Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2006; 41(4): 201-202
DOI: 10.1055/s-2006-925319
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schwerwiegende Komplikationen einer fragwürdigen Therapie

„… denn sie wissen nicht, was sie tun.”Severe Complications Due to a Dubious TherapyG.  Sprotte1 , M.  K.  Herbert1
  • 1 Schmerzambulanz, Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie Würzburg
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Publication Date:
24 April 2006 (online)

Die „perkutane epidurale Neuroplastie” nach G. B. Racz wird vorwiegend von Anästhesisten zur Behandlung chronischer Rückenschmerzen mit radikulären Ausstrahlungen eingesetzt.

Die therapeutische Intention dieser Methode ist die mechanische Lösung epiduraler Narben und Verwachsungen durch Manipulation eines mit einer Metallspirale versehenen Epiduralkatheters und anschließender Applikation eines Medikamentencocktails aus Lokalanästhetikum, Glukokortikoid, 10 %iger Kochsalzlösung und Hyaluronidase zur Prävention erneuter Narbenbildung. Die Art und das Ausmaß der Komplikationen, die durch dieses Verfahren hervorgerufen werden können, beschreiben die Kollegen Wagner et al. eindrücklich an einem Fallbeispiel und einer umfassenden Übersicht [1]. Die Patientin erlitt in Folge der Intervention eine schwere bakterielle Meningitis, ein diffuses Hirnödem, linksseitige Hemiparese, multiple radiär angeordnete zerebrale Ischämien, eine septische Sinusvenenthrombose und als Residuen ein Frontalhirnsyndrom mit ausgeprägten kognitiven Defiziten und einer Affektlabilität. Folgen der langdauernden Antibiose waren eine Stomatitis und pseudomembranöse Kolitis [1]. In Anbetracht dieser schwerwiegenden Komplikationen und der Tatsache, dass die Neuroplastie nach Racz zunehmend, auch unkritisch, eingesetzt wird, sind einige Punkte dezidiert zu hinterfragen.

Zunächst setzt der therapeutische Ansatz der epiduralen Neurolyse voraus, dass die Diagnose eines narbenbedingten Schmerzes belegbar ist und das therapeutische Instrumentarium tatsächlich geeignet ist, das intendierte Ziel der Narbenlösung zu erreichen.

Diese Prämissen sind aber nicht zu belegen.

1. Mit Ausnahme hypertropher Narbenbildungen mit komprimierender Wirkung auf Nervenwurzeln sind „Adhäsionen” oder Narben keine typischen Schmerzgeneratoren. Das bislang am besten widerlegte Beispiel für adhäsionsbedingten Schmerz sind die peritonealen Adhäsionen nach Laparotomie und Laparoskopie. Swank et al. haben diesem ewigen Mythos der Chirurgen und Gynäkologen mit den Ergebnissen einer verblindeten randomisierten Multicenterstudie ein Ende gesetzt [2].

Potenziell pathogene, hypertroph wuchernde Narben nach Bandscheibenoperationen lassen sich nicht durch Kathetermanipulationen lösen. Alle neurochirurgischen offenen oder minimal invasiv durchgeführten Eingriffe benötigen scharfe Instrumente, um Narbengewebe effektiv zu entfernen. Dennoch blieben solche Eingriffe ohne überzeugende Therapieeffekte auf persistierende Schmerzen nach Bandscheibenoperationen. Nur motorische und sensible Ausfälle können durch rechtzeitige Beseitigung von Kompressionen meist vorübergehend gebessert werden, da Narbenrezidive durch eine Lokaltherapie nicht zu vermeiden sind und die Regenerationsfähigkeit der geschädigten Nervenwurzeln begrenzt ist.

2. Narben lassen sich nicht durch Epidurographie darstellen und nicht durch Kathetermanipulationen lösen. Die epidurale Ausbreitung von Kontrastmittel wird von Bindegewebe septierten Verbänden von Fettzellen und von Venenplexus bestimmt, eine Differenzierung von Narben oder Adhäsionen von normalen Bindegewebszügen und Blutgefäßen ist mit dieser Technik nicht möglich. Die von Haevner, Racz und Raj in der Originalarbeit [3] demonstrierten Epidurographien zeigen keine Lösung von Adhäsionen, sondern Artefakte nach Kathetermanipulationen im epiduralen Fettgewebe. In der Neuroradiologie ist die Epidurographie kein Thema, das überhaupt diskutiert wird. Die MRT mit Anreicherung von Kontrastmittel in den ausgeprägt vaskularisierten Narbenkonvoluten ist hierfür die Methode der Wahl.

3. Der verabreichte Cocktail zur Rezidivprophylaxe ist nicht geeignet, eine erneute Narbenbildung zu verhindern. Das Kortikoid verursacht in der gegebenen Dosierung eine Fettgewebsnekrose, desgleichen hinterlässt die Injektion einer hypertonen Lösung ebenfalls eine Zellnekrose mit inflammatorischer Reaktion und anschließender Narbenbildung. Auch die Kathetermanipulation setzt ein Trauma, das mit einer Inflammation und erneuten Narbenbildung abheilt. Das zusätzlich applizierte Kortikoid kann diese Reaktion bestenfalls verzögern, aber nicht verhindern. Die Schmerzlinderung durch diesen Cocktail beruht auf einer Schädigung der sensiblen Innervation der Dura oder der epiduralen Blutgefäße, die an der Genese von Schmerzen beteiligt sein können. Da neuropathischer Schmerz in erster Linie von proinflammatorischen Zytokinen induziert wird [4], kann eine humorale und zelluläre Immunreaktion in einer stark vaskularisierten perineuralen Narbe die Ursache für einen perisistierenden Schmerz sein.

Die von Racz inaugurierte Bezeichnung seines Verfahrens als Neuroplastie oder Neurolyse ist eine grobe Irreführung, da sie wider jede wissenschaftliche Vernunft einen kausalen Heilungsanspruch erhebt. Chronische Schmerzsyndrome mit der phänotypischen Klassifikation einer „Radikulopathie” sind komplexe, heterogene Gesundheitsstörungen, die keinesfalls auf eine mechanistische Kausalität reduziert werden können und nicht von einer pseudowissenschaftlichen Diagnostik, z. B. der Epidurographie [3], profitieren. Die Kathetermanipulation im Fett- und Bindegewebe des Epiduralraums kann in unmittelbarer Nähe zu einer Spinalwurzel ggf. einen artifiziell vergrößerten Verteilungsraum für den lokal neurotoxischen Cocktail schaffen. Aber das Risikopotenzial einer neurotoxisch vermittelten Schmerzlinderung, zudem nur von sehr begrenzter Dauer, ist nicht akzeptabel. Ferner hat das hohe Nebenwirkungspotenzial der Hyaluronidase diese Substanz als Adjuvans längst aus der Regionalanästhesie verbannt.

Den Autoren Wagner et al. kommt der uneingeschränkte Verdienst zu, das Risikopotenzial der Behandlungsmethode aufzuzeigen und in allen Details zu beleuchten, hatten sie doch in eigenen früheren Arbeiten diese Methode ebenfalls noch propagiert und als sicher und risikoarm eingeschätzt [5] [6]. Ihre Empfehlung, diese Methode der Schmerztherapie nur noch in kontrollierten Studien anzuwenden, hat ein hohes Gewicht aufgrund interdisziplinärer Urteilsfindung einer universitären Einrichtung und ein hohes Maß an Warnpotenzial an die Adresse der schmerztherapeutisch tätigen Anhängerschaft dieser Methode. Letztendlich stellt sich aber die Frage, warum in kontrollierten Studien überhaupt noch ein Risiko eingegangen werden soll, das absehbar gar nicht so gering ist, nur um den vagen und kurzfristigen Erfolg einer auf obskuren Hypothesen beruhenden Behandlungsstrategie zu evaluieren. Der Mangel wissenschaftlicher Erkenntnisse um die Ätiologie und Pathogenese komplexer Rückenschmerzsyndrome kann und darf nicht zur Rechtfertigung dienen, unseriöse mechanistische Hypothesen zur Pathogenese von Schmerzen zu propagieren und deren Beweisführung über Therapieerfolge zu führen, die nicht geeignet sind, den Kausalzusammenhang mit gelösten Adhäsionen zu bestätigen. Auch durch die Darstellung von Artefakten durch die Epidurographie erhält die Methode keine Legitimation für die Behandlung von Rückenschmerzen unklarer Ätiologie. Zu den bereits unübersehbaren Folgen nicht indizierter Bandscheibenoperationen würden sich dann noch die iatrogenen Folgen der „epiduralen Neurolyse” hinzuaddieren. Schmerztherapie mittels neurodestruktiver Verfahren darf bei chronischem Rückenschmerz nicht noch einmal über die Hintertüre einer mehr als fragwürdigen Hypothese aufgewärmt werden. Diese „Büchse der Pandora” sollte für immer geschlossen bleiben.

Literatur

  • 1 Wagner K J, Sprenger T, Pecho C, Kochs E F, Tölle T R, Berthele A, Gerdesmeyer L. Schwerwiegende Risiken und Komplikationen der epiduralen Neurolyse nach Racz. Eine Übersicht mit Fallbericht.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2006;  41 204-213
  • 2 Swank D J, Swank-Bordewijk S C, Hop W C, Van Erp W F, Janssen I M, Bonjer H J, Jeekel J. Laparoscopic adhesiolysis in patients with chronic abdominal pain: a blinded randomised controlled multi-centre trial.  Lancet. 2003;  361 1247-1251
  • 3 Heavner J E, Racz G B, Raj P. Percutaneous epidural neuroplasty: prospective evaluation of 0.9 % NaCl versus 10 % NaCl with or without hyaluronidase.  Reg Anesth Pain Med. 1999;  24 202-207
  • 4 Sommer C. Painful neuropathies.  Curr Opin Neurol. 2003;  16 623-628
  • 5 Gerdesmeyer L, Rechl H, Wagenpfeil S, Ulmer M, Lampe R, Wagner K. Die minimal invasive perkutane epidurale Neurolyse beim chronischen Nervenwurzelreizsyndrom. Eine prospektive kontrollierte Pilotstudie zum Wirksamkeitsnachweis.  Orthopäde. 2003;  32 869-876
  • 6 Gerdesmeyer L, Lampe R, Veihelmann A, Burgkart R, Gobel M, Gollwitzer H, Wagner K. Chronische Radikulopathie. Einsatz der minimal-invasiven perkutanen epiduralen Neurolyse nach Racz.  Schmerz. 2005;  19 285-295

Prof. Dr. med. M. K. Herbert

Schmerzambulanz · Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie Würzburg ·

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Email: herbert_m@klinik.uni-wuerzburg.de

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