Balint Journal 2005; 6(3): 92-93
DOI: 10.1055/s-2005-873107
Tagungsbericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die psychotherapeutische Klinik - ein Treibhaus voller Interpretationsimperialisten?

S. Häfner1
  • 1Tübingen
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Publication Date:
23 September 2005 (online)

Im Rahmen der 25. Süddeutschen Balint-Studientagung in Würzburg vom 24.11.-28.11.2004 fand am Freitag, 26.11.2004 abends ein Round-Table-Gespräch zum Thema „Methodenvielfalt und Beziehungstherapie in der klinischen Psychotherapie” statt, moderiert von Johann Eichfelder (Würzburg) und eingerahmt von den Bildern von Wolfgang und Wiltrud Kuhfuss. Eingangs warf Eichfelder die Frage auf, wie man therapeutisch wirken könne, ohne die methodischen Fragen außer Acht zu lassen. Anschließend hatte jeder Podiumsteilnehmer die Gelegenheit, seine Einrichtung vorzustellen.

Margit Venner berichtete von ihren Erfahrungen in der Abteilung für internistische Psychotherapie des Universitätsklinikums Jena. Das Stationskonzept wurzelt im Göttinger Modell von Heigl und der intendierten psychodynamischen Gruppentherapie von Höck. Behandelt werden Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen und zum Teil sehr schweren Organdestruktionen. Das Jenaer Modell beinhaltet die Abfolge ambulante Vorbehandlung - stationäre Therapie - ambulante Weiterbehandlung. Acht bis elf Patienten werden in geschlossenen Gruppen behandelt. Dabei nehmen Wandern und Sport einen breiten Raum ein. Ein weiteres Spezifikum ist die Selbstversorgung bei den Mahlzeiten.

In der Abteilung Rehabilitation der Psychosomatischen Klinik in Bad Neustadt/Saale, geleitet von Rudolf J. Knickenberg, befinden sich die Patienten im Durchschnitt für 38 Tage, fühlen sich aber häufig „geschickt”. Es findet eine integrative Therapie mit verhaltenstherapeutischen und tiefenpsychologischen Behandlungselementen statt. Die Patienten werden angehalten, ein Therapietagebuch zu schreiben. Auf der Basis eines psychodynamischen Ansatzes gibt es zusätzlich indikative Gruppen für Tinnitus- und Schmerzpatienten. Diese sind aus der Stationsgemeinschaft herausgelöst, eine Situation, die auch für Therapeuten nicht immer einfach ist.

Michael Hölzer berichtete von der Sonnenbergklinik, einer psychoanalytischen Klinik in Stuttgart. Es handelt sich um ein Plankrankenhaus mit 102 Betten, wobei 50 Betten für die regionale Versorgung bereitstehen. Das Spektrum reicht von kurzen Therapien und der Basisversorgung bis zur Therapie massiver Borderlinestörungen. Die Klinik gliedert sich in 14 kleine Abteilungen, die jeweils aus einem Kernteam mit Abteilungsleiter, Bezugsschwestern, Spezialtherapeuten und Sozialarbeitern bestehen. Für alle Patienten steht auch ein „Körperarzt” zur Verfügung. Zudem gibt es störungsspezifische Angebote. Zwei- bis dreimal pro Woche trifft sich das Kernteam für ein- bis eineinhalb Stunden. In diesem Zusammenhang erinnerte Hölzer daran, dass eine Expositionsbehandlung bereits 1895 von Freud empfohlen wurde. Hölzer benannte als Risiken und Nebenwirkungen ein fehlendes Arbeitsbündnis, mangelnde Integration (und „Ausspucken”), die Gefahr der malignen Regression und die Sektorengrenzen zwischen stationär und ambulant. Mit einer mittleren Verweildauer von 90 Tagen bestehe eine „luxuriöse Situation”. Es gelinge allerdings selten, die Patienten in eine ambulante Therapie weiterzuvermitteln.

Askan Hendrischke stellte die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin des Ostalb-Klinikums Aalen vor, einer Klinik mit 18 Betten an einem Allgemeinkrankenhaus mit 450 Betten. Hier werde allgemein der so genannte „Landschwabe” behandelt, zum Teil bestehe aber auch ein überregionaler Einzugsbereich. Das Patientengut ist gemischt, wobei ein Schwerpunkt bei Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen liegt. Es handelt sich um eine Akutklinik mit einer Regelwartezeit von zwei bis drei Wochen. Im Durchschnitt beträgt die Liegezeit 39 Tage und reicht von einer Aufenthaltsdauer von wenigen Tagen bis zu zehn bis zwölf Wochen. Es besteht ein flexibles Zeitgitter. Am Anfang der Behandlung steht ein Zielinterview mit dem Patienten. Auch wird großes Gewicht auf Edukation, Ressourcenaktivierung und die Einbeziehung der Familien, die im ländlichen Bereich noch in Kohäsion leben, gelegt. Körpertherapie und Psychotherapie sind nicht getrennt. Es gibt ein System der Bezugspflege. Im Brustzentrum des Klinikums wird auch psychoonkologisch gearbeitet. Morgens und mittags finden halbstündige Teamsitzungen statt, externe Supervision alle 14 Tage. Es besteht zudem die Möglichkeit, die Patienten ambulant nachzubehandeln. Die Patienten werden angehalten, einen Lebensbericht zu schreiben. Wesentliches Ziel ist es, von der Handlungsorientierung wegzukommen hin zu einer reflexiven Haltung. So kann es vermieden werden, dass Patienten zum Beispiel nochmals ein NMR bekommen und erneut auf den Kopf gestellt werden.

Christian Ehrig von der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee stellte eingangs die Frage, wo sich Balint heute einordnen würde. In dieser Klinik werden auf 14 Stationen 370 Patienten behandelt, wobei für Bayern ein Behandlungsauftrag besteht. Es wird das komplette Therapiespektrum der Verhaltenstherapie außer Flooding angeboten. Dabei handle es sich um eine stringente Verhaltenstherapie. Auch Achse I-Störungen nach DSM würden behandelt. Die Borderline-Therapie erfolge nach dem Konzept von Linehan. Insgesamt werde ein methodenübergreifender Ansatz gepflegt.

In der anschließenden, lebhaft geführten Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob stationäre Psychotherapie ein Selbstbedienungsladen sei oder eine Klinik mit vorgeschriebenem Stundenplan? Dabei vertrat Hölzer die Ansicht, dass 20 bis 25 Stunden Psychotherapie pro Woche kein Mensch aushalten könne und verglich Therapeuten mit hochgezüchteten Rennpferden, so dass auch ein „Treibhaus mit Interpretationsimperialisten” entstehen könne. Er wies darauf hin, dass eine Klinikaufnahme auch einen Zumutungscharakter hat. Dennoch ist die Gruppe der Mitpatienten sehr wichtig. Venner ergänzte, dass Patienten in der Tat 24 Stunden Therapie am Tag machen würden und dass die Patienten insgesamt sieben Wochen zusammen in einer Gruppe miteinander verbringen würden. Es handele sich um Patienten mit einem inneren Chaos, die froh seien, wenn sie Grenzen gesetzt bekämen. Sie wies auf Nachuntersuchungen ein, drei und fünf Jahren nach Therapie hin, die belegen, dass sich 80 % gut gebessert haben. Die Patienten befinden sich zum Teil in Grenzzuständen (Magersucht, Colitis-Patienten). Einmal pro Woche finde eine Hausgruppe statt, bei der die Patienten außen sitzen. Knickenberg berichtete ergänzend über gute Erfahrungen mit abendlichen Treffen, bei denen die Patienten den Tag Revue passieren lassen können. Positiv bewertet werde auch das Konzept der Patenpatienten für neu aufgenommene Patienten.

Ernst R. Petzold erinnerte daran, dass man früher in Balint-Gruppen keine Patienten vorstellen durfte, wenn man den Patienten nicht körperlich untersucht hatte. In Jena ist es so, dass der Therapeut nicht selbst den Patienten untersucht. In Bad Neustadt/Saale wird bei Aufnahme und Entlassung eine körperliche Untersuchung durchgeführt. Besonderer Wert werde auf konsiliarische Untersuchungen gelegt, um unerkannte körperliche Erkrankungen herauszufinden. Hölzer sah auch Vorteile, wenn nicht der behandelnde Therapeut untersucht, da durch diese Vorgehensweise die Intimitätsgrenzen besser gewahrt werden können. Hendrischke gab allerdings zu bedenken, dass es auch Aufgabe der Psychosomatik sei, Dinge zusammenzuführen; Grenzen hierfür gebe es aber bei einer Missbrauchsproblematik. Er ergänzte, dass die Schwestern eine ausführliche Pflegeanamnese erheben würden. Auch Ehrig sah es als große Integrationsleistung an, gleichzeitig als internistischer Oberarzt und psychotherapeutischer Leiter der Station zu fungieren.

Angeregt durch Eichfelder entwickelte sich noch eine Diskussion um den Umgang mit Spaltungsprozessen, die auch Hölzer als ein Kernproblem ansah. Knickenberg berichtete über gute Erfahrungen mit einem hauptamtlichen Supervisor, der zwar an der Klinik angestellt, aber nicht weisungsgebunden ist. Dabei sei die gegenseitige Wertschätzung aller Beteiligten von besonderer Wichtigkeit.

Hölzer plädierte noch für integrierte Versorgung. Auf der „rauen Ostalb” sind auch für Hendrischke die vielen Kontakte zu Hausärzten das A und O, zumal es für die Versorgung von rund 70.000 Einwohnern in Aalen nur drei Psychologen und zwei Nervenärzte gebe. Traditionell würden die Patienten zu Hausärzten gehen. Deshalb würden auch gemeinsame klinische Visiten Samstag morgens und Mittwoch nachmittags angeboten, damit die Sektoren nicht getrennt bleiben. Auch beim Aufbau eines Netzwerks für Essstörungen habe man seit zwei Jahren die Erfahrung gemacht, dass persönliche Kontakte wichtig sind. Positiv werde auch das Angebot von Intervalltherapien nach einem halben Jahr aufgenommen.

Ehrig unterstrich die Bedeutung der poststationären Anbindung im ambulanten Bereich. In einer eigenen 18-Jahres-Nachuntersuchung bei Essstörungspatienten (Anorexie-, Bulimie-, Binge-eating-Patienten) waren die Verläufe bei denjenigen am schlechtesten, die keine Nachbetreuung hatten. Für die Präsentation der Klinik haben sich auch Kongresse als hilfreich erwiesen. Auch für Hölzer ist es ein Anliegen, die Klinik für niedergelassene Kollegen zu öffnen, weil sonst Beziehungsabbrüche vorkommen. Er rät, sich hier nicht von bürokratischen Hindernissen abhalten zu lassen. In Jena wird das Modell angeboten, dass niedergelassene Hausärzte einen Tag in der Woche auf der Station hospitieren können, wodurch sich viele gute Kontakte entwickelt hätten. Ein Teilnehmer aus dem Auditorium berichtet von guten Erfahrungen, wenn der einweisende Arzt den Patient in die Klinik bringt und bei der Entlassung wieder abholt. Positiv könne auch eine ambulante Therapie parallel zur tagesklinischen Behandlung sein. Allerdings sollte dies auch finanziert werden, denn - so Hölzer - die ökonomische Ressourcen sind natürlich begrenzt und Beziehung müsse auch finanziert werden, sonst bleibe es ein unbezahltes Hobby.

Dr. med. Steffen Häfner, geb. 1963, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Naturheilverfahren. Oberarzt an der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Psychosomatische Versorgungsepidemiologie, Mobilitätsforschung

Dr. med. Steffen Häfner

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