PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(1): 73-78
DOI: 10.1055/s-2005-915423
Aus der Praxis
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Die Kindheit von Psychotherapeuten: frühe Erfahrung und Berufswahl

Wolfgang  Schmidbauer
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Publication Date:
23 February 2006 (online)

Zusammenfassung

Aufgrund von Berichten über die Kindheit prominenter Psychotherapeuten und eigener Erfahrungen aus Lehranalysen untersucht der Autor die Zusammenhänge zwischen Kindheitsschicksal und Berufsmotivation. Er entwickelt dabei ein nichtlineares Modell, die „Motivkaskade”, in der ursprüngliche Kompensationen aufgrund späterer Erfahrungen transformiert werden. Während das gesammelte Material belegt, dass die u. a. von Heinz Kohut formulierte These einer Kompensation früher narzisstischer Traumen durch eine Überentwicklung von Empathie zutrifft, scheint es keine spezifischen, in einer Mehrheit der Therapeutenkindheiten nachweisbaren Merkmale zu geben, die eine Abgrenzung gegenüber mittelgradigen bis leichten narzisstischen Störungen erlauben. Insgesamt ist die Dynamik eines durch Intellektualisierung und Überentwicklung der Empathie spezifisch geprägten Helfersyndroms ein brauchbares Modell, um den Zusammenhang zwischen Kindheitssituation und Berufswahl besser zu verstehen.

Literatur

  • 1 Bergmann M S. Orthodoxie und Schulenstreit in der Psychoanalyse - die Ideologisierung von Freuds befreiendem Gedankengut. In: Kernberg OF, Dulz B, Eckert J (Hrsg) Wir: Psychotherapeuten über sich und ihren „unmöglichen Beruf”. Stuttgart; Schattauer 2005: 12-25
  • 2 Cremerius J. Vom Handwerk des Psychoanalytikers: das Werkzeug der psychoanalytischen Technik. Bad Cannstatt; Frommann 1990
  • 3 Freud S. „Selbstdarstellung”. Gesammelte Werke Bd. XIV. 1925
  • 4 Freud S. „Die Frage der Laienanalyse”. Gesammelte Werke Bd. XIV. 1926
  • 5 Freud E L (Hrsg). Brautbriefe. Frankfurt; Fischer 1968
  • 6 Freud S, Ferenczi S. Briefwechsel 1908 - 1911. Band I/1. Wien; Böhlau Verlag 1993
  • 7 Kernberg O F, Dulz B, Eckert J (Hrsg). Wir: Psychotherapeuten über sich und ihren „unmöglichen Beruf”. Stuttgart; Schattauer 2005
  • 8 Kohut H. Narzissmus. Frankfurt; Suhrkamp 1971/1973
  • 9 Kohut H. Die Heilung des Selbst. Frankfurt; Suhrkamp 1977/1979
  • 10 Miller A. Das Drama des begabten Kindes. Frankfurt; Suhrkamp 1978
  • 11 Schmidbauer W. Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek; Rowohlt 1977/1992
  • 12 Schmidbauer W. Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe. Reinbek; Rowohlt 1983/1990
  • 13 Gay P. Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt; Fischer 1987/1989
  • 14 Schmidbauer W. Eine Kindheit in Niederbayern. Reinbek; Rowohlt 1987
  • 15 Schmidbauer W. Wenn Helfer Fehler machen. Liebe, Missbrauch und Narzissmus. Reinbek; Rowohlt 1997
  • Weiterführende Literatur:

1 S. Freud. Selbstdarstellung. In: Ges. W. XIV, S. 34

2 S. Freud. Nachwort zur „Frage der Laienanalyse”. In: Ges. W. XIV, S. 290f.

3 Brief an Eduard Silberstein nach Freuds England-Reise im Jahr 1875

4 28.8.1883, zit. n. E. L. Freud 1968, S. 35

5 „Dass ich kein Bedürfnis nach jener vollen Eröffnung der Persönlichkeit mehr habe, haben Sie nicht nur bemerkt, sondern auch verstanden und auf seinen traumatischen Anlass richtig zurückgeführt. Warum haben Sie sich also dabei versteift. Seit dem Fall Fließ, mit dessen Überwindung sie mich gerade beschäftigt sahen, ist dieses Bedürfnis bei mir erloschen. Ein Stück homosexueller Besetzung ist eingezogen und zur Vergrößerung des eigenen Ichs verwendet worden. Mir ist das gelungen, was dem Paranoiker misslingt. - Nehmen Sie noch hinzu, dass ich zumeist weniger wohl war, mehr unter meinen Darmbeschwerden gelitten habe, als ich eingestehen wollte, und mir oftmals vorhielt: Wer seines Konrads nicht besser Herr ist, soll eigentlich nicht auf Reisen gehen. Damit hätte die ,Aufrichtigkeit‘ beginnen müssen, und Sie schienen mir nicht gefestigt genug, um nicht in Übersorgen zu verfallen.” (Freud u. Ferenczi I/1, S. 312f., Brief Freuds vom 6.10.1910)

6 Dieses Vorgehen entspricht auch den Hinweisen Freuds über die „gleichschwebende Aufmerksamkeit”, in der ein Analytiker verweilt, bis sich das vom Analysanden berichtete Material in seinem Bewusstsein organisiert und er eine Deutung findet.

Korrespondenzadresse:

Dr. Wolfgang Schmidbauer

Ungererstraße 66

80805 München

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