Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73(9): 493-494
DOI: 10.1055/s-2005-870970
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Argyrophile Granula - Substrat einer neuen Demenzerkrankung?

Argyrophilic Grains - Substrate of a New Dementing Illness?K.  Schmidtke1
  • 1Neurogeriatrie- und Memory-Ambulanz, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie Freiburg, Universitätsklinikum Freiburg
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Publication Date:
12 September 2005 (online)

Die Pathophysiologie degenerativer ZNS-Erkrankungen ist nur zum geringen Teil aufgeklärt, und ihre nosologischen Beziehungen sind vielfach unklar. Klinisch und neuropathologisch finden sich immer wieder Fälle, die in kein Schema passen. Klinisch unterschiedliche Demenzerkrankungen können gemeinsame Merkmale aufweisen, z. B. Neurofibrillenbündel, ballonierte Neurone oder Tau-positive Einschlusskörperchen. Ungekehrt können klinisch ähnliche Erkrankungen, etwa aus der Gruppe der Frontotemporalen Demenzen, eine erhebliche pathologische Variabilität aufweisen.

Argyrophile Granula (ArG) sind ein pathologisch definiertes Merkmal, dessen klinische Signifikanz bislang unzureichend geklärt ist. Sie wurden in verschiedenen Autopsieserien bei etwa 5 - 10 % der Fälle beobachtet, von denen etwa die Hälfte zu Lebzeiten unter einer Demenz litt. ArG sind spindel-, komma- oder stäbchenförmige Aggregate in Fortsätzen von Nervenzellen. Sie wurden erstmals von Braak und Braak beschrieben, unter anderem bei 8 Autopsien von Demenzkranken ohne sonstige relevante Veränderungen des Gehirns [1]. ArG finden sich, z. T. in hoher Dichte, in limbischen Hirnrindenarealen, einschließlich des Hippocampus und angrenzender mediobasaler und neokortikaler Areale des Schläfenlappens, in der Insel, der Amygdala und in Neuronen des Hypothalamus [2]. Andere Hirnregionen sind nur in Einzelfällen befallen. ArG können, wie andere feinste Strukturen im Nervengewebe, mit Versilberungstechniken sichtbar gemacht werden, vor allem aber mit immunhistochemischen Verfahren.

Tau ist ein Stützprotein der Mikrotubuli, das in Varianten mit 3 oder 4 repeats der Aminosäuresequenz vorkommt, die an die Mikrotubuli bindet (3R- und 4R-Tau). ArG bestehen überwiegend aus Aggregaten von hyperphosphoryliertem 4R-Tau [3]. Immunhistochemisch finden sich Ähnlichkeiten, aber keine weitgehende Übereinstimmung mit den Neurofibrillenbündeln der Alzheimer-Krankheit. Warum und wie ArG sich bilden ist unbekannt. Eine familiäre Belastung oder eine Mutation des Tau-Gens besteht nicht.

ArG sind häufig, aber nicht immer mit Alzheimer-typischen Neurofibrillenbündeln in geringer bis mäßiger Dichte vergesellschaftet. Dies und das limbische Verteilungsmuster, der Aufbau aus hyperphosphoryliertem Tau-Protein und die Lokalisation innerhalb der Nervenzellen scheinen nahe zu legen, dass eine Beziehung zwischen Alzheimer-Demenz (AD) und ArG besteht. ArG zeigen andererseits keine Amyloidplaques, welchen in Dichte und Aufbau denen der AD entsprächen, und sind auch nicht mit dem ε4-Allel des Apolipoproteins E assoziiert. ArG treten fernerhin auch als begleitendes Merkmal anderer Demenzerkrankungen auf, vor allem der 4R-Tauopathien Progressive Supranukleäre Parese und Corticobasale Degeneration. Diese haben mit ArG auch gemein, dass zusätzlich Tau-positive Einschlüssen in Gliazellen auftreten. Damit ist zunächst unklar, ob ArG eine Variante der Alzheimer-Pathologie, ein Merkmal verschiedener degenerativer Erkrankungen oder aber eine eigene Entität darstellen. Von neuropathologischen Arbeitsgruppen werden ArG als Korrelat einer eigenständigen Demenzerkrankung und neue Tauopathie des höheren Lebensalters beschrieben: Argyrophilic Grain Disease oder Silberkornkrankheit.

Lang u. Mitarb. fassen in dieser Ausgabe das Wissen über Pathologie und Klinik der ArG zusammen. [4] Sie vertreten die Auffassung, dass eine eigenständige Demenz mit ArG existiert, aber auch, dass ArG bei Anwesenheit anderer Pathologien die Schwelle zur klinischen Manifestwerdung einer Demenz senken können. Es ist kaum zu bezweifeln, dass Fälle mit Demenz und isolierter oder im Vordergrund stehender ArG-Pathologie vorkommen - soweit Ursachen einer Demenz überhaupt morphologisch und post mortem fassbar sind. Interessant ist eine Fallserie, in der ein Zusammenhang zwischen der Dichte von ArG und dem Auftreten einer Demenz bestand [5]. Es bleibt unklar, ob ArG selbst zur Funktionsstörung und Destruktion von Neuriten führen oder ob sie ein Epiphänomen darstellen, und unter welchen Bedingungen sie zu kognitiven Störungen führen. In einem Gutteil der Fälle, bei denen ArG gefunden wurden, war zu Lebzeiten keine Demenz bekannt. Grundsätzlich ist auch zu fragen, inwieweit eine Veränderung, die auf Teile des Temporallappens beschränkt bleibt, für eine Demenz verantwortlich gemacht werden kann. Andererseits sind ArG sicher kein regelmäßiger, mit dem normalen Altern einhergehender Befund. Sie stellen somit ein Merkmal von beschränkter Spezifität dar, das mit Demenz einhergehen kann, aber in einem Teil der Fälle einen eher begleitenden Befund darstellen dürfte.

Die klinische Verdachtsdiagnose bei Demenzpatienten mit alleiniger ArG-Pathologie war meist M. Alzheimer oder Frontotemporale Demenz (FTD). Motorische Defizite und markante klinische Besonderheiten sind nicht bekannt. Passend zum limbischen Befallsmuster werden Störungen des Gedächtnisses, des Verhaltens, der Persönlichkeit und der emotionalen Sphäre beschrieben, und unter dem Begriff „limbische Demenz” zusammengefasst. Die klinische Diagnose einer ArG-assoziierten Demenz ist bislang nicht möglich. Von Interesse und vielleicht auch diagnostischer Relevanz ist, dass eine globale und temporo-mediale Atrophie in der Regel fehlt oder nur gering ausgeprägt ist [5] [6]. Dies steht im Gegensatz zur AD, die stets mit einer Hirnatrophie einhergeht, vor allem jenseits des frühen Stadiums [7].

Lang u. Mitarb. stellen in ihrem Beitrag einen eigenen, gut dokumentierten und autoptisch verifizierten Fall vor. Hier hatten Klinik und SPECT eine FTD vermuten lassen. Post mortem fanden sich neben den ArG eine ungewöhnlich deutliche frontale Atrophie, aber auch Lewy-Körperchen und eine geringfügige Alzheimer-Pathologie. Der Fall hebt sich auch in Bezug auf den eher „frontal” als „limbisch” erscheinenden Demenztypus ab. Ob die ArG allein für die Atrophie verantwortlich waren oder möglicherweise eine FTD ohne histologische Charakteristika hinzutrat, muss offen bleiben.

Der beschriebene Fall zeigt, dass Diagnose und nosologische Einordnung von ArG-assoziierten Demenzsyndromen bislang schwierig sind. Die Entdeckung der ArG verdeutlicht auch, dass Demenzsyndrome vieldeutiger sind als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und dass eine genaue Untersuchung stets angezeigt ist. Ein Vergleich mit der Lewy-Körperchen-Erkrankung drängt sich auf: auch diese Erkrankung wurde erst in jüngerer Zeit definiert, und betroffene Patienten erhielten zuvor wohl nicht selten Diagnosen wie „AD mit extrapyramidalen Symptomen”, „AD mit psychotischen Symptomen” oder „Parkinson-Demenz-Komplex”. Generell wäre es wünschenswert, dass Ärzte sich stärker für die Durchführung von Autopsien bei Verstorbenen mit degenerativen Erkrankungen einsetzen. Wenn es für die Angehörigen leichter zu akzeptieren ist, kommt stets auch eine Hirn-Teilsektion infrage. Weitere gut dokumentierte Einzelfälle und klinisch-pathologische Fallserien sind erforderlich, um das Spektrum der ArG-assoziierten Krankheitsbilder zu bestimmen. Erst wenn Diagnosekriterien aufgestellt sind, kann auch das Ansprechen auf verfügbare Therapien geprüft werden.

Literatur

  • 1 Braak H, Braak E. Argyrophilic grains: characteristic pathology of cerebral cortex in cases of adult onset dementia without Alzheimer changes.  Neuroscience Letters. 1987;  76 124-127
  • 2 Jellinger K. Dementia with grains (Argyrophilic Grain Disease).  Brain Pathology. 1998;  8 377-386
  • 3 Togo T, Sahara N, Yen S. Arhyrophilic grain disease is a sporadic 4-repeat tauopathy.  J Neuropathol Exp Neurol. 2002;  61 547-556
  • 4 Lang C JG, Dworak O, Roggendorf W. Demenz mit argyrophilen Granula.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2005;  73 495-503
  • 5 Botez G, Schulzt C, Ghebremedhin E, Bohl J, Braak E, Braak H. Klinische Aspekte der „argyrophilic grain disease”.  Nervenarzt. 2000;  71 38-43
  • 6 Tolnay M, Clavaguera F. Argyrophilic grain disease: A late-onset dementia with distinctive features among tauopathies.  Neuropathology. 2004;  24 269-283
  • 7 Pantel J, Schönknecht P, Essig M, Schröder J. Neuropsychologische Korrelate zerebraler Atrophie bei der Alzheimer-Demenz.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2004;  72 192-203

Prof. Dr. Klaus Schmidtke

Neurogeriatrie- und Memory-Ambulanz, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie Freiburg, Universitätsklinikum

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