Balint Journal 2005; 6(4): 97-107
DOI: 10.1055/s-2005-916203
Medizin und Kultur
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Wider den „Atheismus” Freuds - Viktor v. Weizsäcker als Lebensphilosoph

M. Bormuth1
  • 1Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen
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Publication Date:
29 December 2005 (online)

Zusammenfassung

Viktor von Weizsäcker (1886 - 1957) entwickelte seine Psychosomatik in enger Anlehnung an die Psychoanalyse. Allerdings stand er in Opposition zu Freuds Religionskritik, die 1927 unter dem Titel „Die Zukunft einer Illusion” erschien. 1933 empfahl v. Weizsäcker den Essay zur nationalsozialistischen Bücherverbrennung. Nach dem Krieg setzte er sich wieder bedingt für die psychoanalytische Theorie an der Universität Heidelberg ein. Jedoch kritisierte er in der Tradition Nietzsches die rein aufklärerisch-rationale Tendenz der Psychoanalyse. In der Perspektive seiner Lebensphilosophie wird die ambivalente Einstellung untersucht, die v. Weizsäcker zur medizinischen und kulturellen Theorie Freuds einnahm. Zudem wird sein gespanntes Verhältnis zu Freud in die ideenhistorischen Bezüge gesetzt, die sich über Nietzsche hinaus zur Erkenntnistheorie Immanuel Kants ergeben. Abschließend erfolgt ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen Positionen von Freud und von v. Weizsäcker im Blick auf die kulturwissenschaftliche Entwicklungstheorie von Giambattista Vico.

Abstract

Viktor von Weizsäcker developed his theory of psychosomatics in close reception of psychoanalysis. Though he stood in opposition towards the criticsm of religion which Freud published in his essay „The Future of an Illusion” by the year of 1927. In 1933 Weizsäcker recommended the work to be burnt by NS-regime. After the war he was engaged in the psychoanalytical foundation of psychotherapy at Heidelberg University. However, in the tradition of the philosophy of Nietzsche, he was critical of the pure rational tendency of psychoanalysis. In the perspective of his philosophy of life the ambivalent attitude is examined, which v. Weizsäcker shows towards the medical and cultural theory of Freud. Furthermore his tense relation to Freud and his theory is put into the relation which exists to the epistemology of Immanuel Kant. Finally the different positions of Freud and of v. Weizsäcker are compared with the theory of cultural development by Giambattista Vico.

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1 [21] Der Wissenschaftstheoretiker Adolf Grünbaum untersucht detailliert, inwieweit Freud den von ihm selbst postulierten Normen der induktiven Forschung nachkam. Allerdings bedeuten die offensichtlichen Selbstwidersprüche, in die sich Freud verstrickt, nicht, dass das hermeneutische Recht der Psychoanalyse, die auch nach Jürgen Habermas einem Selbstmissverständnis als Naturwissenschaft unterliegt, damit hinfällig wäre [19].

2 Zur Geschichte der Übersetzung und ihrer kulturwissenschaftlichen Bedeutung für die Philologie [22].

3 Da sein Neffe Carl-Friedrich v. Weizsäcker 1947 ein Nachwort zu Vicos Schrift „Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung” schrieb, in dem er ihn als „Antipoden des Rationalismus” darstellte, scheint es gut möglich zu sein, dass Viktor v. Weizsäcker von Vicos „Neuer Wissenschaft” wußte. In dem Buch widmet sich Vico unter anderem der „ärztlichen Wissenschaft”, unterstreichend, dass im modernen Rationalismus die antike Aufmerksamkeit für die vitalen Bezüge „zwischen den Krankheiten des Körpers und der Seele” verloren gegangen sei. Vgl. ([23], S. 53 u. 180) Den Hinweis auf diese kleine Schrift Vicos und ihre psychosomatische Perspektive verdanke ich Martin Vialon.

Dr. Matthias Bormuth

Institut für Ethik und Geschichte der Medizin

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