierungen wie schizoid oder narzisstisch unsicher? Es ist unerlässlich, dort eine zweite Einschätzung zur Frage eines Beschlusses und eine fachpsychiatrische Absicherung zu bekommen. Ich möchte nie in eine Situation kommen, in der ich auf eine solche Absicherung verzichtet habe und sich ein Patient suizidiert (natürlich auch mit Absicherung nicht).

Im Zeitalter der elektronischen Kommunikation kommt es vereinzelt vor, dass ein Patient bei mir Termine nicht wahrnimmt, um sich danach mit suizidalen Äußerungen über E-mail mit mir in Verbindung zu setzen. Hier ist es für mich nur erleichternd, diese E-mail an meinen psychiatrischen Fachkollegen weiterleiten zu können und ihn zu bitten, die Frage des weiteren Entscheidungsbedarfs mit zu diskutieren. Es finden auch Absprachen mit psychiatrischen Fachkollegen statt: Wer momentan den einfacheren Zugang zu einem schwer gestörten Patienten hat - der übernimmt auch in nächster Zeit den Schwerpunkt der Versorgung.

These 4: Wir brauchen eine stationäre Psychiatrie mit einem psychotherapeutischen Angebot!

Zur Versorgung akuter Krisen brauche ich eine stationäre Versorgungsmöglichkeit, die schnell und unkompliziert, aber auch offen und kooperativ meinen PatientInnen zur Verfügung steht. So hilfreich mittelfristig die Angebote der psychosomatischen Rehabilitation sind, für eine schnelle und unbürokratische Versorgung stehen diese leider nicht zur Verfügung. Durch meine Supervisionen in den umliegenden psychiatrischen Versorgungskrankenhäusern habe ich Einblick in Arbeitsweise und Schwerpunkte, kenne die ärztlichen KollegInnen und kann dort Möglichkeiten, aber auch Grenzen für meine PatientInnen abschätzen. Dies gilt jedoch auch andersherum: Die einzelnen Stationen wissen, für welchen ihrer Patienten unsere Praxis ein sinnvolles Weiterbetreuungsangebot übernehmen kann und wer beispielsweise besser in einem Angebot mit Tagesstrukturierung aufgehoben ist. Auf diesen Stationen ist eine psychotherapeutische Fachkompetenz zentraler Bestandteil in der Beurteilung des weiteren Versorgungswegs der PatientInnen. Dabei halte ich es für weniger wichtig, ob in einem psychiatrischen Versorgungskrankenhaus intensiv Psychotherapie durchgeführt wird, sondern für entscheidender, dass Personen (vor allem PsychiaterInnen) in psychotherapeutischen Kategorien denken und somit auch entscheidend zur adäquaten Weiterversorgung im ambulanten Setting beitragen.

These 5: Wir brauchen Psychiater auch in der psychosomatischen Rehabilitation!

Es geschieht nicht selten, dass PatientInnen durch die Überforderung einer medizinischen Heilmaßnahme psychotisch dekompensieren oder anderweitig psychiatrische Auffälligkeiten zeigen. Wichtig ist hier psychiatrische Kompetenz, die sowohl in der Lage ist, eine Problematik rasch zu beurteilen als auch medikamentös zu versorgen. Doch auch bei der Erstellung des psychopathologischen Befundes und bei vielen differenzialdiagnostischen Überlegungen sind mir in meiner stationären Zeit die psychiatrischen FachkollegInnen immer eine große Hilfe gewesen.

Mit den o. g. Thesen möchte ich nicht den Standpunkt vertreten, dass letztendlich keine Interessensgegensätze zwischen den Berufsgruppen vorhanden seien. Ein ärztlicher Psychotherapeut hat sich bewusst für Psychotherapie und gegen Psychiatrie entschieden, ein psychologischer gegen Medizin und für Psychologie. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Konkurrenzdenken und Abgrenzungsdiskussionen vorhanden sind. Dem Patienten/der Patientin ist es in der Regel sehr nebensächlich, von wem er oder sie Hilfe bekommt. Wenn ein Medikament schnell und ohne gravierende Nebenwirkung hilft, ist eine Verabreichung angezeigt und eine Verweigerung problematisch. Wenn sich Psychotherapie lange und ohne sichtbare Veränderung hinzieht, wäre eine Gabe problematisch und eine Beendigung angezeigt. Dieser Satz lässt sich natürlich auch umkehren. Deswegen stellt sich die Frage, wie wir zu einem besseren Miteinander der Berufsgruppen innerhalb eines patientenorientierten Systems kommen. PsychotherapeutInnen sollten sich als „Fallmanager” verstehen, die auch eine koordinierende Funktion im Gesamtbehandlungsplan eines Patienten übernehmen könnten. Eine solche Sichtweise impliziert eine genaue und wertschätzende Analyse des Beitrags einer jeden Berufsgruppe zur psychischen Stabilisierung und/oder Gesundung eines Patienten, bespricht mit dem Patienten Schwerpunktsetzungen und wertet Erfahrungen im Hinblick auf durch einzelne Maßnahmen erhaltene Hilfestellungen aus.

Deshalb halte ich es für unerlässlich, eine offene und vertrauensvolle Kooperation mit unseren psychiatrischen KollegInnen herzustellen:

Jede/r zuweisende oder mitbehandelnde Arzt/Ärztin bekommt von uns nach dem Erstgespräch einen ausführlichen Brief mit der Diagnose, den jetzigen Beschwerden, der vegetativen Anamnese, relevanten Vorerkrankungen, Erkrankungen in der Familie, einer biografischen Anamnese und mit dem psychischen Befund. Dazu erläutern wir kurz ein mögliches Störungsmodell sowie mögliche therapeutische Ansätze. Durch dieses Vorgehen schaffen wir Transparenz, initiieren Kooperation und schaffen Voraussetzungen für Vernetzungen in der Behandlerkette. Ergänzt wird der Befundbericht durch telefonische Kontakte. Diese Kontakte verhindern häufig wenig Erfolg versprechende psychotherapeutische Anstrengungen. Die psychiatrischen KollegInnen kennen in der Regel ihre langjährigen PatientInnen sehr gut und können sehr wohl den Sinn und die Erfolgsaussichten einer (manchmal erneuten) Psychotherapie abschätzen. Gute Kooperation erleichtert die koordinierte Stellungnahme bezüglich einer Berentung, eines Antrags auf ein stationäres Heilverfahren, eines MdE-Grads, einer weiteren AU-Notwendigkeit oder gegenüber einem MDK. Ich habe hier noch kaum einen Fall erlebt, in dem eine abgestimmte Positionierung des Psychiaters und des Psychotherapeuten nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt hätte.

In einem Netzwerk psychosozialer Versorgungsangebote haben standespolitisches Denken und Partialinteressen keinen Platz. Die Vernetzung fängt im Denken an und nicht auf der Ebene der Fach- oder Berufsverbände. Sie ist die große Chance zu einer besseren Patientenversorgung in Zeiten der restriktiven Mittelverteilung im Gesundheitswesen: In Versorgungssystemen denkende KollegInnen sehen mehr als nur ihren individuellen Patienten mit einem individuellen Behandlungsziel, das nur und ausschließlich über eine intensive Einzeltherapie erreichbar ist. Sie sehen ein Versorgungssystem, das einerseits eine Hilfestellung in aufeinander abgestimmten Behandlungsmodulen bietet, andererseits auch die Gefahr beinhaltet, durch die unkoordinierte Verabreichung zu Wechselwirkungen und zur Ressourcenverschwendung zu führen. Unsere Aufgabe ist es, die erste Systemkomponente auszubauen und die zweite eher zu vermeiden.

Korrespondenzadresse:

Dr. Michael BrodaDipl.-Psych. 

Praxisgemeinschaft Psychotherapie

Pirmasenser Straße 23 a

66994 Dahn

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