Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2005; 40(12): 743-749
DOI: 10.1055/s-2005-921033
Originalie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Patientenverfügungen in der präklinischen Notfallmedizin: Eine Befragung von Notärzten

Advance Directives in the Prehospital Setting - Emergency Physicians’ AttitudesM.  A.  Gerth1 , D.  Kettler1 , M.  Mohr2
  • 1 Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Göttingen
  • 2 Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, DIAKO Ev. Diakonie-Krankenhaus Bremen
Die hier publizierten Daten sind Teil der Inauguraldissertation von Herrn Mathias A. Gerth
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Publication Date:
16 December 2005 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie: Patientenverfügungen werden auch in der präklinischen Notfallmedizin angetroffen. Mit Hilfe einer Befragung von Notärzten sollten die Erfahrungen mit derartigen Verfügungen in Notfallsituationen sowie Erwartungen an Form und Inhalt aus notärztlicher Sicht analysiert werden.
Methodik: Alle Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft in Norddeutschland tätiger Notärzte e. V. (AGNN) erhielten einen zweiseitigen Fragebogen zugesandt (2. Jahreshälfte 2001).
Ergebnisse: 511 Rücksendungen konnten ausgewertet werden, entsprechend einem Anteil von 50,4 % der AGNN-Mitglieder. 75 % der Befragten waren aktuell als Notärzte tätig, 72 % gaben eine notärztliche Erfahrung von mehr als 5 Jahren an. Ein Drittel der Befragungsteilnehmer hatte bereits in einer präklinischen Notfallsituation Kontakt mit einer Patientenverfügung. 77 % dieser Gruppe hielten eine Verfügung grundsätzlich für hilfreich. 88 % verwiesen allerdings darauf, ihre Entscheidung jeweils in Abhängigkeit von den individuellen Umständen des Einsatzes zu treffen (wie Notfallbedingungen, Grunderkrankung, Prognose), lediglich 7 % gaben eine grundsätzlich uneingeschränkte Befolgung der Aussagen in der Patientenverfügung an. Inhaltliche Anforderungen an eine Patientenverfügung aus notärztlicher Sicht waren klare Angaben zu Wiederbelebungsmaßnahmen (88 %), einer Intensivtherapie (75 %) und allgemein zur Notfallbehandlung vor Ort (55 %). Befürwortet wurde die Dokumentation von Grunderkrankungen (87 %) in der Patientenverfügung, sowie die Verbindung mit einer Vorsorgevollmacht (84 %). Nahezu jeder zweite wünschte eine behördliche bzw. notarielle Beglaubigung (49 %) und/oder eine Bestätigung durch den Hausarzt (47 %). Die Verfügung sollte am Körper bei den Ausweispapieren aufbewahrt werden (84 %). Eine regelmäßige Aktualisierung der Unterschrift im Abstand von einem halben bis einem Jahr wünschten 64 % der Befragten. Die geltende Rechtslage zum Umgang mit Patientenverfügungen wurde von 81 % der Kolleginnen und Kollegen als unklar eingeschätzt. 85 % befürworteten einen einheitlichen, offiziell autorisierten Vordruck.
Schlussfolgerung: Der hohe Fragebogenrücklauf spiegelt die Relevanz der Thematik „Patientenverfügung” auch für Notärzte wider. Kolleginnen und Kollegen mit konkreter Erfahrung im Umgang mit Patientenverfügungen im Notfalleinsatz beurteilten solche Dokumente mit großer Mehrheit trotz unsicherer Rechtslage als hilfreich. Eine klare Aussage zur Frage der Wiederbelebung und eine Vereinheitlichung der Vordrucke sind einige wesentliche Forderungen an Form und Inhalt aus der Sicht der Notfallmediziner. Ein Lösungsweg könnte eine entsprechend zu konzipierende spezielle Notfall(zusatz-)verfügung sein.

Abstract

Objective: The German physician based emergency medical system (EMS) might confront physicians with advance directives in the field. A multi-question survey was used to evaluate emergency physicians’ experience with advance directives in the prehospital setting and to assess their attitudes towards forms and statements of advance directives.
Methods: A questionnaire was mailed to the members of the Association of Emergency Physicians of Northern Germany („AGNN”), an interest group of emergency physicians, in 2001.
Results: 511 emergency physicians (50,4 % of the AGNN members) filled in the questionnaire completely and sent it back for evaluation. 75 % of the participants were working as emergency physicians at present, 72 % had emergency experiences of more than 5 years. One third had previously dealt with advance directives in the prehospital setting. 77 % of these physicians thought advance directives generally helpful.

Nevertheless 88 % based their management on the context of the individual circumstances (e. g. emergency conditions, underlying diseases, expected prognosis), only 7 % said they would always exactly follow the statements of the directive. In the view of the emergency physicians the advance directive should contain information on cardiopulmonary resuscitation (CPR: 88 %), intensive care-treatment (75 %) and preclinical emergency treatment (55 %). Information on underlying diseases (87 %) and a legal substitute (84 %) should be contained as well.

As formal requirements, 47 % of the physicians wanted the family doctor to be involved, 49 % desired a notary authenticity confirmation, additionally or solely.

Pragmatically, the advance directive should be kept with the personal documents (84 %).

A regular reconfirmation was deemed necessary (twice to once a year: 64 %). The current legal situation was regarded as unclear by 81 % of the emergency physicians, 85 % favored a unique, officially authorised type of directive.
Conclusion: The high number of returned questionnaires shows the importance of the topic „advance directives” for emergency physicians. Despite some practical and legal problems, a big majority of the experienced emergency physicians in this survey thought the advance directives in the prehospital setting to be helpful. A clear statement on resuscitation as well as simplification of the many existing types of directives are the most essential requirements demanded by the emergency physicians. A solution could be the creation of an extra „emergency advance directive”.

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Prof. Dr. med. Michael Mohr

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