Suchttherapie 2005; 6 - A22
DOI: 10.1055/s-2005-923743

Schwellen und Rituale – Qualitative Untersuchung zu Einstellungen und Selbstverständnis Berliner Allgemeinärzte im Umgang mit riskantem Alkoholkonsum bei Patienten

J Welke 1
  • 1Charité Berlin

Einleitung:

Riskanter Alkoholkonsum stellt eine erhebliche Quelle vermeidbarer Morbidität in der Bevölkerung dar. Heutzutage geht man davon aus, dass die Gesundheitsschäden durch riskantes Trinkverhalten und auch die Entstehung von Alkoholabhängigkeit vermieden werden können, wenn das problematische Verhalten rechtzeitig erkannt und behandelt wird. „Riskantes“ Trinken ist ein sich noch entwickelndes Konstrukt. Ob dieses Konstrukt hilfreich für die primärärztliche Versorgung ist wurde noch nicht erforscht.

Ziel:

Es wird eine Theorie über den Umgang von Allgemeinärzten mit Patienten, die riskant Alkohol konsumieren, entwickelt. Es wird gezeigt, wie Einstellungen und Selbstverständnis der Ärzte ihr Handeln bezogen auf den Alkoholkonsum ihrer Patienten beeinflussen. Der Fokus liegt dabei auf den kommunikativen Aspekten der ärztlichen Tätigkeit.

Methodik:

Es werden Interviews mit Allgemeinärzten im Raum Berlin geführt. Dabei wird offen nach deren Umgang mit Alkohol konsumierenden Patienten gefragt. Konkrete Beispiele werden erfragt, an denen der Arzt seine Vorgehensweise schildern kann. Daran soll erhoben werden, 1) wie der Arzt behandelt, 2) wovon Unterschiede in der Behandlung verschiedener Patienten abhängen, 3) was er bei der Behandlung empfindet, 4) welche Bedeutung dieser Teil seiner Tätigkeit hat und 5) wodurch die Kommunikation zwischen ihm und den Patienten gekennzeichnet ist. Nach dem Interview beantworten die Ärzte einen kurzen anonymen Fragebogen zur Kompetenz im Umgang mit dem Alkoholkonsum der Patienten. Die Auswertung wird nach dem Methoden der Grounded Theory erfolgen. Hierbei werden aus den Interviewtransskripten Hypothesen und Konzepte entwickelt, welche die darin geschilderten Phänomene erklären. Die Erhebung und Auswertung der Daten ist ein iterativer Prozess. Während der Analyse entstehende Fragen bestimmen erneute Datenerhebungen (Theoretical Sampling). Das Besondere dieser Untersuchungsweise ist, dass Hypothesen über Phänomene im Forschungsgebiet Ziel der Untersuchung sind. Anders als üblich sind sie das Produkt und nicht etwa der Ausgangspunkt der Arbeit. Relevante Fragen zum Gegenstand werden nicht im Vorfeld festgelegt sondern während der Analyse entwickelt.

Bisher wurden acht Interviews geführt und ausgewertet.

Ergebnisse:

Die Studie ist noch nicht abgeschlossen, so dass die Ergebnisse als vorläufig zu betrachten sind. Es zeigt sich ein breites Spektrum von Themen, die mit dem allgemeinärztlichen Umgang mit riskanten Alkoholkonsum assoziiert sind. Dies liegt vor allem an der erheblichen Variabilität der persönlichen Bewertung des Alkoholkonsums und der Strategien ärztlicher Intervention. Darunter finden sich Konzepte, die zentral erscheinen. Diese betreffen vor allen den Umgang der Ärzte mit der im Interview präsentierten Definition des riskanten Konsums, die Art zu intervenieren (individuelle Schwellen bei Diagnostik und Intervention), sowie die Rolle des ärztlichen Gesprächs (als bestimmendes Element) bei der speziellen Problematik: In der Bewertung und der Intervention im Bereich des riskanten Alkoholkonsums zeigen sich große individuelle Unterschiede zwischen verschiedenen Ärzten. Diese reichen von systematisch angewendeten Screeningmaßnahmen bis zur Einordnung der Problematik außerhalb der allgemeinärztlichen Zuständigkeit. Sowohl der ritualisierte Umgang mit Alkohol in der Gesellschaft, als auch die Trinkgewohnheiten der Patienten, beeinflussen beide die Haltung der Ärzte. Sie tragen so zur Ausbildung dieser Unterschiede bei. Des Weiteren lassen sich Charakteristika der Ärzte, die den Umgang bestimmen, voneinander abgrenzen. Es entsteht ein Set an Fallbeispielen und Gesprächstechniken, anhand derer sich der Umgang exemplarisch darstellen lässt.

Diskussion:

Aus den Interviews sind Potentiale und Hürden im Umgang der Ärzte mit riskantem Alkoholkonsum deutlich geworden. Ein Potential ist das Benennen von Kriterien, die eine therapeutische Intervention sinnvoll erscheinen lassen. Außerdem zeigt sich, welche Schwierigkeiten im Kontakt mit den Patienten entstehen und mit welchen Problemen Ärzte konfrontiert sind, wenn sie diese erlernen und durchführen wollen. Die Ergebnisse geben Anregungen zur Gestaltung und Implementierung einer adäquaten primärärztlichen Therapie.